Mit dem von Anne Waldschmidt und Werner Schneider herausgegebenen Sammelband „Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung“ liegt der erste Band der neuen Reihe Disability Studies aus dem Bielefelder transcript Verlag vor. Diese Reihe verspricht ein neues Forschungsfeld zu erkunden und wird gemeinsam herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität Köln), Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg) und Heike Zirden („Aktion Mensch“, Bonn).
Welches Anliegen verfolgt diese neue Reihe? Sie untersucht „Behinderung“ als historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Ihr Ziel ist es, neue Perspektiven eröffnen, die den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit „Behinderung“ korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert.
Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe „Disability Studies“ zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. So lautet das anspruchsvolle Programm im Editorial der Reihenherausgeber. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses anspruchsvolle Programm wird mit dem vorliegenden Sammelband voll und ganz eingeholt.
Als erkennbarer „roter Faden“ zieht sich durch die gesamte Anthologie auf der einen Seite ein starker Bezug auf die Diskurstheorie von Foucault, die als kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm verstanden und zu diskurstheoretisch inspirierten Disability Studies transformiert wird (in diesem Zusammenhang liefert Anne Waldschmidt eine sehr erhellende Rezeptionsgeschichte des Werks von Foucault durch die angelsächsischen Disability Studies). Mit diesem differenzierten Werkzeugkasten für einen kritischen Behinderungsdiskurs entstehen vielfältige Inspirationen, um „Denkalternativen zur allgegenwärtigen Naturalisierung, Pathologisierung und Entpolitisierung von ‚Behinderung’ zu entwickeln“ (73).
Auf der anderen Seite werden immer wieder wichtige Anschlüsse und Bezugspunkte zu jenen gesellschaftlichen Grundfragen hergestellt, die von den Sozialwissenschaften thematisiert werden: Ungleichheit, Inklusion und Exklusion sowie Ungleichheitsbearbeitung. Vor allem aber wird die zu Recht kritisierte Körpervergessenheit der poststrukturalistischen Ansätze thematisiert und überwunden. Welche Körper stehen dabei in Rede? Es sind Körper, die mit der Abgrenzungskategorie „Behinderung“ belegt werden, verkörperte Differenzen zum Ausdruck bringen und machtvolle Zugriffe der Normalisierung erleben – aber auch Widerstandsstrategien sichtbar machen (so etwa Walburga Freitag in ihrem Beitrag zu Diskurs und Biographie im Kontext von Conterganschädigungen, der dem Entstehen von „biographischem Eigensinn“ nachgeht).
Nicht nur die gemeinsame Referenz auf Foucault hält die unterschiedlichen Beiträge zusammen, die in fünf unterschiedliche Themenfelder gegliedert sind. Es ist eindeutig die Verhältnisbestimmung von Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse, die über die übliche Perspektive auf die Thematik hinausgeht. Zentraler Ausgangspunkt ist das Bestreben einer Überwindung des „klinischen Blicks“ und die Analyse gesellschaftlicher Praxen, wie Anne Waldschmidt und Werner Schneider in der Einführung schreiben. Alle Beiträge zeichnen sich durch einen starken Fokus auf die Kulturwissenschaften aus und reflektieren die erkenntniskritischen Potenziale jenseits der bislang dominierenden anwendungsorientierten Wissenschaften (wie etwa der Medizin, der Behindertenpädagogik und der Rehabilitationswissenschaft). Dieser neuartige Zugang der in der Anthologie als Analysewerkzeug stark gemacht wird, sieht „Behinderung“ als ein mögliches Motiv, um Aufschluss über das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Kultur zu erlangen. Vor allem aber bringt diese Perspektive die übliche „Ordnung der wissenschaftlichen Dinge“ gehörig durcheinander. Denn Sozialwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Kulturwissenschaft begegnen sich auf diesem Terrain nicht länger im üblichen additiven Modus und begrenzten Verständnis, sondern transformieren sich zu einem bedeutenden Forschungsprogramm, zu einer in der Tat neuartigen und weit reichenden transdisziplinären Analyse, die die Limitierungen und Legitimationen der bisherigen Forschungszuständigkeiten selbst als Produkt von gesellschaftlichen Macht- und Wissensprozessen versteht.
Anschlüsse, Querverbindungen und Perspektiven zu anderen Ansätzen und Forschungsrichtungen lotet das zweite Feld in der Systematik der Beiträge aus, in dem etwa Clemens Dannenbeck in handlungspraktischer Hinsicht einen ‚cultural turn’ in der sozialen Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen plausibel begründet. Ein erster Schritt in diese Richtung – so seine These – könnte die Einbeziehung der Cultural Studies für die theoretische und institutionelle Weiterentwicklung der Disability Studies in Deutschland ermöglichen. Mit dieser transdisziplinären Weiterentwicklung stünden dann die vertrauten und zumeist unhinterfragten Kategorien wie ‚Behinderung’ oder ‚Integration’ zur Disposition. Eine unmittelbare praktische Relevanz entfalte diese Ausprägung in denen die Kategorie Behinderung nicht nur diskursiv, sondern auch praktisch verhandelt wird: „Damit wird aus der Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung ein politisches Projekt jenseits fürsorglicher professioneller Belagerung und hierarchisch verordneter Integration.“ (122)
Exakt in diese Richtung spitzt auch Heike Raab ihren aufschlussreichen Beitrag zu, der gewissermaßen die ‚Differenz der Differenz’ untersucht. Sie entwickelt mit Bezug auf die gegenwärtig immer stärker rezipierte Intersektionalitätsforschung einen gehaltvollen theoretischen und methodischen Analyserahmen, um die Trias von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht in den vielfältigen Wechselwirkungen so zu erforschen, dass Differenzen nicht länger als essenzielle und ahistorische Wesenheiten konzipiert werden. Damit lassen sich riskante Ungleichheiten markieren und Unterschiede, die Unterschiede machen, identifizieren.
Die letzten drei Beiträge, die Behinderung und sozialen Status untersuchen, sind stärker soziologisch gewichtet: Aus systemtheoretischer Sicht untersucht Gudrun Wansing Behinderung sowohl als Inklusions- als auch als Exklusionsfolge. Dies ist kein Widerspruch, sondern eine Grundfigur moderner Vergesellschaftung. In diesem Kontext ist die leitende Annahme, dass die moderne Gesellschaftsstruktur im Kontext von Behinderung verstärkt Lebensläufe hervorbringen kann, die durch eine Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion gekennzeichnet sind (276). Das Exklusionsrisiko Behinderung diskutiert auch Michael Maschke im Hinblick auf verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche. Er kann überzeugend aufzeigen, dass eine zukünftige Ungleichheitsforschung Analysekonzepte zu sozialer Exklusion und Diskriminierung forcieren muss. Sich dabei aber auch der Problemkonstruktion bewusst zu sein und politische Antworten mitbestimmen zu wollen, ergibt sich aus dem Anschluss an die Perspektiven der Disability Studies.
Wie Behinderung in der Schule institutionalisiert wird, das untersucht der Beitrag von Justin Powell. Er bezieht sich auf die Exklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen aus dem Regelschulsystem. Durch den Bezug auf neo-institutionalistische Theorieangebote erscheinen die regional höchst unterschiedlichen Anteile von Sonderschülern erklärbar und die hierzulande bemerkenswerte Immobilität des Bildungssystems wird im Spannungsfeld der geforderten Reformen und veränderten Leitideen wie Chancengerechtigkeit oder Inklusion diskutiert. Es sind also nicht nur die Paradigmen, „sondern auch die Professionen und die Politik, die institutionelle Entwicklungen unterstützen und diese während ihrer Genese verteidigen“ (336). In dieser Hinsicht braucht es sowohl eine Soziologie der Behinderung als auch eine Analyse der schulischen Behinderung im historisch gewachsenen Schulsystem, denn die wesentlichen Barrieren für die Integration und Inklusion liegen in der langfristigen Institutionalisierung der schulischen Behinderung (338).
Alle diese exemplarisch herausgegriffenen Beiträge stehen für das grundsätzliche Anliegen der Anthologie, jenseits der üblichen Perspektiven, also nicht länger medizinisch-biologisch oder pädagogisch-ethisch Behinderung zu konzeptualisieren, sondern Behinderung als Analysekategorie für Ungleichheits- und Differenzverhältnisse einer sich differenzierenden Gesellschaft in Gebrauch zu nehmen. Vor allem geht es darum, den Vermittlungszusammenhang von Gesellschaft und Differenzkategorien theoretisch zu erfassen. Auch wenn eine leichte Dominanz der soziologischen Theorien auszumachen ist, so zeigt sich in der Gesamtschau ganz klar das eindrucksvolle Potenzial der kulturwissenschaftlichen Referenz: Die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurse über Behinderung werden einer kritischen Analyse unterzogen. Freigelegt werden dabei die Praxen der Behinderung, der machtvollen Klassifikation aber auch die Strategien der Verschiebung von Bedeutungen, der Aushandlung und Neudefinition: „Behindert-Werden meint folglich ein Möglich-Werden, nämlich die Möglichkeit, tradierte gesellschaftliche Zusammenhänge zu hinterfragen, sich ihnen zu widersetzen oder sie zu verändern.“ (17) Was ist dabei zu gewinnen? Möglich wird es dadurch, die Denkräume über Behinderung zu erweitern und in Theorie und Praxis die vielfältigen Barrieren im Lebens- und Bildungsverlauf erkennen und überwinden zu können.
Diese Prozesse vollziehen sich mitnichten im Feld von Kultur, sie markieren selbst den kulturellen Prozess – eingelassen in die Felder von Wissen, Macht und Biographie. Weil diese Prozesse so vielschichtig und analytisch nur mit sehr differenzierten Instrumenten zugänglich sind, ist dem Befund aus diesem Sammelband nur zuzustimmen: Ein Perspektivenwechsel auf das Thema und Phänomen Behinderung ist notwendig, ja unumgänglich. Mit dieser Anthologie liegen nun differenzierte und anschlussfähige neue Perspektiven vor, die durchgängig mit anspruchsvollen theoretischen und methodischen Bausteinen aufwarten, um den Anwendungswissenschaften die Deutungsmacht über das Thema Behinderung streitig zu machen.
Auf die Fortsetzung dieser Reihe – auf weitere Erkundungen – dürfen wir von daher gespannt sein, denn ein bedeutsames Forschungsfeld hat nunmehr eine weitere Artikulationsform gefunden, um die Selbstbeobachtung und -beschreibung der Gesellschaft gleichermaßen anzureichern und herauszufordern um die gesellschaftliche Analysekategorie Behinderung.
EWR 7 (2008), Nr. 4 (Juli/August)
Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung
Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld
Bielefeld: transcript 2007
(348 S.; ISBN 978-3-89942-486-7; 29,80 EUR)
Sven Sauter (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Sauter: Rezension von: Waldschmidt, Anne / Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderun, Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389942486.html
Sven Sauter: Rezension von: Waldschmidt, Anne / Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderun, Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389942486.html