Jonas, Anika und Beeke sind die drei Held*innen des aktuellen Buchs von Andrea Sabisch. Der Grundschüler und die beiden Gymnasiastinnen werden in einem Versuchsszenario mit zwei Bildsequenzen konfrontiert, deren Erfahrung sie zum Ausdruck bringen sollen. Ihr Zugang zu den Bildern kann über den Weg der Beobachtung und Analyse, wie die Autorin schreibt, indirekt eruiert werden. Die im Buch ausführlich dargelegten Fälle stellen in vielerlei Hinsicht konfligierende Beispiele von Bilderfahrung dar. Sie geben trotz ihrer Unterschiedenheit aber Antwort auf dieselbe Frage: „Wie erfahren wir Bilder hinsichtlich der pathischen und performativen Dimension?“ (13) Sabisch geht es darum, herauszufinden, wie Bilder in Erfahrungen aufgenommen, wie mit ihnen umgegangen wird, wie über sie gesprochen, auf sie gezeigt, sie verkörpert oder über sie geschwiegen wird. Mit „Bildwerdung“ findet die Autorin den titelgebenden Ausdruck für einen formativen Prozess, im Zuge dessen Bildrezipient*innen Bilderfahrungen machen, die sich nicht bloß momentan vollziehen, sondern die eine Wirkung hinterlassen. Diese Erfahrungen können zu Veränderungen der Erfahrenden führen und beschreiben hierin ein Bildungsgeschehen. Es ist so das Verhältnis von Bild und Bildung, das in den beiden Studien zum Ge- und Untersuchten wird. Das beispielhafte Vorgehen im empirischen Teil des Buches wird dabei in eine eingängige Methodenreflexion und eine intensive Theoriediskussion eingebettet, die Stimmen aus unterschiedlichen Disziplinen, wie der Erziehungswissenschaft, der Philosophie, der Bildwissenschaft und der Psychoanalyse, ins Gespräch bringt.
Die Wirkung von Bildern und Bilderfahrungen anderer zu untersuchen, ist nicht nur auf Grund der notwendigen (sprachlichen) Vermittlung eine immense Herausforderung. Die Phänomenologie, die für Sabisch im Hintergrund eine wichtige theoretische Funktion übernimmt, betont als „Erfahrungswissenschaft“ laut Edmund Husserl nicht umsonst, dass eine wissenschaftlich verlässliche Analyse von Erfahrung nur aus der Erste-Person-Perspektive vorgenommen werden kann. Nur in der reduzierten Eigenbetrachtung kann die Wissenschaftlerin wissen, dass sie tatsächlich Erfahrung beschreibt. Von hier aus zu einer Beschreibung Erfahrungen anderer zu gelangen, ist freilich kein einfaches Unterfangen und gerade in neuerer Zeit arbeiten sich viele phänomenologienahe empirische Ansätze an dieser Herausforderung ab. Sabischs Antwort auf die Frage, wie die Bilderfahrungen anderer beschreib- und analysierbar werden, kalkuliert als ein möglicher Ansatz mit der Indirektheit. Jonas’, Anikas und Beekes Erfahrungen werden indirekt durch ihre sprachlichen Äußerungen, ihre Gesten, ihre Haltung, ihr Zögern, ihr Schweigen usw. angezeigt. Dass die Erfahrungen nur indirekt greifbar sind, macht für die empirische Arbeit nicht nur eine genaue Beschreibung der Situation notwendig, sondern auch eine besonders diffizile Analyse, die immer wieder den theoretischen Rahmen konsultieren und ihr eigenes Vorgehen hinterfragen muss.
Sabischs Analyse führt zwei konkrete Beispiele von Bildwerdung vor Augen. Bildwerdung beschreibt dabei „den Zwischenbereich eines Verwandelns, eines Wirklich-Werdens im Bild und durch das Bild“ (59). Es bedeutet also einen Prozess, in dem jemand – temporär oder dauerhaft – im Verlauf einer Auseinandersetzung mit Bildern Wirklichkeit erfährt und sich im Zuge dessen verändert, ausgelöst etwa durch Momente der Entfremdung. Diese Art der Auseinandersetzung beschränkt sich laut Sabisch damit nicht auf eine bloß momentane Erfahrung, sondern sie befindet sich in einem „Wechselspiel“ (381) mit der „Subjektbildung“ (ebd.). Bilder zeitigen also Wirkungen mit Bildungsrelevanz. Mit der Betonung des subjektbildenden Potentials von Bildern nimmt die Autorin kritisch eine etablierte Linie in der allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Debatte auf. Die transformatorische Bildungstheorie, die in erster Linie auf Rainer Kokemohr und Hans-Christoph Koller rückbezogen wird, entpuppt sich für eine Analyse der bildenden Wirkung der Bilderfahrung als zu eindimensional. Sabisch knüpft zwar an die Überzeugung an, dass Bildung Transformation ist, schlägt aber eine Korrektur vor, die es erlaubt, Bildwirkungen als Antworten auf ein Geschehen in einem spezifischen medialen Erfahrungsraum zu begreifen. Mit dem „Begriff der Irritation“ (48) will sie Bildung nicht als entwicklungslogische Bewegung fassen, sondern als Veränderung und Verwandlung und grenzt sich damit vom Konzept der Krise ab, die in die Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse mündet. Gerade dort, wo die Autorin auf kaum bis nicht diskutierte Aspekte der Bildungstheorie hinweist, ist das Buch Bildwerdung nicht nur als Fallstudie interessant. Durch das Miteinbeziehen von philosophischen, bildwissenschaftlichen und psychoanalytischen Theorien leistet es einen spannenden Beitrag zur interdisziplinären Theoriebildung, die sich als besonders geeignet zeigt, auf blinde Flecke der Heimdisziplin hinzuweisen.
So subtil und kritisch Sabisch mit den erziehungswissenschaftlichen Ansätzen, die sie zu Rate zieht, umgeht, so affirmativ zeigt sie sich allerdings teils den philosophischen, bildwissenschaftlichen und psychoanalytischen Zugängen gegenüber, die sie als Gegenstimmen einbringt. Bernhard Waldenfels stellt mit seiner responsiven Phänomenologie die für das Projekt zentrale Bezugstheorie. Seine Ausführungen konfrontiert Sabisch kaum mit schwerwiegenden Fragen, die an ihre Grenzen rühren könnten. Waldenfels’ Verständnis von Erfahrung als Antwort auf einen vorgängigen Anspruch bleibt weitgehend frei von Skepsis hinsichtlich dessen Implikationen und Reichweite. Gerade aber in Bezug auf die Bilderfahrung nicht nur über die responsive Antwortweise und Getroffenheit nachzudenken, sondern über die politischen, sozialen, kulturellen und nicht zuletzt bildenden Voraussetzungen, wäre sehr lohnend für eine eingehende Diskussion des Verhältnisses von Bild und Bildung. Hier müsste auch mit Waldenfels kritisch ins Gericht gegangen werden, der – ähnlich wie Kokemohr und Koller – die Erfahrung dem subjektiven Gestaltungsvermögen trotz der Betonung der Responsivität nahezu allmächtig gegenüberstellt.
Dabei zeigen Sabischs so sorgsam analysierte Fälle selbst sehr deutlich, wie wesentlich institutionalisierte Voraussetzungen, Erlernen von Antwortverhalten in einem spezifischen Kontext und auch individuelle wie gemeinschaftliche Variationsmöglichkeiten für die Bilderfahrungen der von ihr in den Blick genommenen Kinder und Jugendlichen sind. Sabischs erster beschriebener Fall von Anika und Beeke macht nicht nur in überzeigender Weise klar, dass Zeigen und Sagen, Verkörperung und Versprachlichung eng miteinander verbunden sind und dass diese Verknüpfung eben da sichtbar wird, wo die oberflächliche Solidität erfassender Worte zu bröckeln beginnt. Sabisch zeigt dies in ihrer Fallbeschreibung, die nicht nur sehr exakt und behutsam, sondern auch lebendig, ja, fast mitreißend ist, und in der nachfolgenden Analyse überzeugend. Der besprochene Fall offenbart aber daneben auch die Wichtigkeit des gemeinschaftlichen Austauschs – sowohl mit Kommiliton*innen als auch mit den anwesenden Forscher*innen – für die Ausgestaltung der eigenen Erfahrung. Die beiden Protagonistinnen antworten nicht für sich auf die Bilder im Rahmen eines Erfahrungsgeschehens, das in vielerlei Hinsicht als irritierend und entzugshaft beschrieben werden kann. Sie entwickeln ihre Antworten im Dialog miteinander und mit den anderen Anwesenden sowie auf Basis ihres jeweiligen Wissens darum, wie man sich antwortend in bestimmten institutionalisierten Settings verhält, wenn man nach den eigenen Erfahrungen gefragt wird. Daneben spielen freilich auch Gewöhnung, Übung und Können eine immense Rolle. Das, was die Erfahrenden bereits wissen im Umgang mit Bildern und Bildsequenzen – das Material, das Sabisch für die Betrachtung zur Verfügung stellt, ist auf jeden Fall als voraussetzungsreich zu bezeichnen, was Blickübungen, Betrachtungsdauer und Einlassen auf Bilddetails betrifft –, kommt in den Beschreibungen und Analysen kaum zur Sprache. Es stellt aber einen Aspekt dar, der wesentlich darüber entscheidet, ob es in der Konfrontation mit Bildern überhaupt zu einer Bildwerdung im oben beschriebenen Sinne kommen kann.
Die Ebene der Vorerfahrung, der bereits gebildeten oder „gewordenen“ Bilderfahrung, und des institutionellen wie auch sozialen Rahmens der Erfahrung bildet in Sabischs Untersuchung der Bildwirkung keinen Schwerpunkt. Sie konzentriert sich auf das sich aktuell ereignende Antwortverhalten, um am Beispiel von Jonas, Anika und Beeke zwei Weisen der Bildwerdung zur Sprache zu bringen. So überzeugend die Darstellung und die Analyse ist und so gut sie in das zu Beginn des Buchs eröffnete interdisziplinäre Theoriesetting eingepasst ist, stellt sich am Ende doch die Frage, ob für ein weitreichendes Auslosten des Verhältnisses von Bild und Bildung nicht neben den Wirkungen auch die mit diesen untrennbar zusammenhängenden Voraussetzungen zur Sprache gebracht werden müssten. Zu solchen Voraussetzungen würden neben einer Übung im vergleichenden und differenzierten Wahrnehmen von Bildern und Bildfolgen etwa auch die Aneignung einer ästhetischen Einstellung zählen. Der Relevanz von Sabischs Studie sowie der Wichtigkeit ihrer einschlägigen Theoriearbeit wie auch ihrer, nicht nur für die erziehungswissenschaftliche Forschung, zentralen Methodenreflexion tut dies allerdings keinen Abbruch. Blickt man nämlich auf die mittlerweile zahlreichen und vielfältigen Untersuchungen, Analysen und Reflexionen über Bildungsgehalt, Lerneffekte und Kompetenzerwerb im Rahmen der Auseinandersetzung mit visuellen Medien und Bildern, zeigt sich mit aller Deutlichkeit die – nicht nur – diskursive Dringlichkeit des Themas, dem sich Bildwerdung verschreibt. Auch bildungspolitisch gesehen ist der Rahmen, in dem die Autorin ihre Fallstudien theorieaffin, weitsichtig und reflektiert einbettet, höchst brisant. Richtlinien wie das Common European Framework of Reference of Visual Literacy bewerten den kompetenten Umgang mit visuellen Medien und Bildern als zentral für die Umsetzung solider und umfassender Bildungsprogramme. Ihr Buch ist ein spannender, aufschlussreicher und ausgesprochen schön zu lesender Beitrag zu einer Debatte, die damit sicherlich noch nicht zum Abschluss gelangt, aber um viele Ideen, Impulse und Materialien bereichert ist.
EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)
Bildwerdung
Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung
MĂĽnchen: kopead Verlag 2018
(408 S.; ISBN 978-3-86736-427-0; 29,80 EUR)
Iris Laner (TĂĽbingen/Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Iris Laner: Rezension von: Sabisch, Andrea: Bildwerdung, Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung. MĂĽnchen: kopead Verlag 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386736427.html
Iris Laner: Rezension von: Sabisch, Andrea: Bildwerdung, Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung. MĂĽnchen: kopead Verlag 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386736427.html