
Es breitet sich also vor den Leser_innen die Fülle des Lebens in der Theorie und der Theorien im Leben aus und man wird nicht umhinkommen, das Projekt einer lebendigen Theorie nicht nur bildungstheoretisch interessant, sondern im Durchgang und Nachvollzug der individuellen Reflexionen auch aus einer pädagogischen Perspektive sympathisch zu finden.
Das bunte Panorama von – in Anlehnung an John Stuart Mill gesprochen – experiments in living theories, welches der Band bietet, hat jedoch auch seine blinden Flecken, die nicht nur den recht westlichen Zuschnitt der Theoriereferenzen betreffen (man vermisst z.B. indische und anderen Philosophien und ihre lebendigen Theorien [3]), sondern auch einen gewissen Überschuss an – den dann doch immer gleichen – Theorien poststrukturalistischen Zuschnitts. So wird dann zwar geradezu leitmotivisch immer wieder auf die Situiertheit, Positioniertheit und Standortgebundenheit des eigenen – nicht frei von Machtverhältnissen zu denkenden und als nicht souverän bestimmten – theoretischen Zugangs zur Welt verwiesen (ohne in der Regel zu explizieren, was ggf. daraus genau folgt oder kritisch zu diskutieren, ob eine solche Sichtweise nicht auch problematische Implikationen haben könnte für Theoriearbeit und wissenschaftliche Diskussionen). Ironischerweise wird dabei aber nicht berücksichtigt, dass eine solche epistemologische und (meta-)theoretische Selbstfestlegung nahelegen könnte, dass poststrukturalistische Vorgaben und ihre Rezeption (die man nur allzu bereitwillig übernimmt, nur selten wie etwa Wicke, Kuhlmann und Wortmann kritisch-distanziert analysiert), selbst ein dominanter Subjektivierungsmodus (Allgemeiner) Erziehungswissenschaftler_innen (bzw. Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen) geworden zu scheinen, der ihre theoretisch vermittelte Selbstdeutung und Forschungspraxis bestimmt. Lebendige Theorie, so scheint es, kann man dann nur noch als (postulierte) Auseinandersetzung mit der eigenen Verwobenheit in Machtformationen denken, ohne theoretische Alternativen – auch der Selbstdeutung und -konstruktion – zu berücksichtigen oder sich auf eine Kontroverse über die so theorie- und identitätspolitisch, letztlich dann eben nur gesetzte, aber kaum hinreichend kritisch reflektierten und begründeten, Theorieschablonen einlassen zu müssen. Bei aller vermeintlichen Reflexivität in puncto Standortgebundenheit und der Gewalt (ohnehin ein wenig sinnvoller Begriff in diesem Kontext), die mit der Auseinandersetzung mit Theorien vermeintlich einhergeht, gerät so nicht in den Blick, dass diese mantrahaft wiederholte Thematisierungsform einer lebendigen Theorie in manchen Fällen nicht nur wenig lebendig erscheint, sondern Sensibilitäten und Selbstdeutungsmustern entgegenkommt, die vielleicht nicht in allen Milieus in gleicher Weise verankert sein dürften. Auch mit Bezug auf die vertretenen disziplinären und methodologischen Hintergründe wäre es zudem interessant gewesen, auch andere Perspektiven auf den Topos einer lebendigen Theorie kennenzulernen. Wie ist es z.B. mit Vertreter_innen der sog. empirischen bzw. Empirischen Bildungsforschung? Was für ein Mensch wird man, wenn man Forschung auf diese Art begreift und organisiert, wie ändert sich der theoretisch vermittelte Blick auf die eigene Lebensführung und Bildungspraxis (vorausgesetzt, dass es hier überhaupt einen theoretischen bzw. empirischen Zusammenhang gibt)? Ließe sich hier überhaupt von lebendiger Theorie sprechen? In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant zu fragen, ob und inwiefern die „Regeln wissenschaftlichen Schreibens“ auch in solchen Wissenschaftsbereichen „Klassenunterschiede […] reproduzieren“ und als „Form symbolischer Gewalt“ (94) benannt werden müssen, in denen man deutlich weniger Gefahr läuft, mit distinguierter Theorie in Berührung zu kommen.
Diese kritischen Anmerkungen sollen in keiner Weise die Leistungen und Vorzüge des auch in ästhetischer Hinsicht gelungenen (Ein-)Bandes aus dem Blick geraten lassen; vielmehr unterstreichen sie, wie wichtig und komplex die in und durch den Band angestoßenen Fragen zum Verhältnis von Theorie und Leben bzw. Wissenschaft und Wissenschaftler_innen sind. Karcher und Rödel haben ein interessantes Buch zusammengestellt, das allen lebendigen Theoretiker_innen da draußen empfohlen werden kann.
[1] zum Topos `Bildung durch Wissenschaft´ im Kontext von Universität: Schlaeger, J. & Tenorth, H.-E. (2020). Bildung durch Wissenschaft. Vom Nutzen forschenden Lernens. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.
[2] Christman, J. (2009). The Politics of Persons. Cambridge: Cambridge University Press. Anzumerken ist außerdem, dass einige der Selbstreflexionen – entgegen der Leitvorgabe der Herausgeber – dann doch als latent narzistische und pathetische Selbststilisierungen gelesen werden können.
[3] hierzu: Gosepath, St. (2020). Die Notwendigkeit globaler Philosophie. In Deutsche Zeitschrift fĂĽr Philosophie, 68 (6), 943-956.