EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)

Rahel Jaeggi
Kritik von Lebensformen
Berlin: Suhrkamp 2013
(451 S.; ISBN 978-3-5182-9587-8; 20,00 EUR)
Kritik von Lebensformen „Sollen wir also das weiße Band, das der Pastor in Michael Hanekes gleichnamigem Film seinen Kindern in die Haare flechten lĂ€sst, um sie, wie er sagt, an ‚Reinheit und Unschuld‘ zu erinnern – Werte, gegen die die Kinder sich schon durch einfaches ZuspĂ€tkommen zum Abendbrot strĂ€flich vergangen haben sollen –, als lediglich ‚befremdliche Erziehungspraxis‘ tolerieren, wĂ€hrend wir die ZĂŒchtigungsszenen offen kritisieren und sogar rechtlich ahnden dĂŒrfen?“ (42).

WĂ€hrend manche Vertreter politisch-liberaler und neo-kantianischer Traditionen der politischen Philosophie solche Erziehungspraktiken und Überzeugungssysteme als eine Art „black box“ (10) betrachten mĂŒssen, die es mit Verweis auf das „Faktums des Pluralismus“ (Rawls) eher noch zu tolerieren, nicht aber zu kritisieren gilt, beansprucht Jaeggi im Rahmen ihrer Rekonstruktion der „normative(n) Sozialontologie von Lebensformen“ (257), Kriterien zu entwickeln, die es erlauben sollen, das Gelingen oder Scheitern entsprechender „Ensembles von Praktiken und Einstellungen“ (Lebensformen) zu beurteilen. Da mit dem in einigen Debatten ĂŒblichen „Hinweis auf die konstitutive PartikularitĂ€t von Lebensformen eine folgenreiche Irrationalisierung dessen einhergeht, was im Bereich des ‚Ethischen‘ gesagt werden kann“ und der „liberale Diskurs ĂŒber Lebensformen so“ dazu neigt „diese zu essenzialisieren und zu petrifizieren“ (was letztlich einem „Traditionalismus“ Vorschub leistet, „der möglichweise noch nicht einmal fĂŒr vormoderne Zeiten gerechtfertigt ist“; 50), gilt es die „black box zu öffnen“, die „innere Gestalt von Lebensformen“ (58) begrifflich zu erschließen und damit der Kritik zugĂ€nglich zu machen.

Hierzu bedarf es eine Theorie der Lebensformen und der (immanenten) Kritik, die Jaeggi in ihrem in vier Hauptteile gegliederten Buch „Kritik von Lebensformen“ unter RĂŒckgriff auf TheorieansĂ€tze der analytischen und der kontinentalen Tradition systematisch entfaltet. Ausgehend von einer Analyse des Lebensformbegriffs (Teil I) rekonstruiert sie die spezifische Form von praxisimmanenter NormativitĂ€t, die fĂŒr Lebensformen konstitutiv ist (Teil II). Daran anschließend entwickelt sie ein Modell der immanenten Kritik (Teil III), das erlauben soll, Kriterien fĂŒr gelingende oder misslingende Entwicklungsprozesse von historisch situierten Lebensformen zu bestimmen (Teil IV).

Lebensformen versteht Jaeggi als „BĂŒndel von sozialen Praktiken“, die „Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter [umfassen], die die kollektive LebensfĂŒhrung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst sind“ (77). Die in der Regel implizit bleibende spezifische NormativitĂ€t von Lebensformen ist als „ethisch-funktionale“ NormativitĂ€t in die Vollzugsbedingungen von PraxiszusammenhĂ€ngen selbst eingelagert (177). D. h., dass solche Normen, die fĂŒr den Erhalt einer Praxis zentral sind (funktionale Normen) und solche Normen, die fĂŒr das gute Funktionieren (ethische Normen), also fĂŒr das „Ethos“ einer Praxis zustĂ€ndig sind, im Falle von Lebensformen eine untrennbare Symbiose eingehen (175ff.). Nicht ein „von allen geteilter Wertekanon“, sondern diese spezifische NormativitĂ€t sozialer Praktiken liefert den Ausgangs- und Ankerpunkt fĂŒr die Bestimmung von Kriterien des Gelingens, die erlauben sollen, Lebensformen und ihre positive oder negative „Verlaufsform und Entwicklungsdynamik“ zu bewerten und zu kritisieren (314).

Die als Modus des guten Funktionierens konzipierte interne Verfasstheit von Lebensformen erlaubt RĂŒckschlĂŒsse auf ihre immanente RationalitĂ€t. Diese besteht nach Jaeggi in ihrer FĂ€higkeit, Probleme zu lösen, die sich im Rahmen des sie ausmachenden sozialen Praxis-, Interpretations- und SelbstverstĂ€ndigungszusammenhangs stellen (mĂŒssten). Lebensformprobleme sind dabei immer als Probleme zweiter Ordnung zu verstehen, d. h. als reflexiv-praktisch vermittelte Probleme nicht nur fĂŒr die, sondern mit der entsprechenden Lebensform (z. B. ‚extern‘ induzierte Probleme wie Naturkatastrophen im Unterschied zu Defiziten in der KatastrophenprĂ€vention), die im Anschluss an Ă€ltere Problemlösungen entstehen und zu weiteren Problemlösungen Anlass geben (240ff; 356ff). Lebensformen lassen sich so als „Problemlösungsinstanzen“ auffassen, die in Auseinandersetzung mit Krisen rekonstruierbare und (im Idealfall) „rationale Lernprozesse“ durchmachen und dabei entweder besser oder schlechter auf Probleme reagieren (307). Die immanente RationalitĂ€t qua Transformations- und ProblemlösungskapazitĂ€t einer Lebensform bemisst sich an Kriterien wie ReflexivitĂ€t, LernfĂ€higkeit, Selbstdurchsichtigkeit (im Sinne eines vertieften und angemesseneren ProblemverstĂ€ndnisses) und dem Grad der Einsicht in die Gestaltbarkeit der jeweiligen LebensverhĂ€ltnisse („Emanzipation“, 445) – Kriterien, die z. B. im Umgang mit „Lernblockaden“ (bspw. kollektive praktische Reflexionsdefizite; Ideologien) durch Modifikation des Interpretationsrahmens aktualisiert werden, in dem PraxisvollzĂŒge eingebettet sind.

Das von ihr entworfene Modell immanenter Kritik bezieht sich im Gegensatz zu Honneths Modell der „normativen Rekonstruktion“[1] – zumindest dem eigenen Anspruch nach – nicht auf bestimmte Werte, die in bestimmten sozialen Praktiken eingelagert sind und vom Theoretiker geborgen werden sollen, sondern auf die Art und Weise, wie die in Lebensformen verkörperte NormativitĂ€t sich in Auseinandersetzung mit Krisensituationen entwickelt und verĂ€ndert. ‚Transformativ-immanente Kritik‘ rekurriert damit auf die immer schon widersprĂŒchlichen Konstitutionsbedingungen von Praktiken (291), die sich – und damit auch die immanenten MaßstĂ€be der Kritik – im Prozess der Kritik selbst verĂ€ndern. Im Rahmen dieser Kopplung eines negativen (Krisen) und eines transformativen Kritikelements (Überwindung von Krisen) weisen die anvisierten lebensformspezifischen VerĂ€nderungspotentiale und Lernprozesse also immer schon ĂŒber ihre kontextuelle Einbettung in bestehende PraxiszusammenhĂ€nge hinaus, ohne dass dabei von einem statischen normativen Ausgangs- und Ankerpunkt oder einem teleologischen Zielpunkt der normativen Entwicklung ausgegangen werden muss.

Jaeggis Ansatz, der in Teilen gewisse Ähnlichkeiten mit der transformatorischen Bildungstheorie Kollers [2] aufweist (positive Wertung von Transformationsdynamiken, Fokus auf die Entstehung des Neuen etc.), beansprucht, einen praxisimmanenten evaluativen Ankerpunkt gefunden zu haben, der die Skylla „extern-autoritĂ€re(r)“ (14) Formen der Kritik genauso umschifft wie die Charybdis liberaler Doktrinen der ethischen Enthaltsamkeit. WĂ€hrend der politische Liberalismus aus ihrer Sicht blind bleibt fĂŒr den Umstand, „dass die Auswahl möglicher Wertentscheidungen im institutionellen Rahmen auch liberaler Gesellschaften in bestimmter Hinsicht immer schon vorentschieden ist“ (40), scheint jedoch auch ihr Rekonstruktionsmodell nicht frei von evaluativen Ausblendungen zu sein, die den Anspruch auf Enthaltung von der Beantwortung substantiell-inhaltlicher Fragen des guten Lebens zugunsten einer formal-prozeduralen, normativen Verlaufs- und Entwicklungslogik fraglich werden lassen. Jaeggi nutzt fĂŒr ihre Theoriekonstruktion evaluativ geladene Leit- und Hintergrundmetaphoriken (Lebensformen als „Problemlösungsinstanzen“; „Lernblockaden“), die auf Grund von mit Metaphernnutzung verbundenen Effekten des highlighting und hiding [3] den Blick auf das selbstverstĂ€ndliche Faktum verstellen können, dass es neben krisenhaften natĂŒrlich auch lineare Lernprozesse gibt und dass sich auch nicht alle Formen des guten Lebens als Resultat von KrisenbewĂ€ltigungsstrategien verstehen lassen [4].

Auch wenn Jaeggi darauf besteht, dass eine „Kritik von Lebensformen [
] ohne ein Metasprachspiel, ohne einen neutralen ‚archimedischen Punkt‘ auskommen“ muss (257), basiert auch ihr auf gelungene Transformationsdynamiken ausgerichtetes Rekonstruktionsmodell auf normativ-evaluativen Schwerpunktsetzungen, die sich nicht ohne Weiteres im Rahmen der theoretischen Vorgaben einer rein immanenten Kritik unterbringen lassen. Die von ihr rekonstruierten Merkmale gelingender Lebensformen (Werte zweiter Ordnung, wie Offenheit, FlexibilitĂ€t, Selbstreflexion und die FĂ€higkeit und Bereitschaft zur VerĂ€nderung) scheinen im Gegenteil – trotz ihres Votums fĂŒr einen nicht relativistisch justierten, grundsĂ€tzlich wertzuschĂ€tzenden und unaufhebbaren „experimentellen Pluralismus“ von Lebensformen (448f) – auf bestimmte liberale Werte und damit auf die normative Sozialontologie bestimmter und gerade nicht auf die aller Lebensformen zugeschnitten zu sein [5]. Man mag daher mit Jaeggi gegen Jaeggi feststellen, dass sich eine „Verteidigung des Ethos der Autonomie im Modus eines offen ausgetragenen Konflikts um Lebensformen als weniger paternalistisch erweist, als der Neutralismus es in seinen Auswirkungen manchmal sein kann“ (46). Wer aber das „Faktum der Freiheit“ (433) in pluralistisch verfassten Gesellschaften fĂŒr verteidigenswert hĂ€lt, wird sich letztlich weder gĂ€nzlich von der „substanziell-inhaltlichen Beantwortung ethischer Fragen“ entlasten (316f), noch völlig ohne Rekurs auf paternalistische und (autonomie-)perfektionistische Formen der BegrĂŒndung auskommen können.

Die kritische Theorie gilt in Deutschland, wie Stefan Gosepath kĂŒrzlich etwas sĂŒffisant auf einer MĂŒnsteraner Konferenz festgestellt hat, als bedeutendes „Kulturgut“. Jaeggis konstruktive Auseinandersetzung mit einem zu lange ignorierten blind-spot liberaler Politik-, Moral- und Erziehungsphilosophie zeigt eindrucksvoll, dass dieses Kulturgut auch heute noch auf höchstem theoretischem Niveau tradiert und gepflegt wird. Ob das Buch auch auf Traditionspflege bedachten AnhĂ€ngern der Ă€lteren kritischen Theorie zusagen wird, kann bezweifelt werden. Die Zeiten, in denen kritische Theoretiker zuweilen noch (ob zu Recht oder zu Unrecht) als „Jammerathleten“ (Marquard) bezeichnet werden konnten, sind jedenfalls lange vorbei.

[1] Honneth, A.: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2011.
[2] Koller, H.-Ch.: Bildung anders denken. EinfĂŒhrung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer 2011.
[3] Lakoff, G. / Johnson, M.: Metaphors we live by. With a new Afterword. London, Chicago: The University of Chicago Press 2003.
[4] Siep, L.: Kritische Theorie zwischen Pragmatismus und Dialektik. In: Deutsche Zeitschrift fĂŒr Philosophie, Band 62 / 2014, Heft 5, 1000–1008.
[5] Mohseni, A.: Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Frankfurt a. M. 2014. In: Zeitschrift fĂŒr philosophische Forschung, Band 68 / 2014, Nr. 3, 430–433.
Johannes Drerup (Landau/MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup: Rezension von: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978351829587.html