Seit den 1990er Jahren wird über die Interdependenz sozialer Kategorien und deren wechselseitige Verwiesenheit aufeinander diskutiert. In diesem Anspruch formulieren auch die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes, Karin Bräu und Christine Schlickum, das Anliegen des Bandes, eine Einführung und einen Überblick (11) in Konzepte und Untersuchungen zu geben, die sich mit der Hervorbringung von Differenz in der Schule befassen. Ziel ist eine Auseinandersetzung mit der sozialen Konstruktion von Differenz sowie der Hervorbringung von Sensibilität und Reflexivität. Dabei geht es auch um die schulischen und unterrichtlichen Regeln, die „Praktiken“ [1] und interaktiven Prozesse, die Differenz (re-)produzieren. Ziel des Bandes ist es, Konsequenzen für die professionelle Arbeit in der Schule aufzuzeigen. Der Band ist in drei Teile aufgeteilt, die sich nach der Einführung (I) mit der Hervorbringung schulischer Ordnung (II) und der Herstellung von Differenz (III) befassen. Der dritte Teil (III) behandelt unterschiedliche Differenzkategorien (Migration, Geschlecht, Behinderung und soziale Herkunft) und geht abschließend auf das Thema Intersektionalität – Interdependenz ein. Da es aufgrund der Vielzahl der versammelten Beiträge kaum möglich ist, jeden einzelnen ausführlich zu besprechen, werden hier einige Schwerpunktsetzungen vorgenommen und manche Titel ausführlicher behandelt als andere.
Der Einführungsbeitrag von Bräu versucht das Feld schulischer Differenzierung im Spannungsfeld der Hervorbringung von Leistungsdifferenz und sozialer Differenz zu fassen. Verknappt führt die Verfasserin in theoretische Grundlagen des Sozialkonstruktivismus und „zentrale Begriffe/Konzepte [der Differenzierung] mit Bezug auf Schule und Unterricht“ (22) ein. Der Beitrag spiegelt die Schwierigkeit der Bündelung des weit aufgespannten Feldes der Hervorbringung von Leistungsdifferenz und von sozialer Differenz in schulischen Zusammenhängen wieder. Er bleibt indes etwas unentschieden zwischen Analyse einer schulischen Situation, die filmisches Material aus dem Film Alemanya zitiert (ohne indes die Fiktionalität der Szene in Rechnung zu stellen und damit auf die interpretative Leistung des Filmes einzugehen) und grundlagentheoretischer Auseinandersetzung mit den hier zentral gestellten theoretischen Konzepten. Instruktiv lesen sich mit Blick auf den ersten Teil die Artikel von Michael Meier und Uwe Gellert. Der Beitrag von Meier referiert eine qualitative Längsschnittstudie zu Praktiken des Schulerfolgs. Ziel seiner Studie war eine Antwort auf die Frage zu finden, „was [...] Schüler*innen praktisch tun [müssen], um schulisch erfolgreich zu sein“ (65). Materialreich, leider zuweilen auf Kosten der Interpretation, zeigt Meier wie sich die Anpassung einer leistungsorientierten und in der Grundschule dadurch exponierten Schülerin im Gymnasium als Prozess vollzieht und wie schließlich eine harmonische Passung zur gymnasialen Schulkultur erreicht wird. Der Beitrag von Uwe Gellert befasst sich mit „Leistungskonstruktion im Mathematikunterricht“. Der Autor stellt eine vergleichende Untersuchung vor, an der sich schwedische, kanadische, spanische und deutsche Schulen beteiligt haben. In seinen materialreichen und nachvollziehbaren Interpretationen kann er darstellen, dass die Unterordnung der Instruktion unter die Regulation des Verhaltens für involvierte Schüler_innen die Entschlüsselung des Unterrichtscodes erschwert. Damit ist dies ein gelungener Beitrag zur Frage, wie Strukturen situationsstrukturierend wirken und wie diese Strukturen gleichzeitig hervorgebracht werden [2]. Zugleich informiert der Beitrag darüber, wie besondere Praxen der Hervorbringung auf allgemeine Konstituierungsbedingungen schulischen Umgangs mit Leistung stoßen.
Im Band schließt nun ein Teil zur „Herstellung von Differenz“ (Teil III) an. Hier ist wiederum ein allgemeiner Artikel vorgeschaltet, der sich von der Struktur her eher als Einführung in den Gesamtzusammenhang des Buches liest. Jürgen Budde setzt sich darin mit dem Thema auseinander, wie Heterogenität und Homogenität im Spektrum von Gleichheit und Differenz im schulischen Feld konstruiert werden. Insbesondere die Ausführung zum Topos „zunehmende Heterogenität“ (96) ist in diesem Zusammenhang überzeugend, weil sie den theoretischen Gehalt des Begriffes prüfen. Sie kommen zum Ergebnis, dass der Begriff theoretisch und empirisch unzureichend ist. Dies liegt in der vielfältigen, ja „schillernden“ (101) Verwendung des Heterogenitätsbegriffes. So erscheint er einerseits als pädagogische Gestaltungsaufforderung, die aus etwas Unbestimmtem etwas Bestimmtes und Bearbeitbares macht – also Gewissheit verspricht; andererseits zeigt sich in dem Begriff, dass durch seine Verwendung die Verantwortung jenen zugewiesen wird, die die Heterogenität verursachen.
Anschließend an den Artikel werden unterschiedliche Differenzkategorien eingeführt, die thematische Abschnitte markieren: Migrationshintergrund, Geschlecht, Behinderung und soziale Herkunft. Die Benennung der Differenzkategorien verweist auf ein architektonisches Problem des Bandes, das aus einem theoretischen Dilemma rührt. Die Differenzen, die hier analysiert werden sollen, werden durch die Herausgeberinnen selbst wieder reproduziert. Dabei vermisst man einerseits, dass konsistent in der Sprache der Hervorbringung geschrieben wird (doing ethnicity/race, doing gender, doing class, doing disability), andererseits fehlt eine kritische Reflexion der Begriffe. Dass hier z.B. der Begriff „Migrationshintergrund“ übernommen wird, überrascht, entbirgt er doch lediglich die Sicht der Mehrheitsgesellschaft auf eine konstruierte Minderheit, ohne dass der analytische Gehalt des Begriffes klar würde. Die Artikel, die im dritten Kapitel im Abschnitt „Migrationshintergrund“ versammelt sind, mögen sich folglich nicht recht durchringen, den Leitbegriff, unter den sie subsummiert werden, bruchlos zu übernehmen, geschweige denn zu erklären. Paul Mecheril und Saphira Shure zeigen vielmehr am Begriff des „Seiteneinsteigers“ die Hervorbringungspraxis von „othering“. Thomas Geier verwendet in seiner Analyse Interkulturellen Unterrichts den Begriff „doing ethnicity“. Yaliz Akbaba verwendet den Begriff zwar, kritisiert ihn allerdings in einer ähnlichen Figur, wie dies schon bei Franz Hamburger und Eva Stauf [3] 2009 gemacht wurde: es handelt sich um einen mehrheitsgesellschaftlichen Etikettierungsbegriff, der dominant zuschreibt, wer unter Migrationshintergrund zuzurechnen ist, wer nicht. Auch wenn sich hier eine leichte Inkonsistenz in der Übernahme der Kategorie und ihrer Verwendung zur Beschreibung empirischer Erkenntnisse findet, so zeigt ihre Analyse von Lehrer_innen „mit Migrationshintergrund“ deutlich, dass „othering“ und „doing difference“ auch im Lehrer_innenzimmer eine Rolle spielen.
Im Teilkapitel zu Geschlecht findet eine sehr instruktive Einführung in „Doing und Undoing Gender in der Schule“ durch Hannelore Faulstich-Wieland statt. Die drei folgenden Artikel von Jürgen Budde, Andrea Menge-Sonneck sowie Alexander Krätzig und Markus Prechtl kommen zu ähnlichen Befunden wie Faulstich Wieland: Geschlecht müsse als relationale Kategorie im Verhältnis zu anderen Kategorien gedacht werden. Eine dekonstruktivistische Perspektive auf Geschlecht und Begehren im Schulalltag nehmen Helene Decke-Cornill und Bettina Kleiner ein. Dabei gehen sie von der Kritik Judith Butlers an konstruktivistischen Ideen aus, da Subjektivität in ihren normativen Bezügen nicht nur hervorgebracht wird, sondern die normativen Bezüge zugleich widerständige Handlungsfähigkeit mobilisiere (209). Die Verfasserinnen zeigen, wie sich für Schüler_innen heteronormative Anrufungen in schulischen Inszenierungen vollziehen und Möglichkeitsräume jugendlich-geschlechtliche Orientierungen einschränken. Dies ist Grundlage der Kritik von Decke-Cornill und Kleiner an der heteronormativen Verfasstheit von Schule insgesamt.
Im Themenfeld Behinderung geht Tanja Sturm auf die „Herstellung und Bearbeitung von Differenz im inklusiven Unterricht“ ein. Sie arbeitet heraus, dass Herstellung und Bearbeitung von Differenzen im Unterricht eng verzahnt sind. Dabei ist besonders interessant, dass die Verfasserin sehr genau zwischen dem sonderpädagogischen Inklusionsdiskurs, der deutlich auf Behinderung fokussiert, und der erziehungswissenschaftlichen weiteren Thematisierung der Dialektik von Inklusion und Exklusion differenziert. So bringt sie das Thema als besonderes und allgemeines zur Geltung, was ein außerordentlicher Gewinn für den Band ist.
Ähnlich gelingt es im Abschnitt zu sozialer Herkunft Thorsten Hertel und Nicolle Pfaff einschlägige Studien zu Bildungsungleichheit und methodologische Grundlagen der Untersuchung zur Hervorbringung sozialer Ungleichheit in einen allgemeineren Diskurs zum Thema Differenz einzubetten.
Im Teilkapitel Intersektionalität – Interdependenz formuliert Katharina Walgenbach schließlich die These, dass Differenzen in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden müssen (291). Ihr Beitrag ist eine fundierte Reflexion darüber, welche Begrenzungen der Intersektionalitätsansatz schulisch erfährt.
Der Band versammelt insgesamt einige instruktive und reflexive Beiträge zum Thema Differenzierung und Differenzen. Der Blick auf die Hervorbringung fokussiert auf soziale Praxis, was leider an vielen Stellen thematisch auf Ethnographie verengt wird. Diese Engführung vermag nicht über die etwas diffuse Architektonik des Bandes hinwegzutäuschen, denn hier stehen weniger die Dimensionen der Hervorbringungen als vielmehr die Zuschreibungspraxen im Vordergrund, wie am Beispiel des Begriffes „Migrationshintergrund“ deutlich gemacht wurde. Dennoch gelingt den Herausgeberinnen eine interessante und nahbare Einführung in ethnographische Zugänge zu den fokussierten Forschungsfeldern und theoretischen Rahmungen, die sicherlich viele Anknüpfungspunkte, insbesondere für Personen liefert, die sich in das komplexe Feld schulischer Differenzierung und der Hervorbringung von Differenz in der Schule einarbeiten.
[1] Der Begriff der „Praktiken“ zieht sich durch das Buch. Diese Ausdrucksweise bezieht sich auf eine Übersetzungsleistung, die auch Reckwitz benutzt. Ders. (2008): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. In: Zeitschrift für Soziologie 2003, 32 (4), 282–301. Die englische Auseinandersetzung mit Praxis als „Theory of practice“ (Schatzki) wird damit in eine Rede von Praktiken übersetzt. Dies setzt sich scheinbar vom Begriff der „Praxis“ ab, wobei nicht ganz klar ist, warum dies geschieht, denn im angloamerikanischen Sprachgebrauch heißt ja practice auch Praxis und beide Begriffe schließen Ausübungsweisen und Anwendungsweisen ein.
[2] Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.
[3] Hamburger, F. / Stauf, E.: „Migrationshintergrund“ zwischen Statistik und Stigma. In: Diehm, I. / Gomolla, M. / Kunz, T. / Özoguz, A. / Tillmann, K.-J. / Walther, C. / Weber, M. (Hg.): SCHÜLER. Wissen für Lehrer 2009, 30–31.
EWR 15 (2016), Nr. 6 (November/Dezember)
Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht
Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen
Opladen: Barbara Budrich 2015
(322 S.; ISBN 978-3-8474-0689-1; 39,90 EUR)
Merle Hummrich (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Merle Hummrich: Rezension von: Bräu, Karin / (Hrsg.), Christine Schlickum (Hg.): Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht, Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen. Opladen: Barbara Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 6 (Veröffentlicht am 29.11.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740689.html
Merle Hummrich: Rezension von: Bräu, Karin / (Hrsg.), Christine Schlickum (Hg.): Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht, Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen. Opladen: Barbara Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 6 (Veröffentlicht am 29.11.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740689.html