EWR 18 (2019), Nr. 5 (November/Dezember)

Ǐnci Dirim / Anke Wegner (Hrsg.)
Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF_DaZ*
Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich 2018
(462 Seiten; ISBN 978-3-8474-0558-0; 49,90 EUR)
Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF_DaZ* Der zweite Herausgeberband der Reihe „Mehrsprachigkeit und Bildung“ von Ǐnci Dirim und Anke Wegener betrachtet die Verortung von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache. Zielgruppe des Bandes sind „Wissenschaftler_innen sämtlicher Qualifikationsstufen sowie Lehrende in der (Erwachsenen)Bildung im Bereich DaF, DaZ, Erziehungswissenschaft, der Germanistik und verwandten Gebieten“ (13). In vier Abschnitten mit 19 Beiträgen von 28 Autor/innen werden Denkanstöße und Irritationen zu Kontexten gegeben, in denen Deutsch aus diversen Gründen zieldifferent gelernt wird. Dabei wird reflexiv die „migrationspolitisch bedeutsame[n] Regulative“ (11) Deutsch einbezogen, um „Zu- und Festschreibungen […] für spezifische Bildungsangebote“ (10) in Forschung und Didaktik zu nutzen oder sich bewusst davon zu distanzieren. Ãœbergeordnet bietet sich eine Positionierung zu „intersektionalen Diskriminierungs- und Herrschaftsverhältnissen im migrationsbezogenen pädagogischen Forschungsfeld“ (14f.), zur intensiven Auseinandersetzung mit den Oppositionen eigen und fremd oder wir und andere an.

Einführend zeigt Claus Melter an drei historischen Beispielen, wie unter dem Deckmantel von Missionierung und Zivilisierung die „Herrschaft Ausübenden Personen mit Migrationshintergrund [waren, die] Bildungspraxen und -institutionen weitgehend zerstörten oder wegnahmen sowie in andere Bildungsverhältnisse in geschlechtsspezifischer Weise hineinzwangen“ (32). Dies irritiert und öffnet den Blick für eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Spracherwerb des Deutschen.

Im ersten Kapitel werden fachgeschichtliche Entwicklungen in drei Artikeln (re-)konstruiert. Marina Adams zeigt anhand des praxeologischen Ursprungs des Faches Deutsch als Fremd-/Zweitsprache einerseits, dass dieses incoming students (Fach-)Sprachlichkeit und Integration ermöglichen sollte, und andererseits einen Nachholbedarf an Mehrfachperspektivierung und Metablick in der eigenen Wissenschaftsgeschichtsschreibung aufweist, wobei soziale Rahmenbedingungen und inhärente Professionalisierungsprozesse in der Forschung und Methodik zu reflektieren sind. Claus Altmayer zeigt normative Grundsätze des Faches mit anerkanntem akademischem Profil, mit starkem Aufschwung an empirischer Forschung und meist kultur-/literaturwissenschaftlichem Verständnis landeskundlicher Themen, wobei eine reflexive Landeskunde mit Bezug auf Habermas als ein „Umparken im Kopf“ (78) und als in aktuelle soziale Praxen eingebettete Bildungsaufgabe zu verstehen ist. Zu einer geforderten wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion verhelfen „emanzipatorische[n] Interessen verpflichtete […] empirisch-analytische […], historisch-hermeneutische […] bzw. kritisch-reflexive […] Wissenschaften“ (82). Anja Ballis, Nazli Hodaie, Serife Sanli und Rebecca Schuler zeigen anhand der Unterscheidung DaM, DaZ und DaF, dass „die Begriffe, die wir nutzen, die Welt prägen, in der wir leben“ (93). Unter Einbezug des Faches Deutsch als Erstsprache wird deutlich, wie sich Globalisierung und Migration in der Lehramtsausbildung in einer „Vielstimmigkeit des Diskurses“ (89) widerspiegeln. Eine geforderte „Ausdifferenzierung der Definitionen der Erwerbskontexte […], Differenzmerkmale, über welche Zugehörigkeiten verhandelt werden“ (96) ermöglicht, dass gleichberechtigt beachtete Sprachbiographien eine Teilhabe aller unterstützen.

Positionen zu zentralen Begriffen im zweiten Kapitel werden in drei programmatischen Beiträgen dargelegt. Michael Dobstadt möchte in einem „Fach in der Schwebe“ (121) das Gründungsnarrativ fremd „subversiv“ verschieben. „Fremd“ könnte als „im Sinne der der Sprache eingeschriebenen Fremdheit“ (122) verstanden werden. Die Identität des Faches ist dabei „offen, flexibel, dynamisch und im Fluss“ (121). Magnus Frank dekonstruiert den Begriff „Sprachsensibilität“ als „Praxis, Fähigkeit, System oder Handlung (132)“ und nutzt ihn als „interessante Kategorie, um über Habitualisierungen und Subjektivierungen […] nachzudenken und Schule als Raum von Verletzbarkeit zu begreifen“ (137), in dem Lehrkräfte vorhandene Sprachformen „geschickter“ (137) einbinden sollten. Im dritten Artikel zeigen Anja Wildemann, Lena Bien-Miller und Muhammed Akbulut bei in Deutschland lebenden Kindern „statistisch signifikante Differenzen in der Sprachbeherrschung zugunsten des Deutschen“ (158). Damit seien Interdependenzen von Erst- und Zweitsprache bei Mehrsprachigen neu zu denken.

Die 13 Artikel zu Positionierungen zum Zusammenhang von Deutsch und Mehrsprachigkeit und zu Bildungsmaßnahmen zeigen im dritten und vierten Kapitel Forschungsergebnisse und praktische Beispiele zur Integration und Exklusion mehrsprachiger Schüler/innen sowie damit verbundene methodische Herausforderungen. Anna-Katharina Draxl, Clara Holzinger verdeutlichen mit qualitativen Interviews, also der „Erhebung und Interpretation, ‚perspektivgebundenen Wissens‘ (Stübing 2002: 336)“ (167), dass „Forschende als ExpertInnen positioniert werden“ (175) und solche Positionierungen offenzulegen sind. Irina Ezhova-Heer verweist auf die (Nicht-)Berücksichtigung von sprachlichen Ressourcen bei der (Sprach-)Integration von Seiteneinsteiger/innen, die über eine mündliche Kommunikationsfähigkeit und ggf. „eine kognitiv akademische Sprachkompetenz in verschiedenen Sprachen [verfügen, A.N.], die beim Deutschlernen als Ressource genutzt werden kann“ (188). Dies scheitere aber oft an Normansprüchen. Mehr Zeit und gesteuerte Lehr-Lernprozesse könnten hierbei besser unterstützten. Argyro Panagiotopoulou, Lisa Rosen und Jenna Strzykala greifen die Forderung nach mehr Vielfalt in den Klassenzimmern auf und hinterfragen, ob mehrsprachige Lehrkräfte Lernen besser begleiten können. Eine Beobachtung verweist darauf, dass „die Lehrerin in ihrer Rolle als Aufseherin und zugleich als Vertreterin einer Institution“ (219) die Lernenden auch in ihrer Muttersprache verstummen lassen kann. Nadja Thoma analysiert die Entwicklung einer Studentin eines Schreibkurses. Eine selbstbewusste Haltung zu eigenen Sprachigkeiten entwickelte sich, als die Sprachbiographie als „Format der Selbstpräsentation“ (243) anerkannt wurde. Die kritisch-reflexive Betrachtung der „Zusammenhänge von individueller Mehrsprachigkeit und schulischer Monolingualität“ (250) ist Ausgangspunkt von Anke Wegner. Einzelfallstudien sind „im Kontext der normativen Orientierungen im wissenschaftlichen Diskurs zum Deutschen als Zweitsprache erforderlich“ (251). Diese können „mit offenen, nicht-standardisierten Erhebungsverfahren“ (254) in der Sprache der Probanden eine „Verschränkung der empirischen, der entwicklungsorientierten und der normativen Dimension“ (252) zeigen. Lehrerbildung müsse dies reflexiv aufnehmen.

Heike Gsellmann-Rath zeigt die Erweiterung von Handlungskompetenzen Lehrender durch Versachlichung und metalinguistisches Wissen, die ein „nicht wertende[s] Sehen, das ein Erkennen auf rationaler Ebene“ (291) ermöglichen. Renate Hofer-Truttenberger analysiert das SPRACHTICKET für DaZ-Kinder in Österreich, dem „ein gewisser Automatismus“ (324) von negativ besetzten Zuschreibungen durch die Schule inhärent ist. Ursula Hirschfeld stellt die Bedeutung der orthoepischen Normen für die Ausbildung im Bereich DaF_DaZ* dar, um Ausgrenzungen hinterfragen zu können. Kristina Peuschel fordert aus intersektionaler Perspektive „die drei Differenzlinien race, class, gender [... als] ausformulierte gesellschaftliche Makrofaktoren“ (356f.) in Unterrichtsdiskursen und -materialien stärker in den Blick zu nehmen. Doris Pokitsch zeigt, dass Normen immer das „Ergebnis sozio-historischer Prozesse der Macht“ (368) sind, die durch Markierungs-, Differenzierungs-, Naturalisierungs- und „als unüberwindbar […] institutionell abgesichert und verabsolutiert […] rassifizierte Ausgrenzungspraktiken“ (370) entstehen. Es gelte „eine Strategie des Verlernens zu initiieren“ (377), „(eigene) Verstrickungen zu sehen bzw. zu lernen diese zu sehen […], Rassismus bzw. Rassismusvorwürfe 'aushalten' zu lernen“ (378) und reflektiert zu thematisieren. Thomas Quehl entwickelt eine heuristische Folie für Fortbildungen zur durchgängigen Sprachbildung, die auf „diskursive Othering-Prozesse“ (386) reagieren. Da in der „Super-Diversität“ (387) die klassischen Referenzpunkte „nicht mehr als ‚natürlich' gegebene und klar umrissene Phänomene“ (387) erkenn- bzw. erfahrbar sind, müssen „die drei Ebenen [subjektive, institutionelle und soziale Bedeutungen, AN.] gleichzeitig und in ihren Wechselwirkungen in den Blick“ (391) genommen werden. „Aus einer neo-linguizismus-kritischen Sicht ist es für Fortbildungen demnach zentral, zu einer Reflexion über solche ‚Herstellungsprozesse' der sozialen Bedeutungen zu kommen“ (395) und darauf zu achten, dass lebensweltliche Mehrsprachigkeit bei Schul- und Unterrichtsentwicklung nicht als Konkurrenz verstanden wird. Nadja Simon belegt, wie theaterpädagogische Rassismuskritik für ein Empowerment von Lehramtsstudierenden genutzt werden kann. Narrationen zeigen, dass in einem involvierten Forschen eine „Umkehrung der habituellen Logik im Sinne eines ‚Wer-richtet-sich-nach-wem?‘“ (424) zu mehr „theoriegeleitetem, machtkritischem Nachdenken über Mehrsprachigkeit, Migration und Bildung [unter einer] rassismuskritische[n] Perspektive“ (430) führt. Im abschließenden Artikel irritiert Rebecca Zabel durch den Fokus auf Religionsfreiheit im Kontext der Integrationskurse. Ein sensibel moderiertes „Öffentlich-Machen der Diskriminierungs- bzw. Ausschließungspotentiale“ (449) und der „Nicht-Integration anderer Religionen und Nicht-Christen“ (448) führt zu einer echten Interaktion unter sprachlich schwierigen, aber inhaltlich gewichtigen Bedingungen.

Die Herausgeberinnen liefern mit diesem Sammelband insgesamt eine stark empirisch fundierte und gleichzeitig theoretisch gewollt-irritierende Darstellung. Es zeigt sich neben qualitativen und quantitativen Forschungen ein Schwerpunkt in den didaktischen Darstellungen von irritierter Sprachbildung in der Praxis. Für die Fortsetzung der Reihe ist eine Vernetzung in und/oder über die Einzelkapitel wünschenswert, um die angesprochenen Kontexte auch im eigenen Werk argumentativ zu stützen.

Offen bleiben sprachliche Fragen, die sich verschiedenen Erwerbskontexten aus linguistischer Sicht nähern. Es bleiben in allen Abschnitten Irritationen, die zu vermehrter Reflexion von Fragen zur Sprachbildung in der mehrsprachigen Gesellschaft führen. In diesem Sinne erreicht der Band sein Ziel, ohne vorschnell praktische Lösungen anzubieten. Zum Weiterdenken wäre eine Darlegung von Utopien gewinnbringend.
Astrid Neumann (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Neumann: Rezension von: Dirim, Ǐnci / Wegner, Anke (Hg.): Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF_DaZ*. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740558.html