Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte gab der frühen Nationenforschung einen bedeutenden Impuls. In der vierten Rede an die deutsche Nation (1808 / 2008) macht er ein wesentliches Merkmal ausfindig, das die Deutschen von migrierten Germanen unterscheide, nämlich die ununterbrochene und reine Ursprache, die sich im Falle der Letzteren nicht habe halten können [1]. Später nimmt Alfred Kirchhoff (1905) die Überlegungen Fichtes auf, um zwei Typen von Nation zu unterscheiden, von denen einem der Bezug zu einem Staat und dem anderen die Kultur wesentlich sei. Frankreich auf der einen Seite und die deutschen Länder und Deutschland auf der anderen Seite fallen für ihn mit diesen Typen zusammen [2]. Diese von Kirchhoff vorgenommene Identifikation ist beispielhaft für Ländervergleiche zwischen Frankreich und Deutschland, die darauf angelegt waren, die Singularität und Differenz der beiden Nationen nachzuweisen. Mittlerweile haben sich die Forschungsziele geändert und die frühen Studien und intellektuellen Äußerungen zur Nation und einzelnen Nationen sind nun ihrerseits zu Gegenständen der Forschung geworden. Historische und sozialwissenschaftliche Ländervergleiche zwischen Deutschland und Frankreich werden nunmehr hinsichtlich der Gründe vorgenommen, die dazu geführt haben, auf der einen Seite die sprachlich-kulturelle Homogenität und auf der anderen Seite das politische Bekenntnis in den Vordergrund zu stellen. Darüber hinaus sind die beiden Länder, wie viele andere auch, von Auswirkungen betroffen, die klassische Vorstellungen von nationaler Singularität und Differenz obsolet werden lassen. Hierzu gehören vor allem die Einflüsse transnationaler Migration und supranationaler politischer Institutionen, die sich aus dem Zusammenschluss von Staaten ergeben.
Diese Auswirkungen werden auch in Nikola Tietzes neuer Studie „Imaginierte Gemeinschaften – Zugehörigkeiten und Kritik in europäischen Einwanderungsgesellschaften“ (2012) am Beispiel von Frankreich und Deutschland erkennbar. Tietze richtet ihre Aufmerksamkeit auf Migrantengruppen in Deutschland und Frankreich, um jeweils spezifische Zugehörigkeitskonstruktionen aufzudecken, die sie in einen supranationalen und postsouverän-nationalen Bezug setzt.
Vor diesem Hintergrund führt Tietze in ihrer Arbeit qualitative Interviews mit Menschen, die sich in Frankreich oder Deutschland lebend als Palästinenser, Muslime oder Kabylen begreifen. In ihrer Untersuchung der Zugehörigkeitskonstruktionen der Befragten ist sie v. a. an Handlungsorientierungen und kritischen Perspektiven hinsichtlich ihrer Lage in der Einwanderungsgesellschaft interessiert. Die Zugehörigkeitskonstruktionen werden vor dem Hintergrund von einerseits normativen und institutionellen Territoriums-, Religions- und Sprachsemantiken europäischer Provenienz und andererseits der Migrations-, Religions- und Sprachpolitik in Deutschland und Frankreich analysiert.
Die Arbeit besteht neben einleitenden und resümierenden Bemerkungen aus zwölf Kapiteln und zwei Exkursen. Tietze zeigt zunächst anhand des Interviewmaterials, dass Gemeinschaft und Verbundenheit in den Zugehörigkeitskonstruktionen vor allem durch Orte und Zeit hervortreten. Sie kann darüber hinaus zeigen, dass die Zugehörigkeitskonstruktionen wenig kohärent sind, vielmehr weisen sie auch heterogene und widersprüchliche Orientierungen auf. Um Handlungsorientierungen, normativen Orientierungen und kritischen Stellungnahmen von Seiten der Befragten im Material nachgehen zu können, entwickelt Tietze die Kategorie „Tätigkeit-Gemeinsamkeit-zu-glauben“. Damit kann sie in Zugehörigkeitskonstruktionen die Handlungsfähigkeit der Befragten aufdecken und das Interviewmaterial im Hinblick darauf untersuchen, wie die Befragten die Sinnvorgaben, die in einem Zusammenhang mit institutionellen Deutungsmustern des Islam, der kabylischen Sprachkultur oder dem palästinensischen Nationalismus stehen, übergehen oder diese kreativ umgestalten. Die Kategorie dient ferner dazu, die Rechtfertigungsstruktur kritischer Stellungnahmen hinsichtlich der Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland und Frankreich in den Zugehörigkeitskonstruktionen zu erarbeiten. Insgesamt legt Tietze auf diese Weise das kritische Potenzial der Zugehörigkeitskonstruktionen offen.
Neben den Interviews werden Dokumente der Europäischen Union und des Europarats im Hinblick auf Territoriums-, Religions- und Sprachsemantiken untersucht. Hier stellt Tietze Folgendes fest: Hinsichtlich des Territoriums deckt sie Unterschiede in den Dokumenten der EU und des Europarats auf, sie erarbeitet aber auch, dass nationales Territorium aus Sicht der europäischen Institutionen sinnstiftend für Identität ist. In der Kategorie Religion bilden sich europäisches Selbstverständnis, Freiheit, Gleichbehandlung und Alterität ab. Ein relevanter Widerspruch in der Sprachkategorie besteht darin, dass zum einen die Gleichwertigkeit der Sprachen mit der Vorrangstellung der Nationalsprachen nicht kompatibel ist. Insgesamt erweisen sich die Semantiken für Territorium, Religion und Sprache auf europäischer Seite mitnichten als einstimmig. Im anschließenden Schritt geht Tietze politischen und rechtlichen Diskursen in Frankreich und Deutschland hinsichtlich der Berücksichtigung der islamischen Religionspraxis sowie der institutionellen Verankerung des Islam nach. Sie kann Widersprüche aufzeigen, die im Zusammenhang mit der institutionellen Verankerung des Islam entstehen. In Deutschland ist beispielsweise zwar die Gleichstellung der islamischen Religionspraxis möglich, jedoch kommen auch Interventionen in die islamische Religionspraxis vor. In einem weiteren Schritt lotet die Autorin die länderspezifischen Sprachpolitiken aus. Sie stellt dabei fest, dass die Anforderungen an Migranten, sich die jeweilige Nationalsprache anzueignen, mit Defizitbewertungen der Herkunftssprachen verbunden sind. Vor dem Hintergrund von EU-Vorgaben konstatiert Tietze, dass sich die nationalen Sprachpolitiken nicht mit der Forderung der EU vertragen, Mehrsprachigkeit zu fördern.
Die Ergebnisse dieser Analyseschritte greift Tietze abschließend auf, um das kritische Potential von Seiten der Befragten gegenüber der Politik zu untersuchen. Sie stellt fest, dass sich eine einheitlich formierte und artikulierte Kritik seitens der Muslime, Kabylen und Palästinenser nicht erkennen lässt. Stattdessen werden Differenzen und Widersprüchlichkeiten sichtbar, die den Rahmen ihrer Zugehörigkeitskonstruktionen aber nicht sprengen. Ferner erkennt Tietze, dass die von den Befragten beanspruchte Alterität in einem Zusammenhang mit deren Orientierung an den europäischen und nationalen Territoriums-, Religions- und Sprachkategorien steht.
Die Zugehörigkeitskonstruktionen zu betrachten, heißt, von den subjektiven Sinnhaftigkeiten auszugehen. In einer qualitativ angelegten Studie, in der mehr als nur die Sicht des Subjekts paraphrasiert wird, dienen die erhobenen Aussagen dazu, dem interaktiven Prozess der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit nachzugehen. Das empirische Material erlaubt, die Handlungsorientierungen im Hinblick auf die Bausteine ihrer Struktur zu untersuchen, die sich ordnen und sortieren lassen. All das leistet Tietze in ihrer Arbeit. Sie bleibt nicht dabei stehen, in ihrem narrativen Interviewmaterial den Inhalt von Zugehörigkeitskonstruktionen zum Vorschein zu bringen, sondern sie rekonstruiert, wie Islam, palästinensischer Nationalismus und kabylische Sprachkultur von den Befragten hinsichtlich ihrer Identität aufgegriffen werden. Das Besondere der Studie besteht darin, dass Tietze in den jeweiligen Konstruktionen von Alterität einen Fundus an Kritik von Seiten der Befragten erarbeitet, die sich auf die nicht widerspruchsfreien Semantiken der europäischen und deutschen und französischen Religions-, Sprach- und Territoriumskategorien bezieht. Auf diese Weise gibt sich zu erkennen, dass die Alterität herstellenden Zugehörigkeitskonstruktionen keine isolierten Artefakte in der europäischen Einwanderungsgesellschaft darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um Spiegelbilder des Islam, der kabylischen Sprachkultur und des palästinensischen Nationalismus. Die Zugehörigkeitskonstruktionen sind weder in sich statisch, da sie sich wandeln und ihrerseits nicht frei von Widersprüchen sind, noch kommen sie ohne die Orientierung an institutionellen Kategorien europäischer und / oder nationaler Provenienz aus. Tietze erarbeitet somit, dass die Zugehörigkeitskonstruktionen nicht „reiner Natur“ sind, sondern sich aus Verschiedenartigem zusammensetzen, wozu rechtsstaatliche Grundsätze und normative Vorgaben gehören, mit denen die Befragten in der europäischen Einwanderungsgesellschaft konfrontiert sind und auf die sich wiederum die Zugehörigkeitskonstruktionen auswirken. Somit ergibt sich, dass die Zugehörigkeitskonstruktionen einen Teil zur Dynamik der europa- und nationalpolitischen Diskurse über die o. g. Semantiken beitragen.
Hier zeigt sich nun, dass Tietze mit „Imaginierte Gemeinschaft“ die Erwartungen an einen klassischen Ländervergleich irritiert: Während nämlich der Analyserahmen solcher Vergleiche zwischen Deutschland und Frankreich mit dem geographischen Raum der beiden Nationen zusammenfällt, so dass nur zwei voneinander getrennte und partikulare Container-Gesellschaften in den Blick genommen werden, geht Tietze in ihrer Arbeit konsequent von den Einwänden gegen den methodologischen Nationalismus aus und berücksichtigt die Verflechtungen zwischen Europa, Deutschland und Frankreich. Es gelingt ihr dabei, und das macht ihre Arbeit für die Interkulturelle Pädagogik interessant, anhand des kritischen Potentials in den Zugehörigkeitskonstruktionen derer, die sich sonst als Referenz für die Herstellung nationaler Einheit durch Abgrenzung eignen, auch die transnationalen Verflechtungen in der europäischen Einwanderungsgesellschaft aufzuzeigen. Tietze leistet somit einen Beitrag dafür, das für den methodologischen Nationalismus charakteristische „Prinzip der reziproken Determination zwischen Staat und Gesellschaft“ [3] infrage zu stellen.
Die Studie verdient nicht nur, aufgrund der zum Vorschein gebrachten Formen und Effekte der Zugehörigkeitskonstruktionen von Migranten von Seiten der Interkulturellen Pädagogik beachtet zu werden. Auch die zum Zweck der Untersuchung von Verflechtungen zwischen europäischen Semantiken und nationaler Staats- und Verwaltungspolitik durchgeführte Auseinandersetzung Tietzes mit europapolitischen und nationalpolitischen Diskursen und Entwicklungen stellt aufschlussreiche Ergebnisse zur Verfügung. Hierzu gehört insbesondere ihre systematische Aufarbeitung des politischen Umgangs mit Mehrsprachigkeit und der islamischen Religionsausübung. Die Rekonstruktion des Entstehens der nicht widerspruchsfreien europäischen und nationalen Blicke auf Mehrsprachigkeit und Religion geht über die entsprechenden Darstellungen in der einführenden Literatur der Interkulturellen Pädagogik hinaus und bietet sich somit zur Ergänzung an. Der historische Rückblick, der neben Widersprüchen auch Umbrüche und Wendungen hervortreten lässt, ermöglicht ein anderes Verständnis der gegenwärtigen Diskurse über Mehrsprachigkeit und islamische Religionsausübung in Europa. Die Studie eignet sich daher, sie in der Hochschullehre mit der einschlägigen pädagogischen Literatur zu Mehrsprachigkeit und Religion zu kombinieren.
[1] Fichte, J. G.: Reden an die deutsche Nation. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2008.
[2] Kirchhoff, A.: Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1905.
[3] Beck, U.: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
Imaginierte Gemeinschaft
Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft
Hamburg: Hamburger Edition 2012
(494 S.; ISBN 978-3-86854-249-3; 38,00 EUR)
Charis Anastasopoulos (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Charis Anastasopoulos: Rezension von: Tietze, Nikola: Imaginierte Gemeinschaft, Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft. Hamburg: Hamburger Edition 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386854249.html
Charis Anastasopoulos: Rezension von: Tietze, Nikola: Imaginierte Gemeinschaft, Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft. Hamburg: Hamburger Edition 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386854249.html