


Die zeitgleiche Veröffentlichung gleich mehrerer Fachbücher, die sich mit wissenschaftssystematischen und forschungsmethodologischen Fragestellungen der Sonderpädagogik beschäftigen, kann durchaus als ein Indiz dafür betrachtet werden, dass das Fach als wissenschaftliche Disziplin allmählich den Kinderschuhen entwachsen ist und nunmehr ein reifes Selbstbewusstsein als eigenständige Forschungsdisziplin entfaltet. Dabei scheint indes die Fremdwahrnehmung auf die Disziplin nicht ungebrochen; Sonderpädagogik ist in einschlägigen Hand- und Lehrbüchern der empirischen Bildungsforschung selten als expliziter Gegenstandsbereich, geschweige denn als eigenes Forschungsgebiet vertreten [2].
Im Folgenden werden drei aktuelle Werke besprochen, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.
Katja Koch und Stephan Ellinger legen einen Sammelband zu den „empirische(n) Forschungsmethoden in der Heil- und Sonderpädagogik“ vor, der sich an Studierende und Forschungsinteressierte im weiten Feld der Sonderpädagogik wendet. Geboten wird ein kompakter Überblick zu unterschiedlichen Methoden und Techniken in der qualitativen und quantitativen Forschung. Als besondere didaktische Finesse sind sämtliche Beiträge des Bandes mit einer Fragestellung übertitelt, die Leserinnen und Lesern eine Hilfestellung bei der Suche nach den angemessenen Forschungsmethoden zu eigenen Untersuchungsfragestellungen geben können. Aufgrund der Kürze der Beiträge, die im Durchschnitt etwas mehr als fünf Textseiten umfassen, sind die Ausführungen zu den einzelnen Themen eher kursorischer Art und können daher einen ersten orientierenden Überblick vermitteln.
Das Werk umfasst insgesamt 45 Beiträge, die inhaltlich drei Themenabschnitten zugeordnet sind. Im ersten Abschnitt (Teil 1: Grundlagen) werden allgemeine Vorüberlegungen skizziert. Die vier grundlegenden Beiträge beinhalten einen einleitenden Beitrag der Herausgeber zum Verhältnis zwischen qualitativen und quantitativen Methoden, einen Beitrag von Roland Stein zur Wissenschaftstheorie, einige Überlegungen zur Methodentriangulation von Christoph Ratz sowie Ausführungen zu den diskursanalytischen Grundlagen von Oliver Hechler. Der zweite Abschnitt (Teil 2) ist den quantitativen Forschungsmethoden gewidmet und umfasst 24 Beiträge, die von den Grundlagen standardisierter Forschungsstrategien über die Vorstellung unterschiedlicher Ansätze und Forschungsdesigns (z.B. Reviewforschung und Metaanalysen, kontrollierte Einzelfallstudien, Fragebogenkonstruktion) reichen bis hin zur konkreten Erläuterung einzelner Operationalisierungsschritte bei der Anwendung spezieller Messverfahren und Erhebungsinstrumente (etwa bei der Stichprobenplanung), sowie zu speziellen statistischen Auswertungs- und Analysemethoden (z.B. deskriptive und Interferenzstatistik, Korrelations-, Regressions-, Varianzanalysen, Faktoren- und Clusteranalysen, Effektstärken, SPSS-Datenanalyse). In insgesamt 17 Beiträgen folgt schließlich im dritten Abschnitt (Teil 3) eine Darstellung ausgewählter Konzepte und Methoden der qualitativen Forschung. Skizziert werden Forschungsansätze und -programme (rekonstruktive Sozialforschung, Biographieforschung, Ethnographieforschung, Gounded Theory), Forschungsdesigns (Interviews, Gruppendiskussionen, Beobachtungsstudien) sowie spezifische Methoden (z.B. Lebenslagen- und Sozialraumanalysen, Tagebuchmethode sowie qualitative Reviewforschung), wobei insbesondere den hermeneutischen Ansätzen (psychoanalytische und Tiefenhermeneutik, Objektive Hermeneutik) viel Raum zuteil wird. Diese Schwerpunktsetzung ist insofern verständlich, da der Hermeneutik in der qualitativen Forschung eine große Bedeutung zukommt. Gleichwohl führt die Darstellung zu einer Schieflage, da andere für die erziehungswissenschaftliche Forschung bedeutsame qualitative Verfahren nicht in eigenen Kapiteln thematisiert werden. Exemplarisch zu nennen sind etwa Fallstudie, Dokumentenanalyse oder qualitative Inhaltsanalyse [3].
In der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und im Gesamtaufbau unterscheidet sich der zweite Herausgeberband deutlich vom zuvor besprochenen Werk. Dieter Katzenbach hat hier insgesamt 18 Beiträge zusammengetragen, die allesamt dem qualitativen Forschungsparadigma folgen. Der vorliegende Band ist in drei thematische Abschnitte untergliedert (Teil I: Feldzugang und Akquise; Teil II: Erhebungsverfahren; Teil III: Auswertungsmethoden). Den drei Abschnitten ist ein einleitender Beitrag des Herausgebers vorangestellt, in dem die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt werden, um die gemeinsame Zielsetzung herauszustellen. Die Fokussierung auf die qualitative Programmatik begründet der Herausgeber durch die besondere Sensibilität und die ethische Verantwortung, die sich aufgrund der Spezifität des Gegenstandsbereichs einstellt, etwa mit Blick auf die Emotionalität und Intimität der Forschungsthemen sowie hinsichtlich der Notwendigkeit, den Betroffenen Gehör zu verschaffen (9f).
In den beiden Beiträgen im ersten Teil beschreiben Trescher und Oevermann die besonderen Erschwernisse im Zugang zum Forschungsfeld, die sich bei Untersuchungsdesigns einstellen können, in denen die Betroffenen direkt in die Forschung einbezogen werden. Die in den Forschungsberichten geschilderte Zurückhaltung, die sich seitens der beteiligten Berufsgruppen und Institutionen zeigt, wenn es um die Frage der Gewährung des Feldzugangs geht, erscheint aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse einerseits bedauerlich, ist aber andererseits im Sinne der professionellen Verantwortung gegenüber den Klientinnen und Klienten absolut gerechtfertigt. Der zweite Abschnitt behandelt unterschiedliche Erhebungsmethoden. Vorgestellt werden Interviewtechniken (offene Befragungsmethoden sowie die Heidelberger Struktur-Lege-Technik), projektive Verfahren sowie die teilnehmende Beobachtung. Rund die Hälfte des Sammelbandes ist den Auswertungsmethoden im dritten Abschnitt gewidmet. Die Videographie und die qualitative Inhaltsanalyse sind jeweils mit einem Beitrag vertreten. Im Mittelpunkt stehen allerdings die Objektive und die Tiefenhermeneutik, denen in insgesamt sieben Beiträgen ein beträchtlicher Raum beigemessen wird. Diese thematische Schwerpunktsetzung wird legitimiert durch die eingangs formulierte Zielsetzung des Sammelbandes, methodisch gesicherte Ansätze der rekonstruktiven Forschung als Zugänge zum Fremdverstehen vorstellen und diskutieren zu wollen. Dabei wird dem vorliegenden Werk ein hoher Anspruch unterlegt, wenn es als das von allen versammelten Autorinnen und Autoren gemeinsam getragene Anliegen gesehen wird, „die beforschten Menschen in ihrem Subjektstatus anzuerkennen, ihnen also durch die Forschung gleichsam eine Stimme zu verleihen“ (14). Allerdings kann auch mit dem Konzept von „Voice“, das in der Forschung mittlerweile fest etabliert ist, nicht das „forschungsethische Dilemma“ (14) aufgelöst werden, das sich darin äußert, dass bereits durch den Forschungszugang Differenzkriterien (z.B. Behinderung) reifiziert werden (14). Während nun qualitative Forschung grundsätzlich geeignete Methoden für die Rekonstruktion der subjektiven Sichtweisen der Akteurinnen und Akteure bereitstellen kann, bleibt auch bei den hermeneutischen Ansätzen die potentielle Gefahr bestehen, dass die stellvertretende Deutung der Forscherinnen und Forscher, die als methodisch gesichertes Fremdverstehen operationalisiert ist, nicht unerheblich von Sinn und Bedeutung der Betroffenen differieren. Erst allmählich wird dieses Problem in der notwendigen radikalen Konsequenz diskutiert. Richtungsweisend erscheinen hier sicherlich die aktuellen Beiträge der emanzipatorisch-partizipatorischen und Inklusiven Forschung [4].
Die beiden vorgestellten Sammelbände verfolgen trotz des gemeinsamen Oberthemas höchst unterschiedliche Strategien, um die Ansätze und Methoden der Forschung zu sonderpädagogischen Fragestellungen zu skizzieren. Wert und Adäquatheit einer jeden Forschungsmethode lassen sich allerdings erst vor dem Hintergrund ihrer metatheoretischen Einordnung beurteilen. Ohne eine erkenntnisphilosophische Hinterfragung bleibt jede wissenschaftliche Methode letztlich ungeprüft und daher auch unbegründet. Der kritischen Aufarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnismethoden kommt daher eine herausgehobene Bedeutung zu. Insofern ist es erstaunlich, dass Versuche einer ausführlichen und systematischen wissenschaftstheoretischen Aufarbeitung der Sonderpädagogik als wissenschaftliche Forschungsdisziplin im Vergleich zur Mutterdisziplin Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft [5] erst vergleichsweise spät erfolgt [6]. Mit der „Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen“ legen Roland Stein und Thomas Müller nun also ein „Arbeitsbuch zu Theorien und Methoden“ vor, wie es im Untertitel heißt. In zwölf Kapiteln entfalten die Autoren eine theoretische Grundlegung der wissenschaftlichen Methoden der Sonderpädagogik. Im Anschluss an die einführenden Überlegungen zur begrifflichen und theoretischen Propädeutik (Kapitel 1-4) werden im Weiteren die Forschungstraditionen nachgezeichnet, von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik über die empirische Erziehungswissenschaft und die Kritische Theorie bis hin zur systemischen Erziehungswissenschaft und konstruktivistischen Pädagogik. An einen kurzen Überblick zu den Forschungsmethoden folgen schließlich eine wissenschaftsethische Reflexion und ein abschließendes Fazit.
Das vorliegende Buch ist primär an Studierende und in sonder- und heilpädagogischen Bereichen Tätige adressiert und zielt auf eine wissenschaftstheoretische Systematisierung unterschiedlicher Methoden und Ansätze in den verschiedenen Forschungstraditionen der Sonderpädagogik (9). Diesem Anspruch wird das vorliegende Werk in seinem didaktischen und inhaltlichen Aufbau vollends gerecht. Die thematische Gliederung ermöglicht einen kompakten Überblick zu den unterschiedlichen Forschungstraditionen und wissenschaftlichen Paradigmen der Disziplin. Dabei werden die einzelnen Kapitel jeweils durch Kontrollfragen beendet, sodass eine individuelle systematische Lernstandsprüfung angeregt wird. Umrahmt wird das Buch durch ein fiktives Fallbeispiel einer Untersuchungsfragestellung, die auf eine wissenschaftliche Begleitung eines Schulversuchs abzielt. Das Beispiel wird in den einzelnen Kapiteln thematisch aufgegriffen, um hieran exemplarisch die forschungspraktische Relevanz und Notwendigkeit einer wissenschaftstheoretischen Reflexion zu verdeutlichen. Erfreulich ist auch der wohl ausgewogene Gesamtduktus des Werkes, das im abschließenden Kapitel für eine Gleichberechtigung der unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen und Forschungsmethoden wirbt (169), was eigentlich als Selbstverständlichkeit erscheinen mag, aber gerade in Zeiten anhaltender Versuche einer Hierarchisierung von Forschungsansätzen unter dem Diktat der empirisch-positivistischen Forschung zur Absicherung einer sogenannten evidenzbasierten pädagogischen Praxis (leider) einer besonderen Betonung bedarf.
In der Zusammenschau legen die drei hier besprochenen Werke Zeugnis ab vom Entwicklungsfortschritt in der Sonderpädagogik als universitäre Fachwissenschaft. Insbesondere die zunehmende Systematisierung der unterschiedlichen Forschungsansätze bei gleichzeitig wachsender Ausdifferenzierung gezielter Methoden zu spezifischen sonderpädagogischen Fragestellungen ist für das Selbstverständnis des Fachs als eigenständige Disziplin von immenser, da konstitutiver Bedeutung, gerade weil die Sonderpädagogik im Schnittfeld einer Vielzahl anderer akademischer Disziplinen liegt, die mitunter die Deutungshoheit für sonderpädagogische Fragestellungen und Themen für sich beanspruchen. Dass hier zum Teil die Gefahr einer Entmündigung der Sonderpädagogik (bzw. der Pädagogik allgemein) droht, zeigt sich unter anderem in den gegenwärtigen Symptomen einer Entpädagogisierung der wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung etwa im Rahmen sogenannter evidenzbasierter (Sonder-)Pädagogik. Für die Sonderpädagogik als Disziplin heißt dieses unter anderem, Topos und Spezifik des eigenen Forschungsprogramms zu respezifizieren. Eine Diskussion zu der zentralen Frage, inwieweit hiermit zugleich etwa besondere wissenschaftliche Forschungsmethoden oder aber vielleicht vielmehr bildungspraktische Zielsetzungen und normative Grundhaltungen die Forschungspraxis anleiten sollten, steht bislang noch aus. Die vorliegenden Werke bieten jedenfalls ein hinreichendes Anregungspotential, um diese Frage weiter zu verfolgen.
In diesem Zusammenhang wäre auch eine vertiefende Fachdiskussion zu den Möglichkeiten und Grenzen der Methodentriangulierung angezeigt. Während bereits zahlreiche allgemeine Diskussionsbeiträge vorliegen [7], fehlt es bis dato trotz erheblicher Ausweitung der Methode auch im Feld der sonderpädagogischen Forschungspraxis [8] weitestgehend an einer methodologischen Reflexion mit Blick auf die Spezifität der Erforschung sonderpädagogischer Fragestellungen sowie insbesondere an einer Dokumentation entsprechender Studien, die nach mixed-methods Designs vorgehen [9].
[1] Biewer, G. / Moser, V.: Geschichte bildungswissenschaftlicher Forschung zu Behinderungen. In: Buchner, T./ Koenig, O. / Schuppener, S. (Hg.): Inklusive Forschung: Gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016, 24-36.
[2] Vgl. hierzu exemplarisch: Reinders, H. / Ditton, H. / Gräsel, C. / Gniewosz, B. (Hg.): Empirische Bildungsforschung. Gegenstandsbereiche. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2015; Tippelt, R. / Schmidt, B. (Hg.): Handbuch Bildungsforschung. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
[3] Friebertshäuser, B. / Langer, A. / Prengel, A. (Hg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 4. Aufl. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013; Paul, J. / Kleinhammer-Tramill, J. / Fowler, K.: Qualitative Research Methods in Special Education. Denver / London / Sydney: Love Publishing 2009.
[4] Walmsley, J. / Johnson, K.: Inclusive Research with People with Learning Disabilities: Past, Present, and Futures. London / New York: J. Kingsley Publishers 2003; Buchner, T. / Koenig, O. / Schuppener, S. (Hg.): Inklusive Forschung: Gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016.
[5] König, E. / Zedler, P.: Einführung in die Wissenschaftstheorie der Erziehungswissenschaft. Düsseldorf: Schwann 1983; Kron, F. W.: Wissenschaftstheorie für Pädagogen. München / Basel: Reinhardt 1999; Plöger, W.: Grundkurs Wissenschaftstheorie für Pädagogen. Paderborn: Fink 2003.
[6] Horster, D. / Jantzen, W. (Hg.): Wissenschaftstheorie. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik, Band 1. Stuttgart: Kohlhammer 2010.
[7] Exemplarisch zu nenen sind etwa: Gorard, S. / Taylor, C.: Combining Methods in Educational and Social Research. Maidenhead: Open University Press 2004; Plano Clark, V. L. / Creswell, J. W. (Hg.): The Mixed Methods Reader. Thousand Oaks: SAGE 2008;
Flick, U.: Triangulation: eine Einführung. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011; Kuckartz, U.: Mixed Methods: Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2014.
[8] Taylor, S. S. / Abernathy, T. V.: Mixed methods research: Is it valued in special education research? Presentation at the annual conference of the Council for Exceptional Children. Philadelphia, PA, April 12, 2014.
[9] Zu den wenigen Beiträgen mit expliziter Bezugnahme auf sonderpädagogische Fragestellungen gehören: Collins, K. M. T. / Onwuegbuzie, A. J. / Sutton, I. L.: A model incorporating the rationale and purpose for conducting mixed-methods research in special education and beyond. In: Learning Disabilities: A Contemporary Journal 4 (1) 2006, 67-100; Punch, R. / Creed, P. A. / Hyde, M. B.: Career barrier perceived by hard-of-hearing adolescents: Implications for practice from a mixed-methods study. In: Journal of Deaf Studies and Deaf Education 11 (2) 2006, 224-237; Bernasconi, T.: Triangulation in der empirischen Sozialforschung am Beispiel einer Studie zu Auswirkungen und Voraussetzungen des barrierefreien Internets für Menschen mit geistiger Behinderung. In: Empirische Sonderpädagogik 1 (1) 2009, 96-109; Klingner, J. K. / A. G. Boardman: Addressing the „Research Gap“ in Special Education through Mixed Methods. In: Learning Disability Quarterly 34 (3) 2011, 208-218.