EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Michael Richter
Jungen als Bildungsgewinner
Eine qualitative Studie zu bildungserfolgreichen Jugendlichen in Risikolebenslagen
Opladen: Verlag Barbara Budrich 2021
(251 S.; ISBN 978-3-8474-2529-8; 54,00 EUR)
Jungen als Bildungsgewinner In den letzten Jahrzehnten wurde national wie international in unterschiedlichen Diskursen immer wieder über eine mögliche Bildungsbenachteiligung von Jungen diskutiert [1]. Festgestellt wurde auf Basis statistischer Befunde und der Ergebnisse diverser Schulleistungsuntersuchungen u.a., dass Jungen seltener als Mädchen über sprachliche Basiskompetenzen verfügen und häufiger als Mädchen niedrigqualifizierende Schulformen besuchen. Erklärungs- und Lösungsansätze für diese Bildungsungleichheiten werden seitdem in diversen wissenschaftlichen Disziplinen erarbeitet [2].

Mit der rezensierten Dissertationsstudie schließt Michael Richter (2021) an diese Arbeiten an, nimmt gleichzeitig aber einen Perspektivwechsel vor: Entgegen des dargestellten Mainstreams richtet er explizit den Blick auf diejenigen Jungen, die trotz zunächst widriger Umstände bildungserfolgreich sind und sucht hierfür auf Basis autobiografisch-narrativer Interviews nach Erklärungsansätzen. Mit der vorgenommenen Rekonstruktion handlungsleitender Orientierungen bildungserfolgreicher Jungen und junger Männer leistet Richter damit einen relevanten Forschungsbeitrag, indem er Erkenntnisse zu einer im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen bislang eher vernachlässigten Zielgruppe generiert.

Der Text gliedert sich in sieben Kapitel, die einer klassischen empirischen Struktur folgen. Nach einer thematischen Einführung in Kapitel 2 wird in Kapitel 3 der Forschungsstand dargelegt, bevor in Kapitel 4 eine methodologische und methodische Konturierung der Studie und in Kapitel 5 die Ergebnisdarstellung erfolgt. Den Abschluss bilden die Kapitel 6 und 7, in denen zunächst die Ergebnisse noch einmal zusammenfassend diskutiert und dann Anregungen für Forschung und Praxis formuliert werden. Auf die Inhalte der einzelnen Kapitel wird nachfolgend vertiefend eingegangen.

Der Schwerpunkt des zweiten Kapitels liegt auf einer historischen Betrachtung von Bildung(sdisparitäten). Beginnend mit Reformation und Gegenreformation werden Organisation und Verständnis von Bildung im Zeitverlauf aufgearbeitet, wobei insbesondere auf Geschlechter- und Schichtunterschiede sowie die Bedeutung des Migrationshintergrunds für Bildungsungleichheiten Bezug genommen wird. „Der Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien“ [3] wird als „Kunstfigur der Kumulation mehrdimensionaler Benachteiligung“ (42) der Gegenwart exemplarisch hervorgehoben und Dahrendorfs (1965) „Katholische[r] Arbeitertochter vom Lande“ [4] gegenübergestellt, die bis dahin als zentrales Symbolbild für Mehrfachbenachteiligung galt (38, 42). In diesem Zusammenhang wird betont, dass es sich bei den Menschen mit Migrationshintergrund um eine heterogene Gruppe handelt, die u.a. in Abhängigkeit von Schichtzugehörigkeit und Herkunftsland von Bildungsbenachteiligung unterschiedlich stark betroffen sind. Daneben erfolgt eine Einordnung des Konzepts der Risikolebenslagen (soziale oder finanzielle Risikolage sowie formale Geringqualifizierung der Eltern) und erweiterten Risikolagen (z.B. Erziehungsdefizite, fehlende Zuwendung). Es wird deren potenziell negative Beeinflussung von Entwicklungs- und Bildungsprozessen hervorgehoben und damit der Fokus der vorliegenden Studie auf die gewählte Zielgruppe noch einmal theoretisch begründet.

Kapitel 3 rückt anschließend den Forschungsstand zu Bildungsmisserfolg und Risikolebenslagen in den Mittelpunkt. Dabei werden drei Schwerpunkte gelegt: Wissenschaftliche Erkenntnisse zu der Bedeutung des Geschlechts, der sozioökonomischen Ausstattung des Elternhauses und des Migrationshintergrunds für den Bildungserfolg in formalen und non-formalen Settings werden (weitestgehend nacheinander) aufgearbeitet. Jeweils anschließend werden ausgewählte Erklärungsansätze für die entsprechenden Befunde skizziert und eingeordnet. Dabei werden vorwiegend quantitativ ausgerichtete Studien (insbesondere PISA-Studien und IQB-Bildungstrend) berücksichtigt, während die Ergebnisse qualitativer Studien eher beiläufig eine Erwähnung finden. In Unterkapitel 3.4 werden mit Salutogenese und Resilienz ergänzend zwei Konzepte aus der psychopathologischen und medizinsoziologischen Forschung auf den Bezugsrahmen der rezensierten Studie nachvollziehbar adaptiert.

In Kapitel 4 wird der methodologische und methodische Zugang der Studie vorgestellt. Richter hat zwischen September 2013 und September 2017 insgesamt 15 autobiografisch-narrative Einzelinterviews mit bildungserfolgreichen jungen Menschen geführt, von denen elf für vertiefende Interpretationen ausgewählt und ausgewertet wurden. Es handelte sich um einen explorativ-hypothesengenerierenden Forschungsansatz, bei dem die Erkundung der individuellen Erfahrungsräume im Vordergrund stand. Die Auswertung der Interviews erfolgte mithilfe der Dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack, basierend auf der Wissenssoziologie Karl Mannheims. Am Ende des vierten Kapitels werden die Befragten in Form von Kurzportraits illustrativ vorgestellt (119-128).

Die Ergebnisdarstellung in Kapitel 5 konzentriert sich im Wesentlichen auf vier Idealtypen, die „als abstrahierte Verdichtungen der für die Fälle geleisteten Rekonstruktionen zu verstehen sind“ (129) und typische Orientierungsmuster von Jungen und jungen Männer in der erfolgreichen Bewältigung von Lern- und Bildungsprozessen verdeutlichen sollen. Ihre Beschreibung erfolgt in enger Anlehnung an das Interviewmaterial und wird durch viele Beispielzitate veranschaulicht, sodass die jeweiligen Charakteristika der Typen sehr gut deutlich werden. Als zentral herausgearbeitet werden auf der einen Seite die Erwartungen an Erträge von Bildungserfolg, die entweder von dem Individuum selbst ausgehen (z.B. Wunsch nach Zugehörigkeit) oder von anderen Personen oder Institutionen, z.B. der Kernfamilie, an es herangetragen werden. Als Beispiel für solche externalen Aufträge wird der Erwerb von hochrangigen Bildungszertifikaten wie der Promotion angeführt, die in einem Fall innerfamiliär als Bildungsziel formuliert werden, um einen Bildungsaufstieg zu erreichen. Auf der anderen Seite werden internale und externale prozessinitiierende Impulse als wesentlich benannt. In einem Fall definiert das Subjekt „eigene Projekte, in denen es autonom agiert, Erfolgskriterien festlegt und sich an diesen misst“ (142), während in anderen Fällen Lebensweltwechsel wie z.B. der Umzug vom Land in die Stadt (rural-bildungsfernes versus urban-studentisches Milieu) als externale Motivatoren fungieren (156-157). Der Frage danach, wie es zu der Ausbildung der herausgearbeiteten Orientierungsmuster kommt, wird im abschließenden Unterkapitel in Ansätzen nachgegangen, indem soziogenetische Spuren vorgestellt werden, die sich in dem analysierten empirischen Material angedeutet haben.

In Kapitel 6 erfolgt die Zusammenfassung und Diskussion der empirischen Ergebnisse anhand theoretischer Annahmen und empirischen Befunde aus der Bildungsbenachteiligungsforschung, wobei der Fokus auf die Rolle der Bildungsaspirationen, die Bedeutung von Motivation und die Frage der Gestaltung des Lernsettings gelegt wird. Schließlich wird die Arbeit in Kapitel 7 mit einigen Impulsen für Forschung und Praxis abgerundet; u.a. wird angeregt, die Forschung von Heranwachsenden in Risikolagen für alle Geschlechter auszuweiten. Daneben wird eine ressourcenorientierte Sichtweise und Stärkung der jungen Männer angeraten, was der Autor am Ende durch Praxisvorschläge für die schulische Bildungsarbeit konkretisiert.

Zusammenfassend handelt es sich bei dem rezensierten Buch um eine auf reichhaltigem empirischem Material fußende Studie, der es gelingt, Einblicke in die Orientierungsmuster und Bewältigungsstrategien von Bildungsprozessen junger Männer in Risikolebenslagen und erweiterten Risikolagen zu geben. Ein wenig überrascht, dass – vor dem Hintergrund der expliziten Hervorhebung des Geschlechts in Titel und Darstellung – Konzepte der Frauen- und Geschlechterforschung außen vor gelassen und Geschlechtervorstellungen, -konstruktionen und -bezüge auch empirisch kaum aufgenommen wurden. Das ist sicherlich damit zu begründen, dass der Fokus insgesamt weniger auf der Theorie, sondern insbesondere auf der Präsentation der qualitativen Interviewstudie und ihrer Ergebnisse liegt, im Rahmen derer andere bildungsrelevante Aspekte in den Fokus gerückt wurden. Dabei wird ausgehend von der Perspektive der jungen Männer auf Bildungsprozesse geschaut.

Gerade durch diese individuen- und stärkenzentrierte Aufarbeitung kann die Studie aber überzeugen und bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für Bildungspraxis und -forschung.

[1] Weaver-Hightower, M. (2003). The “Boy Turn” in Research on Gender and Education. Review of Educational Research, 73(4), 471-498.
[2] Budde, J., & Rieske, T. V. (Hrsg.). (2022). Jungen in Bildungskontexten. Männlichkeit, Geschlecht und Pädagogik in Kindheit und Jugend. Opladen.
[3] GeiĂźler, R. (2005). Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn. In P. A. Berger & H. Kahlert (Hrsg.), Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert (S. 71-100). Beltz.
[4] Dahrendorf, R. (1965). Bildung ist BĂĽrgerrecht. Hamburg.
Desiree Daniel-Söltenfuß (Paderborn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Desiree Daniel-SöltenfuĂź: Rezension von: Richter, Michael: Jungen als Bildungsgewinner, Eine qualitative Studie zu bildungserfolgreichen Jugendlichen in Risikolebenslagen. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742529.html