Der Sammelband widmet sich nicht nur zentral den Bedingtheiten kritischer Artikulationen durch je spezifische Formen wissenschaftlicher Sozialität, Positionalität und Subjektivität. Darüber hinaus ist er auch einem zentralen Protagonisten der mit den Namen Heydorn, Gamm und Koneffke verbundenen Tradition Kritischer Bildungstheorie gewidmet. So soll „in Anerkennung der von Peter Euler geleisteten Bildungsarbeit [...] der Notwendigkeit und Möglichkeit kritischer Bildungsforschung“ (9) nachgegangen werden.
Auch wenn der Band daher implizit dazu auffordert, „Euler zu lesen“, und somit fortsetzt, was mit Heydorn lesen! [1] begonnen wurde, ist mit ihm nun nicht eine „unkritische“ Würdigung der Kritischen Bildungstheorie Darmstädter Provenienz beabsichtigt. Vielmehr betonen bereits die HerausgeberInnen in ihrer Einleitung, dass „die Formen der Kritik, die das Anliegen einer Kritischen Pädagogik zum Ausdruck brachten, selbst zur Disposition“ (8) stehen: Die „Bedeutungssteigerung“ (7) einer an Evidenzen und Wirkungen ausgerichteten empirischen Bildungsforschung sowie „die veränderten Diskurslagen des Fachs“ (8) implizierten „keine Absage an das Anliegen einer Kritischen Pädagogik“ (8), machten es aber notwendig, das Verhältnis von Kritik, Bildung und Forschung neu zu durchdenken.
Unterschiedliche Aspekte der Re-Visionsnotwendigkeit Kritischer Bildungstheorie stehen im Zentrum des auf die Einleitung folgenden Beitrags von Euler. Ausgehend von der „Einsicht“ (28), dass „der Kritik selbstkritische Theoriearbeit“ (28) abzuverlangen ist, diskutiert er das Verhältnis und die Verbindungsmöglichkeiten von Kritischer (Bildungs-)Theorie und postmodernen Theorieeinsätzen und erinnert daran, dass Kritische Bildungstheorie nicht nur das „reale Allgemeine“ zu kritisieren sucht, sondern gerade in der Bildungsidee auf den „Kampf um ein vernünftiges Allgemeines“ (50) zielt.
Auf Eulers Notizen über die „Kritik der Kritik“ folgen nunmehr 13 Beiträge, die entlang von drei Abschnitten sortiert sind, welche den Titel des Bandes in „drei thematische Konkretionen“ (7) überführen.
Im ersten Abschnitt „Kritik der Bildungswissenschaft“ eröffnen zunächst Astrid Messerschmidt und dann Ludwig Pongratz Perspektiven der Kritik in und an der Universität. Messerschmidt fordert entgegen dem an der Universität dominierenden „Habitus der Widerspruchsfreiheit“ (57) eine kritische Praxis in Studium, Lehre und Forschung, welche die „beschädigten Positionen der Kritik“ (68) offenlegt und die eigene Beteiligung an zu kritisierenden Verhältnissen zum Thema macht. Pongratz wiederum unterzieht Reformmaßnahmen im Hochschulbereich „unter bildungstheoretischen Prämissen“ (77) hinsichtlich ihrer „Mythen“ und Wirkungen einer kritischen Reflexion, um schließlich nach den Möglichkeiten der Hochschule zum „Widerstand gegen die neoliberale Zurichtung“ (86) zu fragen.
In den anschließenden Beiträgen fungieren dominante Bildungsdiskurse sowie gesellschaftliche und disziplinäre Entwicklungen als Anlässe für Neuakzentuierungen einer Kritischen Pädagogik. Angesichts des „bildungspolitischen Neoliberalismus“ (97f), einer „weitgehend affirmative[n] Wissenschafts- und Forschungskultur“ (94) sowie der „Ersetzung der Erziehungswissenschaft durch die Bildungswissenschaften“ (101) entwirft Armin Bernhard Erziehungswissenschaft als ein „gegenhegemoniales Projekt“ (105) der Wiederzueignung der „vom ideologischen Apparat kultureller Hegemonie inkorporiert[en]“ (104) erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffe. Zahira Baumann und Johanna Burkhardt dienen insbesondere „poststrukturalistische [...] Einsprüche“ (112) als Anlass für eine „möglicherweise längst überfällige [...] Aktualisierung“ (112) kritischer Bildungstheorie. Sie arbeiten zunächst „Besonderheiten der kritischen Bildungstheorie aus Darmstädter Perspektive“ (113) heraus, um dann in Form von drei Thesen Rückfragen zu formulieren. Kritische Bildungstheorie muss, so ihr Appell, fragen, „auf welchen Ausschlüssen ihre Begründung beruht“ (125).
Den Abschluss des ersten Abschnitts bildet der Beitrag von Jutta Breithausen. Ausgehend von einer Problematisierung der bildungstheoretischen Marginalisierung der Naturwissenschaften sowie der mangelnden „Bedeutung einer nicht a priori auf Verwertung zielenden Naturwissenschaft für den Bildungsprozess“ (133) entwickelt sie im Anschluss an Überlegungen Eulers einen Begriff des Verstehens, der die „etablierte Trennung von Erklären und Verstehen“ (133) in Frage stellt, und vertieft diesen anhand der (bildungs-)geschichtlichen Positionen Humboldts und Ballaufs.
Der zweite Abschnitt „Bildungsforschung als kritische Empirie“ wird von Andreas Gruschka eröffnet, der im Rückgriff auf Blankertz’ Formel der „Eigenstruktur der Pädagogik als Erziehung zur Mündigkeit“ nach den Bedingungen einer kritischen Bildungsforschung fragt. Gruschka blickt „auf die Karriere der Kritik in der Pädagogik“ (150) zurück, unterzieht die empirische Bildungsforschung einer kritischen Reflexion und skizziert schließlich seinen Ansatz einer „pädagogischen Theorie unterrichtlicher Praxis auf empirischer Basis“.
Auch in den folgenden Beiträgen dieses Abschnitts werden auf spezifische Problemlagen antwortende Forschungsansätze exemplifiziert. Ulla Klingovsky fokussiert das Problem eines identifizierenden Vorverständnisses „des“ Pädagogischen und entfaltet ein auf soziale Figurationen und Subjektivierungsweisen fokussiertes Forschungsprogramm poststrukturalistischer Praxisanalyse, mit dem sich das Forschungsinteresse einer genuin pädagogischen Bildungsforschung „im Horizont des Kritischen“ auf die Durchkreuzung „hegemoniale[r] Verfestigungen von „Normativität(en)“ (185) richtet.
Sowohl Paul Mecheril und Nadine Rose als auch Oliver Krüger und Sabrina Schenk thematisieren die Position des / der „kritischen“ Forscher/in als einen zentralen Problemhorizont empirischer Forschung. Während Mecheril und Rose in ihrem (bereits andernorts erschienenen) Beitrag verdeutlichen, wie es in der qualitativen (Migrations-)Forschung gelingen kann, die forschungspraktische Verstrickung in die „epistemischen Machtverhältnisse“ (175) sowie die „politisch-historische[.] Positioniertheit des sprechenden und schreibenden wissenschaftlichen Subjekts“ (172f) systematisch zu reflektieren, unternehmen Krüger und Schenk zunächst eine Problematisierung kritisch-intervenierender Parteilichkeit. Im Anschluss kennzeichnen sie Praktiken des „Übersetzens“ und des „Parodierens“ als „zwei Modi des Umgangs mit dem prekären Verhältnis von Positionalität und Kritik“ (203) in der qualitativen Forschung, die eine methodologische Wendung der Selbstkritik des eigenen Standortes erlauben.
Im letzten Abschnitt „Bildung und die Wirklichkeit der Kritik“ markiert zunächst Norbert Meder „angesichts der Universalisierung des Bildungsbegriffes [...] im inhaltsleer gewordenen Diskurs um Bildung“ (218) mittels historisch-systematisch orientierter Skizzen Bildung als politischen „Kampfbegriff“ und Gegenkonzept zu gesellschaftlichen Vergesellschaftungsmodi. Auch wenn mit dem Bildungsbegriff sowohl Herrschende als auch Kritiker_innen des Systems ihr politisches Handeln legitimierten, habe Bildung einen primär auf „das niemals ganz zu vergesellschaftende je vereinzelte Menschsein“ (235) fokussierten „Zug zu „Kritik-überhaupt““ (226), den es weiterzuentwickeln gelte. Dem von Meder herausgestellten „kritischen“ Gehalt von Bildung kommt auch im Beitrag von Gregor Eckert zentrale Bedeutung zu. Im Anschluss an Überlegungen Eulers zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft plädiert Eckert dafür, im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung „Verhältnisse und Problemlagen [...] nicht „nur“ zu reflektieren und zu analysieren“, sondern ihnen auch „handelnd zu begegnen“ (247).
In den beiden letzten Beiträgen des dritten Abschnitts rücken unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Problem der Begründung von Kriterien der Kritik ins Zentrum der Überlegungen. Mit Fokus auf die Problematik der „Kriterienlosigkeit der Kritik“ (256), fragen Ralf Mayer und Carsten Bünger, wie sich die von Heydorn und Koneffke entwickelte Kritische Bildungstheorie und die pragmatische „Soziologie der Kritik“ Boltanskis und Chiapellos füreinander produktiv machen lassen. Während die bildungstheoretische Kritikperspektive „die theoretisch angeleitete Reflexion als Bedingung von kritischer Praxis“ (268) verstehe und „gegenüber den Akteur_innen der Kritik [...] asymmetrisch“ (268) einsetze, stelle sich die soziologische Kritikperspektive als ein Versuch dar, der „das Verhältnis von Theoriebildung und kritischen Akteur_innen explizit symmetrisch“ (262) justiere, aber „um ein Sensorium für „soziostrukturelle Präformierungen““ (268) ergänzt werden müsse. Gerade eine bildungstheoretische Perspektive könne für die Frage nach den „ungleich verteilten Möglichkeiten der kritischen Artikulation und Positionierung“ (268) sensibilisieren. Im letzten Beitrag des Bandes wirft Alfred Schäfer einen analytisch-problematisierenden Blick auf die Bedingungen einer selbstkritischen Gesellschaftskritik, indem er anhand von zwei Beispielen aus empirischen Forschungsprojekten Möglichkeiten der Kritik des „ästhetisch-kritischen Standpunktes“ diskutiert. Die Position eines „ästhetisierenden Selbstverhältnisses“ im Kontext der Verflechtungen von „Standardisierung und Individualisierung, von Bildung und Freiheit“ (278), erfordere die Artikulation einer „systemkritischen Position“ (268), welche „letztlich hegemonial“ (287) sei, was aber „nur für jene schlimm“ sei, „die an die Möglichkeit einer klaren Unterscheidung von Unterwerfung und Befreiung glauben“ (287).
Insgesamt liegt hier ein Sammelband vor, dem es gelingt, sowohl der Vielstimmigkeit als auch der Ambivalenz von Kritik im Kontext pädagogisch bedeutsamer Fragen Ausdruck zu verleihen, und der sich daher auch als eine produktive Weiterführung der von Dietrich Benner u.a. 2003 vorgelegten Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft [2] charakterisieren lässt. Lesenswert ist er weniger für diejenigen, die an Gegenwartsanalysen interessiert sind, denn viele Beiträge schlagen zwar einen zeitdiagnostisch „kritischen“ Ton an, ohne aber den oder die „Gegner“ – wie „die“ empirische Bildungsforschung oder „die“ Ökonomisierung – präzise zu kennzeichnen. Nicht selten geraten die Überlegungen dadurch in die Gefahr, Kritik dann doch „von außen“ und im Namen der Wahrheit(en) von (Besser-)Wissenden zu üben.
Denjenigen, die an heterogenen Zugängen zur Frage nach den Möglichkeiten einer kritischen Bildungstheorie und -forschung und an einer Zusammenschau kritischer Denkbewegungen interessiert sind, sei der kontrastreiche Sammelband dagegen nachdrücklich empfohlen. Über die verschiedenen Texte hinweg vermag insbesondere sichtbar zu werden, wie sich kritische Theorieeinsätze wechselseitig zur Überprüfung und Revision „eigener“ Vorstellungen herausfordern können. Der Frage (wieder) Raum zu geben, ob und wie sich poststrukturalistische bzw. postmoderne Ansätze und die Kritische Bildungstheorie produktiv bereichern können, ist dabei vielleicht das bedeutsamste Verdienst des Bandes – gehört doch diese Frage, um mit Peter Euler zu schließen, „gewiss zu zukünftigen Auseinandersetzungen um die Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Pädagogik“ (31).
[1] Bünger, C. / Euler, P. / Gruschka, A. / Pongratz, L. A. (Hg.): Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie. Paderborn: Schöningh 2009.
[2] Benner, D. / Borelli, M. / Heyting, F. / Winch, C. (Hg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft, Zeitschrift für Pädagogik: Beiheft 46. Weinheim / Basel: Beltz 2003.
EWR 15 (2016), Nr. 5 (September/Oktober)
Kritik – Bildung – Forschung
Pädagogische Orientierungen in widersprüchlichen Verhältnissen
Opladen: Barbara Budrich 2014
(296 S.; ISBN 978-3-8474-0137-7; 38,00 EUR)
Nicole Balzer (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Balzer: Rezension von: Bierbaum, Harald / Bünger, Carsten / Kehren, Yvonne / Klingovsky, Ulla (Hg.): Kritik – Bildung – Forschung, Pädagogische Orientierungen in widersprüchlichen Verhältnissen. Opladen: Barbara Budrich 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740137.html
Nicole Balzer: Rezension von: Bierbaum, Harald / Bünger, Carsten / Kehren, Yvonne / Klingovsky, Ulla (Hg.): Kritik – Bildung – Forschung, Pädagogische Orientierungen in widersprüchlichen Verhältnissen. Opladen: Barbara Budrich 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740137.html