Bereits das Wortspiel im Buchtitel „Alle Geschichten (er)zählen“ macht deutlich, worum es der Autorin Claire Horst geht: Sie möchte auf die Tatsache aufmerksam machen und für pädagogische Bildungsprozesse wirksam werden lassen, dass wir in (migrations)gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen leben, in denen nicht alle Stimmen gleichermaßen Gehör finden und in denen bestimmte Geschichten, Erzählungen, Lebensrealitäten unsichtbar gemacht werden. Bezugnehmend auf den berühmten Vortrag „The Danger of a Single Story“ von Chimamanda Ngozi Adichie konstatiert die Autorin in der Einleitung, dass in medialen und öffentlichen Thematisierungen ein schiefer und verzerrter Blick auf Historie, Menschen, Situationen, Regionen, Religionen etc. geworfen wird. Am Beispiel des antimuslimischen Rassismus und der Kopftuchdebatte kann dies gut beobachtet werden. Die in der Öffentlichkeit kursierenden Fremdbilder von Frauen mit Kopftuch sind von unzulässigen Homogenisierungen und Stigmatisierungen getragen. Sie sind auf die Deutung des Kopftuches als Ausweis der Unterdrückung von Frauen reduziert, womit eine mächtige Single Story erzählt wird und zur maßgeblichen, bestimmenden Geschichte über diese so konstruierte Gruppe gemacht wird.
Das Wortspiel im Buchtitel „alle Geschichten erzählen“, weil sie eben „zählen“, kann entsprechend als Intervention verstanden werden, die diskriminierende Strukturen als Teil von gesellschaftlicher Wirklichkeit benennt und in ihrer Bedeutung für Menschen erkennbar und sichtbar macht. Ziel des Buches ist es, Impulse und praktische Anregungen dafür zu geben, wie Diskriminierung und gesellschaftliche Ungleichheit mit Hilfe kreativen Schreibens in pädagogischen Settings thematisiert, analysiert und auch verändert werden können. Um bestimmende Geschichten und die darin enthaltenen Normalitäten brüchig zu machen, gehören sowohl Geschichten, die aus marginalserten Perspektiven geschrieben werden, als auch Geschichten, die aus einer privilegierten Position heraus erzählt werden, hier mit dem Ziel, in ihnen Einseitigkeiten, Verkürzungen und blinde Flecken aufzuspüren.
Das hier zu besprechende Buch unterteilt sich in fünf Abschnitte. Nachdem in das Thema eingeführt wird, beschreibt die Autorin im Abschnitt mit dem Titel „Antidiskriminierung als Thema politischer Bildungsarbeit“ zunächst Diskriminierungsverhältnisse und ihre unterschiedlichen Spielarten als gesellschaftliche Ausgangslage, in deren Licht die nachfolgend vorgestellten pädagogischen Ansätze und Übungen zu lesen sind. Die Autorin distanziert sich von der verbreiteten Sicht auf Diskriminierung als offensichtliche und unangemessene Randerscheinung, die auf individueller Ebene mithilfe von Skandalisierungen und Schulzuschreibungen thematisiert wird. Vielmehr fasst sie Diskriminierungen als ein gesamtgesellschaftliches Problem der Ungleichheit auf, welches uns alle betrifft – wenn auch in unterschiedlicher Weise, da Diskriminierungsprozesse zwischen diskriminierten und diskriminierenden Positionen verlaufen. Diskriminierung bedeutet eine alltäglich erfahrene Gefahr, die den Alltag von diskriminierten Personen massiv belastet und Verletzungen verursacht. Über die Einführung in das Konzept der Intersektionalität stellt die Autorin Diskriminierungen als mehrschichtige Hierarchisierungen heraus und resümiert, dass Diskriminierungen immer in Abhängigkeit zu sozialen Kontexten zu betrachten sind, weshalb Menschen in einer Situation mächtig und in einer anderen ohnmächtig sein können. Der dritte Abschnitt bildet unterschiedliche programmatische Handlungskonzepte für die politische Bildungsarbeit ab. Neben geschlechterreflektierenden Ansätzen werden dabei antirassistische Ansätze mit Hinweisen auf Rassismuskritik, Social Justice Education und den Anti-Bias-Ansatz betrachtet. Dem vierten Abschnitt „kreatives Schreiben als emanzipativer Ansatz“, in dem herausgestellt wird, dass Schreiben ein Privileg ist, weil es ein gesellschaftskritisches Widerstandpotenzial birgt, folgt im fünften Abschnitt „Übungssammlung“ die Vorstellung von insgesamt 55 Schreibübungen.
Abgerundet ist das 175 Seiten umfassende Buch mit einem Literaturverzeichnis, dem ein Anhang und Quellenverzeichnis folgt. Eine Besonderheit im Aufbau des Buches fällt rasch ins Auge: Am Ende eines jeden Abschnittes finden sich Interviews mit Personen, die in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit in pädagogischer Funktion tätig sind und / oder deren Arbeit an der Schnittstelle zwischen künstlerischer, politischer und schreibpädagogischer Theorie und Praxis im Bereich der Antidiskriminierung changiert. Zu nennen sind hier: Stefanie-Lahya Aukongo, Maren Enders, Mutlu Ergün-Hamaz, Elisabeth R. Hager, Ninia LaGrande, Katinka Kraft und Jayrôme Robinet.
Da das Buch nicht den Anspruch stellt, eine Aufarbeitung grundlagentheoretischer Ansätze vorzulegen, ist es nachvollziehbar, dass die theoretischen Hintergründe zu gesellschaftlichen Diskriminierungsverhältnissen nicht in aller Breite dargestellt werden. Dennoch werden über die Einführung grundlegender Begriffe wie z.B. „Intersektionalität“ (21), „Dominanzkultur“ (24), „Privilegien“ (20), „Kultur der Zweigeschlechtlichkeit“ (33) etc. wichtige Fachdiskussionen in Wissenschaft aufgenommen und somit eine solide theoretische Tiefe für die praktische Arbeit erreicht. Positiv hervorzuheben sind die didaktisch geschickt aufgebauten Fragen im theoretischen Teil des Buches, die zur Selbstreflexion einladen und mit denen es möglich ist, über die Gestaltung der eigenen Bildungspraxis in Diskriminierungsverhältnissen nachzudenken sowie die eigene Verstrickung in dieselbe reflektierend nachzuvollziehen.
Das Buch bietet eine facettenreiche Sammlung methodischer Vorschläge zum kreativen Schreiben. Die Übungen reichen von diskriminierungskritischen Schreibübungen („Weißmalerei, 123“) bis hin zu allgemeinen, themenoffenen Einstiegsübungen („Freewriting“, 90) und Abschlussübungen („stille Diskussion“, 143). Dazu kommen einige Klassiker aus der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit („Geschichte meines Namens“, 94; „Wie im richtigen Leben“, 112). Es findet sich für jede Übung eine klar formulierte Anleitung mit Ziel, thematischem Fokus, Ablauf, Zeitbedarf, benötigten Materialien und räumlichen Vorrausetzungen. Als hilfreich betrachte ich die Hinweise für die Anleitung, die insbesondere für Dozierende mit wenig methodischen Erfahrungen geeignet sind und ihnen den Einstieg in die diskriminierungskritische Bildungsarbeit deutlich erleichtern können. Angesichts komplexer gruppendynamischer Interaktionsprozesse in der Beschäftigung mit Rassismus und der Tatsache, dass diese eine der zentralen Herausforderungen für die rassismuskritische Bildung in Gruppensettings ist – da unterschiedliche Vorkenntnisse und Erfahrungen im Zusammenhang mit Rassismus und ihrer Kritik vorliegen – hätte dieser Aspekt etwas ausführlicher ausfallen können.
Gerade deshalb, weil die Übungssammlung als das „Herz des Buches“ (11) eingeführt wird, hätte ich eine systematische Übersicht aller Übungen nach einem detaillierten Raster zur schnellen Orientierung als hilfreich empfunden. Zur besseren Strukturierung und Handhabbarkeit der Übungen hätten auch farbliche Markierungen, Bildmaterial und/oder die Verwendung von Piktogrammen beigetragen. Gewünscht hätte ich mir auch exemplarische Fallbeispiele aus der Praxis, die ausgewählte Übungen und insbesondere die Ergebnisse, die mit den Übungen erzielt werden können, anschaulicher verdeutlichen.
Eine große Stärke des Buches stellen die äußerst lesenswerten Interviews mit erfahrenen, in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit Tätigen dar. Sie vermitteln über die theoretischen Impulse hinausgehende, wertvolle Einsichten in die Erfahrungen und pädagogischen Herausforderungen im Bereich der Diskriminierungskritik und lassen die bisherigen Ausführungen um das komplexe Thema zu gesellschaftlichen Diskriminierungsverhältnissen lebendig und konkret werden. In den Interviews werden wichtige Fragen aus der Perspektive der Trainer*innen aufgeworfen, die zum Weiterdenken anregen, so z.B., wie auf Widerstände der Teilnehmenden in der Auseinandersetzung mit Rassismus reagiert werden kann (52) oder inwieweit sich Trainer*innen in ihrer Bildungsarbeit um „kritisches Vorankommen“ (14) der Teilnehmenden kümmern möchten / sollen, die privilegierter sind als sie selbst. Sie zeigen zweierlei auf: Zum einen, dass die Beschäftigung mit eigenem Rassismus ein intensiver und auch schmerzhafter Bildungsprozess sein kann, welcher mit Abwehr und / oder Verdrängung zusammenhängt. Zum anderen, dass die pädagogische Beziehungsdynamik im Bereich der Diskriminierungsarbeit auch immer von soziostrukturellen Machtunterschieden durchzogen ist / bleibt. Daran weiterzudenken stellt eine neue Herausforderung für die Theoriebildung und Praxis im Hinblick auf pädagogische Professionalisierungsprozesse in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit da
Das Buch besticht durch die geschickte Verknüpfung der Themen um Diskriminierungsverhältnisse mit Methoden des kreativen Schreibens. Insgesamt ist es ein empfehlenswertes Buch für erfahrene und weniger erfahrene Akteur*innen in der (außer)schulischen Jugendarbeit und Erwachsenenbildung (z.B. Lehrer*innen-Bildung). Sie finden hier zahlreiche praxisnahe Impulse, die geeignet erscheinen, Anlässe für die Auseinandersetzung mit Macht-, Privilegierungs- und Diskriminierungsverhältnissen zu schaffen und ein diskriminierungskritisches Bewusstsein zu wecken, um die herrschenden Verhältnisse einer Kritik zu unterziehen.
EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)
Alle Geschichten (er)zählen – Aktivierendes kreatives Schreiben gegen Diskriminierung
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2017
(175 S.; ISBN 978-3-8474-2110-8; 19,90 EUR)
Dr.in Anna Aleksandra Wojciechowicz (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dr.in Anna Aleksandra Wojciechowicz: Rezension von: Horst, Claire: Alle Geschichten (er)zählen – Aktivierendes kreatives Schreiben gegen Diskriminierung. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742110.html
Dr.in Anna Aleksandra Wojciechowicz: Rezension von: Horst, Claire: Alle Geschichten (er)zählen – Aktivierendes kreatives Schreiben gegen Diskriminierung. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742110.html