Es ist ein Verdienst der hier zu besprechenden Veröffentlichung, dem Erleben von Zeit, einem „unterbelichteten“ Thema in der Berufsbildungsforschung, sich reflexiv-hermeneutisch wie auch via qualitativer Sozialforschung anzunähern. In lern- und kompetenztheoretischen Modellen wird zwar viel von Selbststeuerung gesprochen, dass diese jedoch in berufliche Kontexte eingebettet ist und damit in zeitlicher Hinsicht restriktiven Vorgaben unterliegt, wird geflissentlich übersehen. Zeitvorstellungen des Einzelnen wie auch des gesellschaftlichen Umfelds spielen jedoch eine bedeutsame Rolle, wie der Autor im einleitenden Kapitel plausibel macht.
In einem weit ausholenden ersten Teil der Studie werden Zeitkonzepte im Lichte technologischer Entwicklungen dargestellt. Hierbei verdeutlicht der Autor, dass unser heutiges Zeitverständnis historisch gewachsen ist. Wie er dieses erste Kapitel mit Blick auf seine Untersuchungsziele beschließt, lässt sich in beruflicher Hinsicht eine Gruppe, die komplexe Aufgaben im Rahmen einer festen Planung durchführt und eine, die durch ihre kreative Aufgabenstellung offeneren Rahmenbedingungen unterliegt, unterscheiden. Doch zunächst wird in einem weiteren Abschnitt das Reflexionspotenzial der Philosophie und Soziologie im Hinblick auf Zeit ausgelotet. Von Platon über Augustinus bis Heidegger referiert der Autor prominente Positionen, schließlich auch soziologische (und sozialpsychologische) Untersuchungen, die kulturell unterschiedliche Zeitverständnisse hervorheben. Auch aus diesem Kapitel heraus formuliert Schapfel-Kaiser zuspitzende Erkenntnisse für die eigene Untersuchung, indem er u.a. Zeitknappheit und Flexibilität im Umgang mit zeitlichen Vorgaben auf den sozialen Status beruflicher Tätigkeiten bezieht.
Im nun folgenden –vierten – Kapitel stellt der Autor sein empirisches Forschungsdesign vor, das sich der qualitativen Inhaltsanalyse verpflichtet weiß. In diesem Abschnitt werden das Vorgehen und der computerbezogene Zugang der Auswertung beschrieben. Man muss jedoch genau lesen, um sich ein Bild über die Anzahl der Befragten zu machen (14, möglicherweise aber auch einige mehr), was mit Blick auf die komplexe Themenstellung doch auch hätte ausführlicher reflektiert werden dürfen, zumal eine Untertitelung explizit der „Auswahl der Berufe und Interviewpartner“ gewidmet ist. Immerhin wird an einer Stelle festgehalten, dass es sich keinesfalls um eine repräsentative Studie handle, sondern um ein „exploratives Experiment“ (176). Genau dieser Ansatz hätte durchaus eine ausführlichere Erörterung verdient.
Immerhin wird deutlich, warum Schapfel-Kaiser sich gerade auf die ausgewählten Berufsgruppen konzentrierte. Hebammen folgen im besonderen Maße einer „natürlichen Zeit”, währenddessen Straßenbahnführer Repräsentanten einer „linearen Zeit” seien, Künstler wiederum auf zeitliche Selbstbestimmung und „Kairos”, als Ergreifen des richtigen Moments, setzten und schliesslich Bauleiter eine besondere Verantwortung hinsichtlich pünktlicher Bereitstellung eines Produktes tragen würden.
Erst im Vergleich zu dem gegenüber den anderen Teilen der Studie knapp gehaltenem letzten Kapitel (207ff) und dann im Ausblick wird interpretierend auf die eigentliche empirische Befundlage im Lichte der oben dargelegten Vorüberlegungen eingegangen.
Es bestätigen sich im wesentlichen die Ausgangsüberlegungen, dass Künstler, aber auch leitende Angestellte weit stärker über eine „Eigenzeit” verfügen, um ihre Aufgaben zu erfüllen und im gewissen Maße Zielsetzungen entwickeln zu können, um Neues zu schaffen. Hebammen und Straßenbahnführer hingegen sind in ihren Gestaltungsmöglichkeiten von Zeitvorgaben anderer abhängig. Diese Rahmenbedingungen prägen auch stark die Identität der beruflich Tätigen.
So anregend die Überlegungen und Befunde sind, so muss doch dem Autor der Einwand entgegengehalten werden, dass seine als Dissertation durchgeführte Studie wenig ausbalanciert ist. Die weit ausholenden Vorüberlegungen werden insgesamt zu wenig auf die besonderen Bedingungen der jeweiligen Berufe spezifiziert. Auch auf die Konsequenzen zur beruflichen Bildung wird kaum bis wenig ausführlich Bezug genommen. Dem Autor ist diese Problematik offenbar durchaus bewusst, denn er betont des Öftern, dass es sich hierbei um Vor-Überlegungen und Studien mit Pilotcharakter handle, die weiterer empirischer Vertiefung sowie auch quantifizierender Methoden bedürften, um zu repräsentativen Ergebnissen zu gelangen. Diesen Feststellungen zustimmend, bleibt dennoch eine Diskrepanz zwischen den komplexen Fragen hinsichtlich Zeit und dem Zeiterlebnis in der beruflichen oder aber nicht thematisierten berufsschulischen Aktivität, zwischen, “Flow”-Erlebnis und Langeweile, Routine oder “Stress”.
EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)
Beruf und Zeit
Pilotstudien zum Zeiterleben in Erwerbsberufen am Beispiel von Hebammen, Straßenbahnfahrern, leitenden Angestellten und Künstlern
Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung
Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung
Bielefeld: W. Bertelsmann 2008
(336 S.; ISBN 987-3-7639-1107-3; 39,90 EUR)
Philipp Gonon (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Schapfel-Kaiser, Franz: Beruf und Zeit, Pilotstudien zum Zeiterleben in Erwerbsberufen am Beispiel von Hebammen, Straßenbahnfahrern, leitenden Angestellten und Künstlern Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/987376391107.html
Philipp Gonon: Rezension von: Schapfel-Kaiser, Franz: Beruf und Zeit, Pilotstudien zum Zeiterleben in Erwerbsberufen am Beispiel von Hebammen, Straßenbahnfahrern, leitenden Angestellten und Künstlern Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/987376391107.html