âSollen wir also das weiĂe Band, das der Pastor in Michael Hanekes gleichnamigem Film seinen Kindern in die Haare flechten lĂ€sst, um sie, wie er sagt, an âReinheit und Unschuldâ zu erinnern â Werte, gegen die die Kinder sich schon durch einfaches ZuspĂ€tkommen zum Abendbrot strĂ€flich vergangen haben sollen â, als lediglich âbefremdliche Erziehungspraxisâ tolerieren, wĂ€hrend wir die ZĂŒchtigungsszenen offen kritisieren und sogar rechtlich ahnden dĂŒrfen?â (42).
WĂ€hrend manche Vertreter politisch-liberaler und neo-kantianischer Traditionen der politischen Philosophie solche Erziehungspraktiken und Ăberzeugungssysteme als eine Art âblack boxâ (10) betrachten mĂŒssen, die es mit Verweis auf das âFaktums des Pluralismusâ (Rawls) eher noch zu tolerieren, nicht aber zu kritisieren gilt, beansprucht Jaeggi im Rahmen ihrer Rekonstruktion der ânormative(n) Sozialontologie von Lebensformenâ (257), Kriterien zu entwickeln, die es erlauben sollen, das Gelingen oder Scheitern entsprechender âEnsembles von Praktiken und Einstellungenâ (Lebensformen) zu beurteilen. Da mit dem in einigen Debatten ĂŒblichen âHinweis auf die konstitutive PartikularitĂ€t von Lebensformen eine folgenreiche Irrationalisierung dessen einhergeht, was im Bereich des âEthischenâ gesagt werden kannâ und der âliberale Diskurs ĂŒber Lebensformen soâ dazu neigt âdiese zu essenzialisieren und zu petrifizierenâ (was letztlich einem âTraditionalismusâ Vorschub leistet, âder möglichweise noch nicht einmal fĂŒr vormoderne Zeiten gerechtfertigt istâ; 50), gilt es die âblack box zu öffnenâ, die âinnere Gestalt von Lebensformenâ (58) begrifflich zu erschlieĂen und damit der Kritik zugĂ€nglich zu machen.
Hierzu bedarf es eine Theorie der Lebensformen und der (immanenten) Kritik, die Jaeggi in ihrem in vier Hauptteile gegliederten Buch âKritik von Lebensformenâ unter RĂŒckgriff auf TheorieansĂ€tze der analytischen und der kontinentalen Tradition systematisch entfaltet. Ausgehend von einer Analyse des Lebensformbegriffs (Teil I) rekonstruiert sie die spezifische Form von praxisimmanenter NormativitĂ€t, die fĂŒr Lebensformen konstitutiv ist (Teil II). Daran anschlieĂend entwickelt sie ein Modell der immanenten Kritik (Teil III), das erlauben soll, Kriterien fĂŒr gelingende oder misslingende Entwicklungsprozesse von historisch situierten Lebensformen zu bestimmen (Teil IV).
Lebensformen versteht Jaeggi als âBĂŒndel von sozialen Praktikenâ, die âEinstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter [umfassen], die die kollektive LebensfĂŒhrung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst sindâ (77). Die in der Regel implizit bleibende spezifische NormativitĂ€t von Lebensformen ist als âethisch-funktionaleâ NormativitĂ€t in die Vollzugsbedingungen von PraxiszusammenhĂ€ngen selbst eingelagert (177). D. h., dass solche Normen, die fĂŒr den Erhalt einer Praxis zentral sind (funktionale Normen) und solche Normen, die fĂŒr das gute Funktionieren (ethische Normen), also fĂŒr das âEthosâ einer Praxis zustĂ€ndig sind, im Falle von Lebensformen eine untrennbare Symbiose eingehen (175ff.). Nicht ein âvon allen geteilter Wertekanonâ, sondern diese spezifische NormativitĂ€t sozialer Praktiken liefert den Ausgangs- und Ankerpunkt fĂŒr die Bestimmung von Kriterien des Gelingens, die erlauben sollen, Lebensformen und ihre positive oder negative âVerlaufsform und Entwicklungsdynamikâ zu bewerten und zu kritisieren (314).
Die als Modus des guten Funktionierens konzipierte interne Verfasstheit von Lebensformen erlaubt RĂŒckschlĂŒsse auf ihre immanente RationalitĂ€t. Diese besteht nach Jaeggi in ihrer FĂ€higkeit, Probleme zu lösen, die sich im Rahmen des sie ausmachenden sozialen Praxis-, Interpretations- und SelbstverstĂ€ndigungszusammenhangs stellen (mĂŒssten). Lebensformprobleme sind dabei immer als Probleme zweiter Ordnung zu verstehen, d. h. als reflexiv-praktisch vermittelte Probleme nicht nur fĂŒr die, sondern mit der entsprechenden Lebensform (z. B. âexternâ induzierte Probleme wie Naturkatastrophen im Unterschied zu Defiziten in der KatastrophenprĂ€vention), die im Anschluss an Ă€ltere Problemlösungen entstehen und zu weiteren Problemlösungen Anlass geben (240ff; 356ff). Lebensformen lassen sich so als âProblemlösungsinstanzenâ auffassen, die in Auseinandersetzung mit Krisen rekonstruierbare und (im Idealfall) ârationale Lernprozesseâ durchmachen und dabei entweder besser oder schlechter auf Probleme reagieren (307). Die immanente RationalitĂ€t qua Transformations- und ProblemlösungskapazitĂ€t einer Lebensform bemisst sich an Kriterien wie ReflexivitĂ€t, LernfĂ€higkeit, Selbstdurchsichtigkeit (im Sinne eines vertieften und angemesseneren ProblemverstĂ€ndnisses) und dem Grad der Einsicht in die Gestaltbarkeit der jeweiligen LebensverhĂ€ltnisse (âEmanzipationâ, 445) â Kriterien, die z. B. im Umgang mit âLernblockadenâ (bspw. kollektive praktische Reflexionsdefizite; Ideologien) durch Modifikation des Interpretationsrahmens aktualisiert werden, in dem PraxisvollzĂŒge eingebettet sind.
Das von ihr entworfene Modell immanenter Kritik bezieht sich im Gegensatz zu Honneths Modell der ânormativen Rekonstruktionâ[1] â zumindest dem eigenen Anspruch nach â nicht auf bestimmte Werte, die in bestimmten sozialen Praktiken eingelagert sind und vom Theoretiker geborgen werden sollen, sondern auf die Art und Weise, wie die in Lebensformen verkörperte NormativitĂ€t sich in Auseinandersetzung mit Krisensituationen entwickelt und verĂ€ndert. âTransformativ-immanente Kritikâ rekurriert damit auf die immer schon widersprĂŒchlichen Konstitutionsbedingungen von Praktiken (291), die sich â und damit auch die immanenten MaĂstĂ€be der Kritik â im Prozess der Kritik selbst verĂ€ndern. Im Rahmen dieser Kopplung eines negativen (Krisen) und eines transformativen Kritikelements (Ăberwindung von Krisen) weisen die anvisierten lebensformspezifischen VerĂ€nderungspotentiale und Lernprozesse also immer schon ĂŒber ihre kontextuelle Einbettung in bestehende PraxiszusammenhĂ€nge hinaus, ohne dass dabei von einem statischen normativen Ausgangs- und Ankerpunkt oder einem teleologischen Zielpunkt der normativen Entwicklung ausgegangen werden muss.
Jaeggis Ansatz, der in Teilen gewisse Ăhnlichkeiten mit der transformatorischen Bildungstheorie Kollers [2] aufweist (positive Wertung von Transformationsdynamiken, Fokus auf die Entstehung des Neuen etc.), beansprucht, einen praxisimmanenten evaluativen Ankerpunkt gefunden zu haben, der die Skylla âextern-autoritĂ€re(r)â (14) Formen der Kritik genauso umschifft wie die Charybdis liberaler Doktrinen der ethischen Enthaltsamkeit. WĂ€hrend der politische Liberalismus aus ihrer Sicht blind bleibt fĂŒr den Umstand, âdass die Auswahl möglicher Wertentscheidungen im institutionellen Rahmen auch liberaler Gesellschaften in bestimmter Hinsicht immer schon vorentschieden istâ (40), scheint jedoch auch ihr Rekonstruktionsmodell nicht frei von evaluativen Ausblendungen zu sein, die den Anspruch auf Enthaltung von der Beantwortung substantiell-inhaltlicher Fragen des guten Lebens zugunsten einer formal-prozeduralen, normativen Verlaufs- und Entwicklungslogik fraglich werden lassen. Jaeggi nutzt fĂŒr ihre Theoriekonstruktion evaluativ geladene Leit- und Hintergrundmetaphoriken (Lebensformen als âProblemlösungsinstanzenâ; âLernblockadenâ), die auf Grund von mit Metaphernnutzung verbundenen Effekten des highlighting und hiding [3] den Blick auf das selbstverstĂ€ndliche Faktum verstellen können, dass es neben krisenhaften natĂŒrlich auch lineare Lernprozesse gibt und dass sich auch nicht alle Formen des guten Lebens als Resultat von KrisenbewĂ€ltigungsstrategien verstehen lassen [4].
Auch wenn Jaeggi darauf besteht, dass eine âKritik von Lebensformen [âŠ] ohne ein Metasprachspiel, ohne einen neutralen âarchimedischen Punktâ auskommenâ muss (257), basiert auch ihr auf gelungene Transformationsdynamiken ausgerichtetes Rekonstruktionsmodell auf normativ-evaluativen Schwerpunktsetzungen, die sich nicht ohne Weiteres im Rahmen der theoretischen Vorgaben einer rein immanenten Kritik unterbringen lassen. Die von ihr rekonstruierten Merkmale gelingender Lebensformen (Werte zweiter Ordnung, wie Offenheit, FlexibilitĂ€t, Selbstreflexion und die FĂ€higkeit und Bereitschaft zur VerĂ€nderung) scheinen im Gegenteil â trotz ihres Votums fĂŒr einen nicht relativistisch justierten, grundsĂ€tzlich wertzuschĂ€tzenden und unaufhebbaren âexperimentellen Pluralismusâ von Lebensformen (448f) â auf bestimmte liberale Werte und damit auf die normative Sozialontologie bestimmter und gerade nicht auf die aller Lebensformen zugeschnitten zu sein [5]. Man mag daher mit Jaeggi gegen Jaeggi feststellen, dass sich eine âVerteidigung des Ethos der Autonomie im Modus eines offen ausgetragenen Konflikts um Lebensformen als weniger paternalistisch erweist, als der Neutralismus es in seinen Auswirkungen manchmal sein kannâ (46). Wer aber das âFaktum der Freiheitâ (433) in pluralistisch verfassten Gesellschaften fĂŒr verteidigenswert hĂ€lt, wird sich letztlich weder gĂ€nzlich von der âsubstanziell-inhaltlichen Beantwortung ethischer Fragenâ entlasten (316f), noch völlig ohne Rekurs auf paternalistische und (autonomie-)perfektionistische Formen der BegrĂŒndung auskommen können.
Die kritische Theorie gilt in Deutschland, wie Stefan Gosepath kĂŒrzlich etwas sĂŒffisant auf einer MĂŒnsteraner Konferenz festgestellt hat, als bedeutendes âKulturgutâ. Jaeggis konstruktive Auseinandersetzung mit einem zu lange ignorierten blind-spot liberaler Politik-, Moral- und Erziehungsphilosophie zeigt eindrucksvoll, dass dieses Kulturgut auch heute noch auf höchstem theoretischem Niveau tradiert und gepflegt wird. Ob das Buch auch auf Traditionspflege bedachten AnhĂ€ngern der Ă€lteren kritischen Theorie zusagen wird, kann bezweifelt werden. Die Zeiten, in denen kritische Theoretiker zuweilen noch (ob zu Recht oder zu Unrecht) als âJammerathletenâ (Marquard) bezeichnet werden konnten, sind jedenfalls lange vorbei.
[1] Honneth, A.: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2011.
[2] Koller, H.-Ch.: Bildung anders denken. EinfĂŒhrung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer 2011.
[3] Lakoff, G. / Johnson, M.: Metaphors we live by. With a new Afterword. London, Chicago: The University of Chicago Press 2003.
[4] Siep, L.: Kritische Theorie zwischen Pragmatismus und Dialektik. In: Deutsche Zeitschrift fĂŒr Philosophie, Band 62 / 2014, Heft 5, 1000â1008.
[5] Mohseni, A.: Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Frankfurt a. M. 2014. In: Zeitschrift fĂŒr philosophische Forschung, Band 68 / 2014, Nr. 3, 430â433.
EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)
Kritik von Lebensformen
Berlin: Suhrkamp 2013
(451 S.; ISBN 978-3-5182-9587-8; 20,00 EUR)
Johannes Drerup (Landau/MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup: Rezension von: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978351829587.html
Johannes Drerup: Rezension von: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978351829587.html