In der frühpädagogischen Diskussion und Praxisentwicklung sowie in der Erziehungswissenschaft wird zunehmend eine kritische Auseinandersetzung über prozessorientierte Beobachtungsverfahren geführt. Daneben werden im Bereich der fach- und hochschulischen Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte Konzepte erprobt, die – ähnlich wie in der Lehrerbildung und im Studium der sozialen Arbeit – das „forschende Lernen“ als integralen Bestandteil der Ausbildung zu etablieren suchen. Die wissenschaftliche Methode der ethnographischen Feldforschung, deren „ethnographische Haltung“ und „teilnehmende Beobachtung“, werden dabei als besonders gewinnbringend für dieses Konzept angesehen.
Eingeordnet in diesen Kontext präsentieren die Herausgeber Ergebnisse eines Workshops, auf dem Experten ausgewählte Videosequenzen der DVD „Kindern auf der Spur. Kita-Pädagogik als Blickschule“ [1] aus verschiedenen wissenschaftlichen und frühpädagogisch-praktischen Perspektiven heraus interpretierten. Dem Workshop geht eine Initiative des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin voraus, bei der die von Bina E. Mohn und Klaus Amann entwickelte Forschungsmethode der Kamera-Ethnographie für die Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte nutzbar gemacht werden soll. Der Idee folgend, zwischen Wissenschaft und Praxis verortet zu sein, wird in dem Herausgeberband erkundet, was ethnographische Forschung mit der Kamera zu einer Relationierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis beitragen kann (11). Diese Art der Erkundung soll zum einen als Studienmaterial für die Aus- und Fortbildung von frühpädagogischen Fachkräften verwendbar sein, zum anderen auch einen Beitrag zur Fachdiskussion leisten.
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil widmen sich drei Beiträge dem „Verhältnis von Beobachtung als Element einer innovativen Praxis zu Beobachtungen, die kamera-ethnographische Forschung zeigen kann“ (7). Hebenstreit-Müller und Mohn machen anhand der Darstellung ihrer unterschiedlichen Intentionen bei der Produktion der DVD die pädagogische und kamera-ethnographische Perspektive als deutlich differente (Erkenntnis-)Interessen transparent. Ein Ausschnitt aus der Diskussion des Workshops stellt anhand der Betrachtung von DVD-Sequenzen sehr anschaulich die Unterschiede eines empirisch-analytischen und eines pädagogischen Zugangs dar. Hebenstreit-Müller schließt den ersten Teil mit dem Versuch einer Bestimmung der Rolle von Kamera-Ethnographie für die Professionalisierung des frühpädagogischen Feldes.
Im zweiten Teil wird danach gefragt, wie sich die „Praxis der Kinder-Beobachtung zur Praxis der Förderung“ (7) verhält. Müller stellt in seinem Beitrag unter Verwendung von Videosequenzen in Frage, ob aus schriftlichen Beobachtungen direkt fördernde Angebote geschlussfolgert werden können. Mittels einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Bildungs- und Lerngeschichten“ und der Unterscheidung der phänomenologischen Begrifflichkeiten des „Verstehens“ und „Verständigens“, die er von Schäfer [2] übernimmt, kommt er zu dem Schluss, dass die Förderpraxis auf der Grundlage von Beobachtung vor allem als ein gegenseitiges „Eintakten“ der Aktivitäten von Pädagoginnen und Kindern zu verstehen ist.
Zudem werden Diskussionsbeiträge des Workshops präsentiert, die die Frage nach der Rolle der Beobachtung bei der Entwicklung von Angeboten weiter bearbeiten. Dabei argumentieren Bollig, Schulz und Mohn im Sinne eines praxisanalytischen Zugangs. Aus dieser Sicht hat der Verfahrensschritt der Entwicklung von Angeboten die Funktion sicherzustellen, dass überhaupt etwas mit den Beobachtungen passiert. Zugleich wird die ungenaue Ankopplung der Förderung an die Beobachtung als methodische Lösung eines strukturellen Problems angesehen und das Potential der Nutzung von Differenzen zwischen den Verfahrensschritten diskutiert. Aus pädagogischer Sicht argumentieren Hebenstreit-Müller und Schenker. Sie erläutern vor allem die didaktischen Intentionen der Entwicklung von Beobachtungsverfahren für die Professionalisierung der Fachkräfte. Schenker befasst sich mit den Möglichkeiten, die kamera-ethnographisches Beobachten für Ausbildung und Studium bereithält. Allerdings wird der zugrunde liegende Begriff von Ethnographie nicht – wie in den Beiträgen davor – reflektiert und ist eher dem derzeit in der Frühpädagogik bevorzugten Muster einer „forschenden Fachpraxis“ zuzuordnen. Es wirkt daher irritierend, dass Schenker – ebenso wie Müller – die Begrifflichkeiten des „Verstehens“ und „Verständigens“ (67/68) nutzt, sich zugleich aber in ihrer konträren Auffassung des Verhältnisses nicht auf Müllers Ausführungen bezieht. Die inhaltliche Ausrichtung des Beitrags spricht zudem Themen an, die im ersten Teil des Buches bearbeitet werden, so dass zusätzlich irritiert, warum der Text in den „Themenbereich Beobachtung und Förderung“ aufgenommen wurde.
Der dritte Teil des Bandes umfasst Beiträge, die darstellen, wie die „Ergebnisse der Kamera-Ethnographie als Material für weitere Forschung genutzt werden können“ (88). Bollig und Schulz zeigen anhand einer praxisanalytischen Perspektive entlang ausgewählter Sequenzen der DVD, welchen praktischen Sinn das Verlesen von Beobachtungsprotokollen im Erzieherinnenteam hat. Überzeugend und detailliert analysieren sie das Vorlesen als „systematisch-pädagogische Technologie“ (101) und Technik der praktischen Modifikation von Verfahrensvorschlägen, die die Transformation in andere Beobachtungsformate ermöglicht und einen „Beobachtungskreislauf“ (89) in Gang hält. Völkel analysiert eine Filmsequenz von Kindern, die an einer Schreibmaschine tätig sind, unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten und stellt dar, wie die Kinder kognitive und soziale Kompetenzen erlangen (109). Müller arbeitet mittels einer Sequenzanalyse nach Oevermann heraus, dass die frühpädagogische Praxis bei der Planung und Durchführung von Angeboten nicht die bildungstheoretisch-didaktische Vorgehensweise der Ausrichtung von Lernprozessen an zuvor definierten Lernzielen nutzt. Vielmehr versuchen die Erzieherinnen, die beobachteten Aktivitäten der Kinder in materielle Formen zu übertragen und ordnen sie erst in einem späteren Arbeitsschritt bildungstheoretisch zu. Diese eher unkonventionelle Vorgehensweise stellt Müller als Spezifikum der frühpädagogischen Praxis dar und weist auf die Notwendigkeit der Entwicklung einer Theorie hin, „die solche Praxis auf den Begriff bringt“ (125). Der dritte Teil schließt mit einem weiteren Ausschnitt aus der Diskussion des Workshops. Die Teilnehmer diskutieren dort über Sequenzen der DVD, in denen „guckende“ Kinder gezeigt werden. Am Terminus des „Guckens“ werden Fragen und Ideen zur Definition des „Beobachtens“ erörtert.
In fast allen Beiträgen beziehen sich die Autoren auf das kamera-ethnographische Videomaterial der DVD, die dem Buch beigelegt ist. Die Diskussionsausschnitte sind geschickt platziert und wechseln sich mit Beiträgen ab, die einen pädagogisch-didaktischen oder empirisch-analytischen Zugang verfolgen. Durch diese Gestaltung ist es weitgehend gelungen, den hohen Anspruch der gleichzeitigen Bereitstellung von Studienmaterial für die Aus- und Weiterbildung als auch von Beiträgen zur wissenschaftlichen Diskussion zu verwirklichen. Vor allem die Darstellung einer praxisanalytischen Perspektive und der fast durchgängig reflektierte Umgang mit den Differenzen zwischen wissenschaftlicher Methode und pädagogischer Praxis machen den Band anschlussfähig an Veröffentlichungen, die versuchen die prozessorientierten Beobachtungsverfahren beobachtungstheoretisch zu beschreiben, methodologisch zu begründen und an erziehungswissenschaftliche Diskussionen anzuschließen. Zudem kann der Band als Beitrag für erziehungswissenschaftlich geführte Diskussionen um die Konstituierung einer „pädagogischen Ethnographie“ betrachtet werden.
Als Studienmaterial bietet das Buch eine Fülle von Beispielen, die zeigen, wie Forscherinnen und Forscher mit den Videosequenzen arbeiten und wie sich die erwähnte Differenz zwischen der Forscherperspektive und dem pädagogischen Blick konstituiert. Mit dem Versuch der theoretischen Fundierung eines Konzeptes der Förderung auf Grundlage von Beobachtung wird eine bisher kaum entwickelte Thematik in den elementardidaktischen Diskurs sowie in die Praxisentwicklung eingebracht. Nicht zuletzt stellt der Band dar, dass ein bewusster Umgang mit den Unterschieden zwischen ethnographischer Forschung und sich selbst beobachtender Praxis auch Potentiale für ein Zusammenspiel der Perspektiven bereithält.
[1] Mohn, B. E./Hebenstreit-Müller, S.: Kindern auf der Spur: Kita-Pädagogik als Blickschule. Göttingen: IWF 2007.
[2] Schäfer, G. E.: Spiel, Spielraum und Verständigung. Weinheim: Juventa 1986.
EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)
Beobachten in der Frühpädagogik
Praxis – Forschung – Kamera
(mit DVD)
(mit DVD)
Weimar Berlin: verlag das netz 2012
(143 S.; ISBN 978-3-86892-054-3; 24,90 EUR)
Katja Flämig (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Flämig: Rezension von: Hebenstreit-Müller, Sabine / Müller, Burkhard (Hg.): Beobachten in der Frühpädagogik, Praxis – Forschung – Kamera (mit DVD). Weimar Berlin: verlag das netz 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386892054.html
Katja Flämig: Rezension von: Hebenstreit-Müller, Sabine / Müller, Burkhard (Hg.): Beobachten in der Frühpädagogik, Praxis – Forschung – Kamera (mit DVD). Weimar Berlin: verlag das netz 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386892054.html