„Begabte Minoritäten“ scheinen indes kein prioritäres und damit bedeutendes Bil-dungsforschungsthema zu sein. Mit Recht und Vehemenz fragt die Autorin, ob es keine überdurchschnittlich begabten Schülerinnen und Schüler aus unterprivilegierten Verhältnissen gibt. In den Begabungsförderungsprogrammen oder Lernstandserhebungen von Schulanfängern sind begabte Schülerinnen und Schüler proportional nur minimal vertreten. Margrit Stamm antwortet selbst: „Aber es gibt sie.“ (15) Die Autorin nimmt diesen Ungleichheitsdiskurs auf und widmet sich systematisch forschend dem „komplexen Gesamtmosaik“ begabter Minderheiten. Ihr Ziel ist es, in der Bildungspolitik und bei den Akteuren pädagogischer Praxis einen umfassenden und notwendigen Perspektivwechsel anzuregen und ihnen eine begründete Analyse für die empirisch vorfindbare Unterrepräsentation begabter Minoritäten zu bieten.
Geprägt von der Hoffnung, zu einem Mehr an Bildungsgerechtigkeit beizutragen und Anstoß für einen neu zu formulierenden Bildungsauftrag zu geben, der das Inklusionsangebot für begabte Kinder aus benachteiligten Verhältnissen erweitert, geht Margrit Stamm drei Kernfragen nach:
- Wie kommt es, dass so wenig Kinder aus bescheidenen sozialen Verhältnissen als überdurchschnittlich begabt identifiziert begabungsfördernden Maßnahmen und Programmen zugeführt werden?
- Welche Faktoren sind verantwortlich für diese Unterrepräsentanz?
- Wie lassen sich die festgestellten Ungleichheiten beseitigen?
In Kapitel 1 beschreibt die Autorin begabte Minoritäten im historischen und aktuellen Bildungskontext. Dabei deutet sie auf das Paradoxon von Begabungsförderung, das Kinder aus benachteiligten Familien stigmatisiert, weil sie bedingt durch spezifische Auswahl- und Zuweisungspraktiken gar nicht erst zu Fördermaßnahmen zugelassen werden. Dem Paradoxon liegt ein Diversitätsproblem zu Grunde, das in ein grundsätzliches Dilemma sozialer Deprivation eingebettet ist. Einen ersten Lösungsversuch zur für den Zugang zentralen Identifikationspraxis stellt Margrit Stamm mit einem Kontextmodell der Schülerleistung dar, das den Fokus auf begabte Kinder als integraler Teil des Bildungssystems richtet.
In Kapitel 2 folgen Hintergründe der Unterrepräsentanz von begabten Kindern mit Migrationshintergrund in Programmen der Begabungsförderung, die mit statistischen Daten in der Schweiz aufbereitet sind. Begabung hat eine soziokulturelle Bedeutung und hiermit auch eine Entwicklungsperspektive, die für Konzeptionen zur Begabungsförderung berücksichtigt werden muss.
Teil II lenkt mit den Kapiteln 3 und 4 die Aufmerksamkeit auf die frühen Einflüsse auf Entwicklung und Verhalten sowie Angebote frühkindlicher Bildung. Insbesondere Effekte auf Chancengleichheit und Möglichkeiten zu ihrer Verbesserung im Vorschulraum werden in diesen Kapiteln auf Basis internationaler Forschungsdaten untersucht. Klar wird, dass frühkindliche Bildung eine übergeordnete Perspektive mit Blick auf begabte Minoritäten benötigt.
Teil III erweitert in Kapitel 5 den Analysekontext auf die allgemeine Ausbildung und den schulischen Unterricht. Bearbeitet werden Prozesse der Verzerrung in Bezug auf Geschlechts- oder Ethnienzugehörigkeit, aus denen disproportionale Platzierungen von Minoritätskindern in Begabungsförderungsprogrammen re-sultieren. Das Kapitel 6 thematisiert rechtliche Grundlagen für Begabungsförderung in der Schweiz.
Die Kapitel 7 und 8 des Teil IV diskutieren Wege zur Verbesserung der Leistungsex-zellenz und zeigen insbesondere mit Kapitel 8 alternative Zugänge zu Identifikation und Zuweisung in Programme zur Begabungsförderung auf. Wie ein roter Faden, der sich durch die gesamte Publikation zieht, zeigt Margrit Stamm die Komplexität der ungleichen Verteilung von begabten Minoritäten in der Begabungsförderung auf. Der „cultural bias“, welcher mit den empirisch vorfindbaren Problematiken schulischer Identifikations- und Zuweisungsprozeduren einhergeht, ist – so das positive Veto der Autorin – durchaus lösbar. Dergestalt ist auch das Fazit, dass Bilanz zieht und acht Empfehlungen vorlegt. Diese richten sich primär an Akteure aus Bildungsforschung und -entwicklung.
Entsprechend ist der Adressatenkreis vorliegender Veröffentlichung zu nennen. Der empirischen Realität, die Margrit Stamm in Bezug auf ein evidentes Thema ungleicher Begabungspolitik aufzeigt, ist eine Leserschaft zu wünschen, die an Gegenvorschlägen zu einer Veränderung konventioneller, mittelschichtorientierter Begabungsförderung interessiert ist. Dieser Leser kann sich von einer Vision inspirieren lassen, die einen komplexen Anspruch erfüllt: Kontextuell und hermeneutisch das Diversitätsproblem „Begabte Minoritäten“ aus der Tabuzone von Bildungsforschung und -entwicklung herauszuholen. Er lässt sich auf einen performativen Perspektivwechsel ein, der sich (un)gleicher Bildung von Kindern aus Minoritätenfamilien stellt. Nicht leicht, aber chancenreich ist dieser neue Blick auf Bildungsprozesse.