Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah hat in Deutschland seit 1990 eine immense Aufwertung erfahren. Die einst dominierende VerdrĂ€ngung ist zumindest auf politisch-reprĂ€sentativer Ebene einer Indienstnahme fĂŒr nationale Identifikation gewichen. Wo einst prekĂ€r arbeitende Initiativen an Orten nationalsozialistischer Herrschaft und Vernichtung Gedenken organisierten, sind oft staatliche GedenkstĂ€tten mit reprĂ€sentativem Charakter und entsprechend begangenen Gedenktagen entstanden. Die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen ist auch auf der Ebene des politischen Handelns auf neue Weise zum Credo einer selbstbewussten Nation geworden. Dies lĂ€sst sich auch an der zunehmenden Rechtfertigung politischen Handelns ânicht trotz, sondern wegen Auschwitzâ ablesen. Bereits 1999 begrĂŒndete die rot-grĂŒne Bundesregierung ihre erste Beteiligung an einem Angriffskrieg nach 1945 in Jugoslawien mit der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Verantwortung. "Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz stehen", erklĂ€rte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) damals im Bundestag [1].
Diese VerĂ€nderungen haben sich auch in den Erziehungswissenschaften niedergeschlagen. Rosa Fava zeigt in ihrer jĂŒngst im Metropol-Verlag erschienen Dissertation, dass sich seit Mitte der 1990er Jahre ein erziehungswissen-schaftlicher und pĂ€dagogischer Diskurs darĂŒber entwickelt hat, âwie die Einwanderungsgesellschaft in Deutschland und das Lernen ĂŒber oder aus dem Holocaust beziehungsweise Nationalsozialismus zueinander in Beziehung zu setzen seienâ (9). In ihrer als rassismuskritische Diskursanalyse konzipierten Untersuchung hat Fava zentrale Themen, Topoi und Argumentationsmuster dieses Diskurses herausgearbeitet. Das Interesse gilt vor allem den im Sprechen ĂŒber âMigrantenâ inhĂ€renten Setzungen von Fremdheit und Andersartigkeit als Mechanismen dichotomer IdentitĂ€tskonstruk-tionen. Diese werden, wie die Autorin annimmt, âim Widerspruch zur Intention der Diskursakteur_innen durch spezifische Charakteristika aus dem Diskurs ĂŒber Auschwitz verstĂ€rktâ und zur âVergewisserung der Eigenarten als âDeutscheââ genutzt (ebd.).
Zu Favas Textkorpus gehören theoretisch-konzeptionelle Grundlagen der allgemeinen Didaktik einer âErziehung nach Auschwitzâ, Praxisberichte, empirische Studien und Konzepte fĂŒr die Praxis von Lehrenden und Bildner_innen, die sich weitestgehend mit dem Bildungsauftrag âNationalsozialismusâ in Deutschland befassen. Ihnen gemeinsam ist die Annahme, die Einwanderung nach Deutschland stelle die Erziehung nach Auschwitz vor neue Herausforderungen. Das Material umfasst auch Publikationen mit Einbezug von Eingewanderten oder Nachkommen von Eingewanderten sowie einige ReprĂ€sentationen der âSicht von Migranten und Migrantinnenâ aus den Jahren 1995 bis 2011. Bei der Analyse der jeweiligen Texte hat Fava besonders im Blick, wie Menschen durch die Lehrenden bzw. PĂ€dagoginnen und PĂ€dagogen zu âden Anderenâ gemacht werden.
Im Anschluss an die EinfĂŒhrung widmet Fava sich zunĂ€chst im zweiten Kapitel den theoretischen und methodologischen Grundlagen ihrer Forschung, fĂŒhrt dabei in die Diskurforschung ĂŒber Migranten ein und erlĂ€utert ihre Kategorien einer Diskursanalyse des Rassismus. Im umfangreichen dritten Kapitel wendet sie ihre Werkzeuge an und rekonstruiert konkret den Diskurs ĂŒber die Neuausrichtung der âErziehung nach Auschwitzâ im Einwanderungsland. Sie untersucht dabei diverse Praxisberichte, empirische Studien und Konzepte fĂŒr die Praxis von Lehrenden und Bildner_innen. SchlieĂlich liefert Fava ihre eigene Zusammenfassung und einen knapp gehaltenen Ausblick.
Der Begriff Othering (deutsch etwa: âzu anderen machenâ) beschreibt den Prozess, mit dem aufgrund von tatsĂ€chlichen oder imaginĂ€ren Merkmalen in âEigeneâ und âAndereâ unterteilt wird. Mit der Differenzierung und Distanzierung von der Gruppe der âAnderenâ wird auch immer die NormalitĂ€t der âeigenenâ Gruppe bestĂ€tigt. In dem von Fava untersuchten Diskurs sieht das in der Regel etwa so aus: In Deutschland definiert sich die Mehrheitsgesellschaft darĂŒber, die NS-Verbrechen anzuerkennen und aufzuarbeiten. Zu ihrer Grundlage wird die biologische Herkunft der âTĂ€terâ, durch die â so die implizite Annahme â unweigerlich Interesse an der NS-Geschichte entstehe. Dabei findet eine Homogenisierung statt, durch die beispielsweise jĂŒdische Deutsche und WiderstĂ€ndler_innen und deren Nachfahren ausgeschlossen werden. Zudem werden als Migrant_innen empfundene Menschen zu einer âHerausforderungâ, weil ihnen der familiĂ€re Bezug zum Nationalsozialismus und daher das ânatĂŒrlicheâ Interesse am Nationalsozialismus fehle. Untermalt wird dies hĂ€ufig mit der zitierten Aussage von SchĂŒler_innen âHitler ist euer Problem, nicht unseres!â. Auf dieses âProblemâ mĂŒsse die PĂ€dagogik reagieren. âParadoxerweise, aber gemÀà den Mechanismen der Otheringâ, so Fava zu einem der BeitrĂ€ge, âwird bei Migranten vermisst, was tatsĂ€chlich (auch) bei Deutschen als Defizit bestehtâ (148). Es bleiben also immer die âAnderenâ, die etwas nicht leisten. Fava zeichnet nach, wie das VerhĂ€ltnis zum Nationalsozialismus bei einigen Akteur_innen der Erziehungswissenschaften zum Disziplinierungsmoment wird, andere Antisemitismus als Folge von Einwanderung betrachten und wiederum andere eine âvölkisch fundierte nationale Unterscheidung zwischen den Lernendenâ (343) (re)produzieren. Alternativ wird davon ausgegangen, Migrant_innen könnten sich aufgrund der ihnen zugeschriebenen Erfahrungen mit Krieg, Flucht und Rassismus der Mehrheitsgesellschaft besser in die historische Situation einfĂŒhlen. Einem in den untersuchten Beispielen hĂ€ufig auftauchenden Vorschlag zufolge soll Anerkennung bei Migrant_innen an das Lernen ĂŒber den Nationalsozialismus gekoppelt werden. Gleichzeitig werden Erziehende fast nie als potentielle Migrant_innen gesehen und deshalb aus der Analyse ausgeklammert.
Rosa Fava bringt in ihrer Analyse Diskurse zusammen, die meist bezugsarm oder gar bezugslos nebeneinander stehen: den um eine Erziehung nach Auschwitz bemĂŒhten und einen rassismuskritischen, teils postkolonialen Diskurs. Mit groĂer PrĂ€zision arbeitet sie die oftmals kritische Konstellation dieser Diskurse heraus und zeigt LĂŒcken auf. Mit dieser Kritik trĂ€gt Fava sicherlich nicht nur zu einer Erkenntniserweiterung, sondern auch zu einer Sensibilisierung der an diesem Diskurs beteiligten Akteur_innen vor allem mit Bezug auf die pĂ€dagogische Reflexion der nationalsozialistischen Vergangenheit bei. Durch die starke Fokussierung auf die Kritik an rassistischen Stereotypen entsteht eine Analyse, die dabei helfen kann, eigene Denkmuster und ihren Eingang in die Bildungsarbeit zu hinterfragen. Dabei ist die von Astrid Messerschmidt beschriebene âProblematik der massenhaften Zustimmung und Mitwirkung der Deutschen an der NS-Politikâ (166), die oft verleugnet werde, durchaus bis heute ein gewichtiges Problem in Deutschland. Sowohl das Selbstbild der âdeutsch[en] Gesellschaftâ als erfolgreiche âAufarbeitungsgemeinschaftâ wie auch die formulierte Gefahr, deren Erfolge könnten von als Migrant_innen definierten Menschen in Gefahr gebracht werden, trĂ€gt teils paradoxe ZĂŒge. So werden nicht nur die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Sozialisation vernachlĂ€ssigt, sondern auch die vielen unterschiedlichen familiĂ€ren HintergrĂŒnde in Deutschland, die BezĂŒge zum Nationalsozialismus aufzeigen können. Allein das Leben in einer sogenannten âAufarbeitungsgemeinschaftâ kann wiederum BezĂŒge zwischen allen in ihr Lebenden herstellen.
Fava selbst belĂ€sst es konsequenter Weise bei einer Analyse des genannten Materials. Die Studie wirft allerdings unweigerlich die weiterhin zu diskutierende Frage auf, wo eine PĂ€dagogik ansetzen sollte, die nicht auf nationalen und völkischen Kategorien aufbauen möchte. Eine PrĂ€gung der Lernenden durch diese Kategorien, ihre Internalisierung und auch entsprechende Selbstzuschreibungen bleiben besonders bei einer rassismuskritischen Herangehensweise eklatante Herausforderungen fĂŒr PĂ€dagog_innen. Sie zu ignorieren, Differenzen also einzugemeinden, wĂ€re in der Auswirkung kaum minder fatal als genannte Zuschreibungen. So wichtig die Anerkennung von Differenzen durch Erziehende ist, so schwierig kann der Verzicht auf Homogenisierungen sein, die die Lernenden eventuell mitbringen und internalisiert haben. GĂ€nzlich vermeiden lĂ€sst sie sich vermutlich nie. Will man mit den Lernenden eine gemeinsame Sprache sprechen, die auch oft stark homogenisierende und mitunter rassistische PrĂ€gungen abseits der Lehreinrichtungen berĂŒcksichtigt, muss zunĂ€chst auch mit problematischen Aspekten dieser PrĂ€gungen gearbeitet werden. Fava hinterlĂ€sst jedoch den Eindruck, jegliche Verallgemeinerungen seien zu vermeiden.
DarĂŒber hinaus besteht in Deutschland bezĂŒglich des Umgangs mit dem Nationalsozialismus eine deutliche Kluft zwischen den untersuchten BeitrĂ€gen aus der Erziehungswissenschaft und der pĂ€dagogischen Praxis, dem Regierungsauftrag, der staatlichen Erinnerungspolitik und unterschiedlichen Basisgruppen und Initiativen. Von einem mehrheitlich und dominant vertretenen Selbstbild der Auschwitz anerkennenden âAufarbeitungsgemeinschaftâ ist keinesfalls auszugehen. Einer vor kurzem veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge wollen 58 Prozent der in Deutschland Befragten definitiv den berĂŒhmten âSchlussstrichâ ziehen. Auch ist der VerdrĂ€ngung der BeschĂ€ftigung mit dem NS zugunsten derer an die DDR wie auch das Einreihen der Shoah in die âSchrecken der 21. Jahrhundertsâ Rechnung zu tragen. Offen bleibt in Favas Studie die zu Recht Folgeprojekten ĂŒberlassene Frage, inwieweit familienbiografische HintergrĂŒnde ĂŒberhaupt in NS-PĂ€dagogik einflieĂen sollten. Sie kommt entgegen ihrer ursprĂŒnglichen Erwartungen zu dem Schluss, dass sich durch das Othering im behandelten Diskurs eher die âeigeneâ Gruppe selbst definiert als die der âAnderenâ. Es handelt sich dabei also um Selbstvergewisserung und Projektion im Angesicht vieler Unsicherheiten. Es lieĂe sich also schlussfolgern, dass die diskursmĂ€chtige Gruppe sich an dieser Stelle vielmehr mit den eigenen UnzulĂ€nglichkeiten als mit den vermeintlichen der âAnderenâ beschĂ€ftigen sollte. Der beschriebenen Definition einer Herausforderung der Erziehungswissenschaften setzt Fava also konkret eine ganz andere Herausforderung entgegen: Die einer immanent rassismuskritischen Grundlage gerade in der pĂ€dagogischen Praxis, die sich mit dem Nationalsozialismus beschĂ€ftigt.
[1] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/14/026/14032026.22, zuletzt abgerufen am 17. Juni 2015.
EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)
Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft
Eine rassismuskritische Diskursanalyse
Berlin: Metropol 2015
(397 S.; ISBN 978-3-8633-1202-2; 24,00 EUR)
Johannes Spohr (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Spohr: Rezension von: Fava, Rosa: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft, Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Berlin: Metropol 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386331202.html
Johannes Spohr: Rezension von: Fava, Rosa: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft, Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Berlin: Metropol 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386331202.html