EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Heinz-Jürgen Dahme / Norbert Wohlfahrt
Ungleich gerecht?
Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihrer theoretischen Grundlagen
Hamburg: VSA Verlag 2012
(200 S.; ISBN 978-3-89965-491-2; 18,80 EUR)
Ungleich gerecht? Die analytische Kritik von Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt nimmt ihren Ausgangspunkt in der Konjunktur gerechtigkeitsorientierter Theorieangebote als Konzeptionalisierungsmaßstab für wohlfahrtsstaatliche Fördersysteme. Die Fragen, wie sich Menschen- und Grundrechte als Bestandteile eines normativen Bezugssystems sozialer Gerechtigkeit konkretisieren lassen und welche Rolle dabei der zunehmende Einfluss unterschiedlicher Gerechtigkeitspositionen auf erziehungswissenschaftliche Forschung spielt, werden im Band „Ungleich gerecht?“ neu gestellt. Ob als theoretisches Fundament für die Ausgestaltung wohlfahrtstaatlicher Unterstützungsangebote, das pädagogische Geltungsansprüche nach gerechtigkeitsbasierten Kategorien neu sortiert oder als ethische Neuorientierung nach dem Ideal einer Verwirklichungs- und Befähigungsgerechtigkeit – die Aktualität von Gerechtigkeitsdiskursen in Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik scheint seit einigen Jahren ungebrochen. Die theoretischen Implikationen, die von Gerechtigkeitsansätzen ausgehen, bilden eine wesentliche Basis der Analyse. In der sozialpolitischen Realisierung von idealtypischen Gerechtigkeitsvorstellungen liegt für die beiden Autoren dabei ebenso die Gefahr wie in unreflexiven Vereinfachungen von Handlungskonzepten.

In der Einleitung wird bereits die Kritik an der programmatischen Schwäche von Gerechtigkeitsansätzen ausformuliert mit dem Ausruf: „Moderne Gerechtigkeitstheorien sind vom Ausgangspunkt her (...) immer staatsaffirmativ“ (17). Gerechtigkeitskonzepte werden als sozialpolitisch konforme Versuche gedeutet, die jegliche institutionelle Kritik an herrschenden Prinzipien aktivierungspolitischer Sozialstaatlichkeit verunmöglichen. Der rote Faden, den beide Autoren bei der breiten Rezeption von Gerechtigkeitstheorien ausfindig machen, besteht darin, dass die Anpassung an realpolitische Verhältnisse durch Gerechtigkeitsvorstellungen kaum hinterfragt wird. „Das alte sozialstaatliche Motto der »Hilfe zur Selbsthilfe« (...) passt damit eins zu eins zu den Anstrengungen einer Sozialpolitik, die dem Einzelnen klarzumachen versucht, dass es seiner individuellen Bemühungen bedarf, um seine Lage in der Konkurrenz wieder zu verbessern“ (19). Insofern ist das Ziel der komplex strukturierten Analyse das Aufspüren einer „inneren Logik“ der gerechtigkeitstheoretischen „Apologetik“ (14). Im Begriff „Apologetik“ ist dabei der Vorwurf enthalten, dass Gerechtigkeitsvorstellungen letztlich einen naturbedingten Idealismus beinhalten, der allein durch zivilgesellschaftliche Kollektive gehalten und verteidigt wird. Im Anschluss an Gegenstandsbeschreibungen moderner Gerechtigkeitsdebatten rezipieren Dahme und Wohlfahrt liberale Theoriekonzepte (Hayek, Dworkin) und fragen nach dem Ursprung eines liberalen Gerechtigkeitsbegriffs als „Inbegriff der Freiheit des Privateigentümers“ (29). Die Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihre theoretischen Grundlagen wird nicht nur im zweiten und dritten Kapitel über die historischen Entwicklungslinien der zentralen Positionen philosophischer Staatstheorien (Aristoteles, Hobbes, Rousseau) bis zur politischen Ökonomie (Marx) nachgezeichnet. Vielmehr liest sich die Kritik als Rezeptionsgeschichte der Grund- und Menschenrechte und deren Funktion als normativ universalistisches Bezugssystem (vgl. 45). Die weitreichende Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen und deren politischem Bedingungsverhältnis wird durchgängig anhand marktökonomischer Reproduktionszusammenhänge rekonstruiert. Systematisch folgt der Band „Ungleich gerecht?“ dem Entwicklungsverlauf gerechtigkeitstheoretischer Schulen. Die gemeinschaftsorientierten Konzepte der Zivilgesellschaft, exemplarisch vorgestellt am Beispiel des Kommunitaristen Etzioni (79ff) sowie durch Nussbaums Capability-Approach als sozialdemokratische Umsetzung eines „guten menschlichen Lebens“ und deren Realisierung über „Befähigungsgerechtigkeit“, sind – nach Dahme und Wohlfahrt – im Vergleich der Ansätze identisch: „Beide setzen (…) in Gerechtigkeitsfragen letztendlich auf die moralischen Gefühle der Menschen, die im Kommunitarismus der naturrechtlich gedachten Gemeinschaft entspringen, und bei Nussbaum ist es letztendlich auch die als Gesellschaft gedachte Gemeinschaft, die für die Tugenden zuständig ist“ (82).

Im zweiten Teil des Bandes wird am Beispiel des gerechtigkeitstheoretischen Differenzmodells von John Rawls die „Abkehr vom Gleichheitskriterium“ als „strenge modelltheoretische Konzeptionierung von Gerechtigkeit“ analysiert und als Versuch gedeutet die „normative Idee mit einer Betrachtung der (sozial-)staatlichen Wirklichkeit zu verbinden“ (89). Genau an dieser Stelle sehen die beiden Autoren die staatsaffirmative „realistische Anpassung an den Zeitgeist“ (ebd.) politisch umgesetzt und deuten die Funktion der „Fairness“ in der Rawlschen Theorie als „Adelung der demokratischen Institutionen“ (92). Im dritten Teil des Bandes wird sowohl die realpolitische Funktion von Gerechtigkeitskonzepten als auch die Suche nach „normativen Fluchtpunkten“ (149) als problematisch beschrieben. Dies wird in der Reflexion über Amartya Sens (Teil-)Konzept des Capability-Approach (97-105) und den anschließenden Kommentaren zu Honneths anerkennungstheoretischen Ansätzen und zu Nancy Fraser (105ff) dargestellt. „Der große philosophische Entwurf, Gerechtigkeit nach einem normativen Maßstab zu konstruieren (...) endet letztlich in der Apologetik einer bürgerlichen Welt, in der die Gescheiterten der Konkurrenzgesellschaft gefälligst für sich selbst sorgen sollen“ (140), so das wiederholte Fazit, das im Kern bereits am Anfang des Buches als programmatischer Leitfaden steht.

Ob als Suche nach Schwachstellen einer gerechtigkeitsorientierten Theoriebildung der Sozialwissenschaften in Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaften und Sozialer Arbeit angelegt oder als Frage nach normativen Begründungsversuchen im wohlfahrtsstaatlichen Diskurs der Arbeits- und Sozialpolitik, die beiden Autoren halten kritisch fest: „In all diesen Erscheinungsformen erweist sich die Gerechtigkeit als Abstraktion, die sie ist. Sie ist Legitimations- und Berufungsinstanz jedweden Staatshandelns“ und Ausdruck einer „illusorischen Gemeinschaftlichkeit“ (181). Die Argumentationslinie, gerechtigkeitstheoretische Konzepte nähmen in Kauf, dass sie letztlich in einer bürgerlichen „Apologetik“ verhaftet bleiben, verleiht der Kritik gerade im abschließenden vierten Teil des Buches jedoch einen statischen Charakter. Dahme und Wohlfahrt kommen zu dem Schluss, dass Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit der Arbeitsgesellschaft ausblendet. Somit gehen sie von einer „falschen Harmonie“ aus, wenn es heißt: „Sinn und Zweck der normativen Analyse ist die moralische Überhöhung der Arbeitswelt als prinzipiell taugliches Mittel eines Interessenausgleichs von Lohnarbeit und Kapital“ (113; Hervorh. i. O.). Es verwundert, dass der demokratietheoretische Reflexionszusammenhang von Hegemoniekonzepten (Laclau, Rancière) und die Ansatzpunkte kritischer Kulturtheorie (Reckwitz) in ihrer postdemokratischen Beobachterperspektive im Buch unerwähnt bleiben. Für eine anschlussfähige gerechtigkeitsorientierte Sozialpädagogik sowohl in ihrer theoretischen Vergewisserung als auch in der praktischen Durch- und Umsetzung von Anspruchsrechten der Adressaten, ist die Eröffnung der Debatte mit der Analyse von Dahme und Wohlfahrt begrüßenswert. Allerdings müsste die vorrangige Kritik am Staatsgläubigkeitsproblem von Gerechtigkeitsansätzen durch eine offene demokratietheoretische Forscherperspektive ergänzt werden: Damit würde die Debatte um „Gerechtigkeit“ über ihre Kritik am Gegenstand der Gerechtigkeitsdiskurse hinaus gehen und nach den konkreten Praktiken gefragt, die Akteure und Institutionen „unter Maßgaben“ der Gerechtigkeit politisch vollziehen.
Sven Heuer (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Heuer: Rezension von: Dahme, Heinz-Jürgen / Wohlfahrt, Norbert: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihrer theoretischen Grundlagen. Hamburg: VSA Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389965491.html