Das vorliegende Buch stellt die Ergebnisse eines vom Land Niedersachsen in Auftrag gegebenen Forschungsprojektes vor, das im Zusammenhang mit den politischen Debatten um Entschädigungen von und Entschuldigungen gegenüber früheren Heimkindern (Runder Tisch Heimerziehung 2010 [1]) vom Landtag beschlossen worden war.
Die Publikation behandelt zunächst Erziehungsvorstellungen der 1950er-70er Jahre (insbesondere in Familie und Schule), Statistiken zur Heimerziehung in Niedersachsen und den Charakter einzelner Heime. Es folgen aus Akten zusammengestellte typische Wege ins Heim und vier exemplarische Lebensgeschichten. Der Heimalltag in seiner festgelegten Struktur, insbesondere Arbeiten in und außerhalb der Heime, Berufsbildung und Strafen werden ausgeführt, sowie medizinische und psychiatrische Betreuung thematisiert. Ein vertiefender Blick wird auch auf die Personalsituation und die Heimaufsicht gelegt.
Das Buch ordnet sich mit diesem Zuschnitt ein in die seit einigen Jahren von verschiedenen Trägern der früheren Heimerziehung in Auftrag gegebenen Studien. Die AutorInnen kommen zu dem Ergebnis, dass es bis Ende der 1970er Jahre in der Heimerziehung häufig zu persönlichkeitsverletzenden „Behandlungsweisen“ kam, dass die damaligen autoritären Erziehungsvorstellungen Gewaltexzesse begünstigten und die Einweisungspraxis problematisch sowie oft durch stigmatisierende Urteile über die Zöglinge gekennzeichnet war.
Die vom Runden Tisch Heimerziehung [1] aufgegriffenen Forschungsergebnisse belegten bereits deutlich die „Verantwortungskette“ öffentlicher und privater Jugendfürsorge, das Einverständnis zwischen Jugendämtern, Jugendpsychiatrien, konfessionellen wie auch nicht-konfessionellen Anstalten und der Öffentlichkeit in Bezug auf die besondere „Behandlung“ „verwahrloster“ Kinder. Sie beschrieben das physische und psychische Nachkriegselend einer Generation, die von Flucht, Hunger und Kriegserlebnissen traumatisiert war, ohne diesen Zustand thematisieren zu können. Auch der gravierende Personalmangel, das negative Menschenbild, das noch aus der Zeit des Nationalsozialismus beeinflusste autoritäre Gehorsamsideal und eine mangelnde Heimaufsicht wurden bisher schon ausführlich thematisiert.
Die Publikation von Kraul, Schumann, Eulzer und Kirchberg fügt diesen Ergebnissen keine neuen Aspekte hinzu, sie bestätigt im Wesentlichen die oben ausgeführten Befunde. Auch fallen kleinere Mängel auf: bei der Analyse der Fachzeitschriften fehlen die konfessionellen Fachzeitschriften (Evangelische Jugendhilfe/Jugendwohl), was angesichts der empirischen Bedeutung der konfessionellen Heimerziehung nicht nachvollziehbar ist. Zudem wird der Schriftleiter von „Unsere Jugend“, Andreas Mehringer, zu einseitig als „Reformpädagoge“ dargestellt (vgl. dazu Babic [2]).
Trotzdem ist das Buch zu empfehlen, da es lesbar und auf 180 Seiten komprimiert die wichtigsten Aspekte des behandelten Themas darstellt, während viele andere der erwähnten – vorwiegend von Historikern verfassten Darstellungen – oft mehrere hundert Seiten umfassen und teilweise Details enthalten, die nur in Bezug auf einzelne Einrichtungen relevant sind. Besondere Stärke entfaltet die Publikation in den Bereichen, in denen eine fundierte und kenntnisreiche juristische Expertise beispielsweise über das „besondere Gewaltverhältnis“ in den Heimen oder über die Entwicklung des Arbeitsschutzes Jugendlicher, bzw. über die Berufs- und Bildungsförderung in der Heimerziehung deutlich wird. Die erziehungswissenschaftliche Handschrift der Studie ist in der Auswertung der Interviews wohltuend herauszulesen, denn hier werden anschaulich einzelne Schicksale vorgestellt. Dabei kommen zwar auch Klagen insbesondere über das Landesjugendheim in Göttingen vor (76ff), in dem sich offenbar eine ähnlich gewaltförmige Hierarchie unter den Jungen fand wie in Freistatt – Freistatt in Niedersachsen war wie Glückstadt in Schleswig-Holstein eine der „Endstationen der Jugendhilfe“, von denen bekannt war, dass es dort härtere Arbeiten, härtere Strafen und weniger Fluchtmöglichkeiten gab. Es waren gefängnisartige Anstalten und Jugendlichen, die sich in anderen Heimen nicht an die Regeln hielten oder häufig wegliefen, wurde offen mit einer Verlegung dorthin gedroht. In diesen Einrichtungen ist es am häufigsten zu Misshandlungen gekommen – auch untereinander, denn die dort erlebten Demütigungen führten zu einer latent aggressiven Grundstimmung [3]. Auch werden die Strafen (besonders gegen Bettnässer) und manche Regeln (Sprechverbote) negativ erinnert. Insgesamt wird aus der Perspektive der ehemals Betroffenen aber auch einiges Positive berichtet: so z.B. über Erziehende, die sich jahrelang kümmerten und wichtige Bezugspersonen wurden. Auch wird erneut deutlich, dass viele Ehemalige im Rückblick das Heim als die bessere Alternative zum Elternhaus sahen, insbesondere was Tagesstruktur und regelmäßige Versorgung anging. Eine tiefgehende Interpretation der Interviews unterbleibt zwar, wie in den meisten anderen Studien auch, allerdings wird mehr als in anderen auf die biographischen Verarbeitungsmuster hingewiesen (vgl. dazu auch Kuhlmann [4]). Daneben gelingt es in einzelnen Kapiteln die Interviews im Sinne von Zeitzeugenschaft über den Alltag mit anderen Quellen zu kombinieren.
Interessant ist, dass auch hier, wie schon in vorherigen Studien, die These von Wensierski [5] widerlegt wird, die frühere Heimerziehung hätte Kinder willkürlich und ohne Grund, allein zu Disziplinierungszwecken aus den Familien gerissen. Anhand der Aktenanalysen wird deutlich, dass die Unterbringungsgründe (wie heute auch) vor allem in Armut und zerrütteten Familienverhältnissen, oft auch in Kindesmisshandlung und Vernachlässigung lagen. Nur in einem Viertel der Fälle lebten die Kinder vor der Heimunterbringung mit beiden, leiblichen und verheirateten Eltern zusammen.
Erneut wird auch die besonders stigmatisierende und wirkmächtige Verurteilung der Kinder und Jugendlichen durch die Psychiatrie deutlich, diesmal in der Person von Walter Gerson, Leiter des Landesjugendheim Göttingens, der wie viele andere in diesem Bereich Beschäftigten, bereits vor 1945 im Sinne von erbbiologischen Vorverurteilungen gegenüber den Kindern geprägt und tätig war.
Die Heimaufsicht wird als eine zahnlose Behörde dargestellt, die zwar auf mangelhafte bauliche und personelle Ausstattung hinweisen konnte, die Forderung nach Änderungen aber aus Kostengründen und aus Gründen der Abhängigkeit von den Heimen wegen Heimplatzmangel nicht durchsetzen konnte. Die Heimaufsicht selbst war chronisch unterbesetzt, teilweise wurden einzelne Heime jahrelang nicht besucht, obwohl dies vorgeschrieben war.
Einen besonderen Blick werfen die AutorInnen auch auf den Wandel weg von autoritären Erziehungsverhältnissen ab Ende der 1960er Jahre, der in ihren Augen bis in die 1980er Jahre andauerte. Sie kommen zu dem Schluss, dass „in der Übergangszeit zu mehr Professionalisierung … die Beharrungskräfte des unzureichend qualifizierten, aber erfahreneren Personals einem raschen Wandel in der Erziehungspraxis entgegen[standen]“ (150). Der Wandel wurde auch dadurch verzögert, dass die Pflegesätze nur langsam anstiegen. In der Nachkriegszeit war die Unterfinanzierung der Heime so gravierend, dass die Träger der niedersächsischen Heime bis 1953 500 Millionen DM Schulden angehäuft hatten, die sie durch Spenden, Stiftungsgelder oder Senkung des Lebensstandards in den Heimen zu kompensieren versuchten (152). Auch die Arbeit der jugendlichen Heimbewohner wird in diesem Zusammenhang gesehen.
Die Studie kommt schließlich zu folgendem Fazit: Die Heime seien geprägt gewesen von Erziehungsvorstellungen wie sie auch in Familie und Schule vorherrschend waren, ebenso geprägt auch von dem Wandel, der sich in dieser Beziehung um 1970 abspielte. Allerdings hätten sich zwei Besonderheiten sehr negativ ausgewirkt: einerseits die Unterfinanzierung und der Personalmangel (was teilweise zusammenhing), andererseits die Wirkungen, die vom Heim als einer „totalen Institution“ (Goffman) ausgingen. Worin die besondere Verantwortung des Landes Niedersachsen als Heim- und Heimaufsichtsträger liegt, wird in der Studie zwar an vielen Stellen deutlich, im Fazit aber nicht mehr explizit aufgegriffen.
Die eingangs von den AutorInnen erklärte Absicht, sie wollten bewusst die Ambivalenz von „Förderung“ und „Verwahrung“ darstellen, Auskunft geben über Chancen und „schwarze Schreckensseiten“ (14), wird ebenfalls nicht mehr hinreichend diskutiert. Insgesamt aber stellt das Buch – wie oben bereits erwähnt – eine gute Einführung in die Problematik der niedersächsischen Heimerziehung nach 1945 dar.
[1] Runder Tisch Heimerziehung (Hrsg.): Abschlussbericht des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“. Berlin: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 2010.
[2] Babic, B.: Alles nur Unkenntnis und Naivität? Vom mitunter immer noch fragwürdigen Umgang mit der NS-Vergangenheit. In: Forum Jugendhilfe, Heft 1/2008, 69-75.
[3] Benad, M. / Schmuhl, H.-W. / Stockhecke, K. (Hrsg.): Endstation Freistatt – Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre, Bethel: Verlag für Regionalgeschichte 2009.
[4] Kuhlmann, C.: „So erzieht man keinen Menschen!“ – Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008.
[5] Wensierski, P.: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2006.
EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)
Zwischen Verwahrung und Förderung
Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975
Opladen / Berlin / Toronto: Budrich Unipress 2012
(221 S.; ISBN 978-3-86388-014-9; 24,90 EUR)
Carola Kuhlmann (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carola Kuhlmann: Rezension von: Kraul, Margret / Schumann, Dirk / Eulzer, Rebecca / Kirchberg, Anne: Zwischen Verwahrung und Förderung, Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich Unipress . In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388014.html
Carola Kuhlmann: Rezension von: Kraul, Margret / Schumann, Dirk / Eulzer, Rebecca / Kirchberg, Anne: Zwischen Verwahrung und Förderung, Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich Unipress . In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388014.html