Seit geraumer Zeit genießt die frühe Kindheit eine besondere Konjunktur der Aufmerksamkeit in gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Debatten, dies nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern weit darüber hinaus. Die Herausgeberinnen betonen in diesem Zusammenhang vor allem die Tendenz, die frühe Kindheit verstärkt unter dem Aspekt der Entwicklungsbedeutsamkeit zu thematisieren (7). Dies geschehe vor dem Hintergrund eines Umbaus der europäischen Sozialsysteme nach dem Modell des „sozialinvestiven Sozialstaats“. Kinder werden hier vor allem in ihrer Bedeutung für eine ökonomisch leistungsfähige Gesellschaft adressiert, wenn nicht sogar instrumentalisiert. Investitionen in die Lebensphase der frühen Kindheit scheinen dabei vor allem unter dem Gesichtspunkt eines gesteigerten Outputs an zukünftigem Humankapital als lohnenswert. Hierzu formiere sich, so die Herausgeberinnen, ein Diskurs, an dem verschiedene Akteure mit verschiedenen Ausgangspunkten und Zielen partizipieren. Es sind nicht zuletzt Akteure aus Sozial- und Wirtschaftspolitik, der Entwicklungspsychologie und (Sozial-)pädagogik, die diesen Diskurs mitgestalten. Er lenkt den Blick vor allem auf Fragen der (sozial-)pädagogischen Professionalisierung des Feldes der Bildung, Erziehung und Förderung in der frühen Kindheit und thematisiert in erster Linie wie „gute und richtige“ (8) (sozial-)pädagogische Professionalisierung beschaffen sein sollte. Die jeweiligen Positionierungen in diesem Diskurs seien dabei eng mit bestimmten „Deutungsmustern“ (9) der frühen Kindheit verknüpft.
Der vorliegende Band von Bettina Grubenmann und Mandy Schöne macht es sich vor diesem Hintergrund zur Aufgabe, die „gegenwärtigen dominanten Deutungsmuster der Zugänge zur frühen Kindheit sowie die gegenwärtigen Herausforderungen (sozial-)pädagogischer Professionalisierung kritisch-reflexiv in den Blick zu nehmen“ (9). Er orientiert sich dabei an einer sozialkonstruktivistischen Perspektive, wie sie insbesondere auch von der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung verfolgt wird, auch wenn diese im Band selbst nicht eingehend diskutiert wird. Stattdessen verfolgt der Band eine andere Diskurslinie und knüpft an die in jüngster Zeit verstärkt zu beobachtenden Versuche an, die Sozialpädagogik wieder als eine Ressource der Wissensproduktion im Feld der Frühpädagogik ins Gespräch zu bringen [1]. Am Beginn steht eine kurze Einführung, in der die Herausgeberinnen die aktuellen thematischen und paradigmatischen Tendenzen skizzieren, unter denen Kinder und Kindheit derzeit verhandelt werden. Sie entwickeln dabei zugleich die leitende These des Bandes: Beim „Wissen“ und den vermeintlichen „Wahrheiten“ über Kinder und ihre frühe Kindheit (8) handelt es sich um kontingente gesellschaftliche Konstruktionen, die immer wieder historischen Transformationsprozessen unterliegen.
Der erste Teil des Buches umfasst drei Einzelbeiträge, die gegenwärtig dominante Deutungsmuster zur frühen Kindheit über „theoriegeleitete Analysen“ zu dekonstruieren versuchen. Stefanie Bischoff, Margaret Pardo-Puhlmann, Frederick de Moll und Tanja Betz skizzieren Ergebnisse aus dem sogenannten EDUCARE-Projekt, das sich mit impliziten und expliziten Bildern vom Kind und von „guter“ Kindheit im politischen Diskurs beschäftigt. Sie fragen dabei, wie bestimmte Bilder über das Leben von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen den pädagogischen Zugriff in (früh-)pädagogischen Institutionen beeinflussen. Dabei zeigen sie auf, wie Kinder im politischen Diskurs unter anderem als „Entwicklungswesen“ konzipiert werden. Mit dieser dominanten entwicklungspsychologischen Sicht stehen entsprechende Leitbilder von „guter Kindheit“ in einem direkten Zusammenhang. Sie entfalten ihre argumentative Plausibilität über die Komponenten „Fördern und Lernen“(26), schaffen damit legitimierende Voraussetzungen für eine möglichst frühe pädagogische Intervention und entfachen darüber nicht zuletzt auch eine gesellschaftlich durchschlagende Normalisierungskraft. Bettina Grubenmann widmet sich ebenfalls der Frage nach den dominanten diskursiven Deutungsmustern in der pädagogischen und öffentlichen Diskussion über frühe Kindheit. Sie entfaltet in ihrem Beitrag die These, dass durch die gegenwärtig dominierenden ontologisch-naturalistischen Sichtweisen, die sich am natürlichen Wachstum der Kinder orientierten, Engführungen geschaffen werden, welche den Blick auf gesellschaftlich erzeugte Ungleichheiten verstellen. Demgegenüber diskutiert sie unter anderem, inwiefern der Capability Approach unter gerechtigkeitstheoretischen Aspekten für die frühe Kindheit fruchtbar zu machen wäre. Christian Reutlinger und Bettina Brüschweiler schließlich befassen sich aus der Perspektive der Sozialen Arbeit mit der Bedeutung der Kategorie „Raum“ in der frühen Kindheit. Dabei vertreten die AutorInnen die These, dass die speziellen Entwicklungsanforderungen übersehen werden, die sich aus einer Neustrukturierung des Räumlichen im postindustriellen Kapitalismus ergeben, wenn die Soziale Arbeit mit Blick auf die frühe Kindheit an tradierten dinghaften und absolutistischen Raumvorstellungen festhält wie sie augenblicklich in der (früh-)pädagogischen Diskussion noch vorherrschen.
Der zweite Teil des Bandes rückt in insgesamt sieben Einzelbeiträgen „Praktiken der Professionalität und Professionalisierung“ in der frühen Kindheit in den Mittelpunkt. So nimmt etwa Margarethe Jooß-Weinbach unter professionstheoretischer Perspektive die Praktiken und Handlungslogiken im pädagogischen Feld der Krippe in den Blick. Sie verknüpft dies mit dem Anspruch, die zentralen „Themen“ (100) von pädagogischen Fachkräften zu identifizieren. Als Zugang zur professionstheoretischen Bestimmung der Erzieher-Kind-Interaktion dient dabei das Konzept des Arbeitsbündnisses im Anschluss an Oevermann. Empirisch arbeitet sie für dieses Arbeitsbündnis die Kategorie des „Vertrauens“ als ein konstitutives Kernelement heraus und betont in diesem Zusammenhang dessen Voraussetzungscharakter für die (professionell erfolgreiche) Hilfe zur Bewältigung kindlicher Lebenspraxis. Doris Edelmann, Judith Fehr, Rahel Moll, Margrith Schilter und Marina Wetzel diskutieren Ergebnisse der qualitativ ausgerichteten Längsschnittstudie CANDELA zur Chancengleichheit und Integration durch frühkindliche Bildung und zu den damit verbundenen Herausforderungen für die Professionalisierung des pädagogischen Personals in der Deutschschweiz. Cornelia Jenal und Jadwiga Romanowska wenden sich dem Verhältnis von Frühen Hilfen und Frühförderung zu und diskutieren, wie die Soziale Arbeit das Ziel der Förderung von Chancengleichheit auf der einen und der Kindeswohlsicherung auf der anderen Seite in Bildungsprozessen miteinander verknüpfen kann. Monika Götzö thematisiert in ihrem Beitrag das Aufwachsen in Pflegefamilien. Dabei zeigt sie ausgehend von einer laufenden empirischen Studie, in welcher Weise bestimmte Idealvorstellungen von Familie seitens der Pflegekinder, der Pflegeeltern wie auch der Behörden die kindlichen Erfahrungen mit dem Pflegekinderwesen prägen. Im abschließenden Beitrag konturiert Mandy Schöne den aktuellen Diskurs um eine „kommunale Verantwortungsgemeinschaft“ für das Kind, welcher sich auf der lokalen Ebene derzeit in verstärkten Anstrengungen zur Entwicklung von lokalen „Bildungslandschaften“ sowie „Netzwerken Früher Förderung“ niederschlägt. Mit der Annahme, dass kommunale Sozialräume durch soziale Praktiken reproduziert werden, stellt die Autorin die Widersprüche dieser neuen, nicht lediglich technokratisch-administrativen, sondern gleichsam gouvernementalen Strategie kommunaler Verantwortungsgemeinschaften heraus und verortet sie in einem umfassenderen Prozess der „Transformation des Sozialen“ (218).
Der Band von Bettina Grubenmann und Mandy Schöne befragt gegenwärtig virulente Deutungsmuster von (früher) Kindheit im Hinblick auf ihre Konsequenzen für die Professionalisierung der dieser Lebensphase zugeordneten pädagogischen Institutionen. Der Band leistet dies allerdings nicht in umfassender Weise, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass etwa die Hälfte der Beiträge vor allem auf Ergebnisse empirischer Einzelvorhaben zurückgreift. Insofern hat der Band seine Stärke vor allem in seinem in vielfältiger Hinsicht exemplarischen Charakter. Die Kehrseite dessen ist jedoch eine wenig tiefenscharfe und eher an der Oberfläche bleibende Systematisierung der einzelnen Beiträge, deren Heterogenität durch die knapp geratende Einleitung kaum aufgefangen wird. Dabei hätte besonders der zweite Teil des Sammelbandes mit einer konsequenteren Übernahme der eingangs dargelegten und dann im ersten Teil differenzierter entfalteten Perspektiven auf die Deutungsmuster früher Kindheit zusätzlich an analytischer Schärfe gewinnen können. Genauso hätte auch eine Erweiterung des Bandes um eine explizit historisch ausgerichtete Dekonstruktion dominanter Deutungsmuster früher Kindheit die Kohärenz sicherlich gesteigert.
Trotz dieser Lektüreeindrücke leistet der Band mit seiner kritisch-reflexiv intendierten und sozialkonstruktivistisch ausgerichteten Positionierung einen wichtigen Beitrag zu einer Perspektivenerweiterung und Akzentverschiebung in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatte um die politische Bedeutung und den gesellschaftlichen Wert von Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Hervorzuheben ist hier insbesondere das Anliegen der Herausgeberinnen, die Plausibilisierungsstrategien des gegenwärtig herrschenden Diskurses sowie seine Normalisierungswirkungen im Kontext der aktuellen Ausbau- und Professionalisierungsbestrebungen kritisch zu hinterfragen. Gerade angesichts der internationalen Konjunktur einer sich ausdehnenden pädagogischen Institutionalisierung der frühen Kindheit fordert die hier angebotene Perspektive dazu heraus, die Kontingenz der gesellschaftlich akzeptierten Deutungsmuster früher Kindheit und die daran gebundenen Interventionsrationalitäten nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Band macht in diesem Sinne deutlich, dass die Begründung, wie mit Kindern umgegangen wird, gerade nicht in einer wie auch immer gearteten „Natur des Kindes“ liegt, sondern zutiefst geprägt ist von politischen Interessen und soziokulturell verankerten Vorstellungen, die letztlich darüber entscheiden, was Kindheit vermeintlich ausmacht. Die Aufgabe einer sozialkonstruktivistisch inspirierten und sozialpädagogisch ausgerichteten Forschung könnte vor diesem Hintergrund vor allem darin bestehen, so ließe sich das Anliegen der Herausgeberinnen pointieren, das gesellschaftlich objektivierte und pädagogisch reproduzierte Wissen über Kinder und ihre Kindheit als sich zwar (historisch) wandelnde, aber deswegen nicht weniger wirkmächtige Konstruktion zu entschlüsseln. Die mit diesem Sammelband angeregte kritische Reflexion dominanter Deutungsmuster früher Kindheit und ihrer Verkörperung in professionellen Praktiken zählt zweifellos zu den noch nicht sehr zahlreich vorhandenen ersten Schritten in diese Richtung.
[1] Vgl. Sektion Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit (Hrsg.) (2013): Konsens und Kontroversen. Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit im Dialog. Weinheim und Basel: Beltz Juventa sowie Giener, Anita / Karber, Anke / Wustmann, Cornelia (Hrsg.) (2013): Kindheit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Graz: Leykam-Verlag.
EWR 13 (2014), Nr. 2 (März/April)
Frühe Kindheit im Fokus
Entwicklungen und Herausforderungen (sozial-)pädagogischer Professionalisierung
Berlin: Frank und Timme 2013
(232 S.; ISBN 978-3-86596-465-6; 24,80 EUR)
Nicole Hekel (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Hekel: Rezension von: Grubenmann, Bettina / Schöne, Mandy (Hg.): Frühe Kindheit im Fokus, Entwicklungen und Herausforderungen (sozial-)pädagogischer Professionalisierung. Berlin: Frank und Timme 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386596465.html
Nicole Hekel: Rezension von: Grubenmann, Bettina / Schöne, Mandy (Hg.): Frühe Kindheit im Fokus, Entwicklungen und Herausforderungen (sozial-)pädagogischer Professionalisierung. Berlin: Frank und Timme 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386596465.html