Das von Philipp Sandermann herausgegebene Buch liefert aufgrund seines Titels seinen eigenen Soundtrack sozusagen frei Haus mit: Bei den mit Alternative-Musik sozialisierten Leserinnen und Lesern dürfte die Melodie von R. E. M.s „It’s the end of the world as we know it“ vor dem ‚inneren Ohr’ ertönen. Das Verhältnis von Buch und Lied ist mindestens durch folgenden zentralen Unterschied charakterisiert: Während der R. E. M.-Song das darin thematisierte Ende (der Welt) im Sinne einer Aussage attestiert, geht Sandermann bezüglich des von ihm aufgegriffenen Endes (des Wohlfahrtsstaates) fragend vor. Sein Anliegen formuliert er im Eröffnungsbeitrag des insgesamt neun Beiträge umfassenden Herausgeberbandes.
Sandermann geht es darum, die in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft weit verbreitete These zu hinterfragen, nach der der Wohlfahrtsstaat in der westlichen Welt sein Ende gefunden habe. Sandermann zielt nicht darauf ab, die teilweise fundamentalen Veränderungen und Einschnitte in der Wohlfahrtsstaatspolitik zurückzuweisen, die mit politischen Aktivitäten wie bspw. seitens der New Democrats (USA), New Labour (Großbritannien) bzw. der Neuen Mitte (Deutschland) einhergingen. Vielmehr zielt sein analytisches Interesse darauf, eindimensionalen Labels wie „post-welfarism“ oder „post-welfare-state“ (9) eine nuancierte Auseinandersetzung an die Seite zu stellen. Diese soll sowohl Wandel als auch Kontinuität der Wohlfahrtsstaatspolitik der westlichen Nationen nüchtern in den Blick nehmen. Das daran angelegte Vorgehen, sich an einer Heuristik zu orientieren, die Sandermann als „welfare practices“ (10) bezeichnet, wird als gemeinsame Klammer der inhaltlich weit gestreuten Beiträge des Buches angegeben. Mit der Heuristik der ‚welfare practices’ meint Sandermann die Einnahme einer möglichst breit angelegten Perspektive auf die Logiken, Handlungen und Wirkungen wohlfahrtsstaatlicher Intervention. Einseitige Fokussierungen auf die Regulierung sozioökonomisch Benachteiligter respektive die Sozialversicherungseinbindung der sozioökonomischen Bevölkerungsmitte sollen dabei vermieden werden.
Sandermanns Beitrag eröffnet nicht nur das Buch, sondern auch den ersten von insgesamt drei Buchteilen: hier den auf konzeptionelle Grundlagenklärung ausgerichteten Teil. Fortgeführt und zugleich abgeschlossen wird dieser erste Buchteil durch einen Beitrag von John Clarke. In Konkordanz zur Problemwahrnehmung Sandermanns sieht Clarke eine für ihn ungenügend geklärte Diskrepanz zwischen steigenden Sozialausgaben in weiten Teilen des OECD-Raums einerseits und wohlfahrtsstaatlichen Abgesängen anderseits. Clarke leitet hieraus die Notwendigkeit ab, in Analysen des wohlfahrtsstaatlichen Wandels dezidiert auf Aspekte der Trias Wohlfahrt, Staat und Nation mitsamt den jeweiligen Ausprägungsvarianzen sowie den damit einhergehenden Wechselwirkungen, Spannungen und Widersprüchlichkeiten einzugehen, wobei er einräumt, dass dies bspw. Ländervergleichsanalysen deutlich komplexer werden lässt als eindimensionale Vergleiche.
Die in Clarkes konzeptionell ausgerichtetem Beitrag angerissene Familialisierung als möglicher Markstein wohlfahrtsstaatlicher Veränderung wird von Sigrid Leitner genauer unter die Lupe genommen. Sie eröffnet damit den zweiten, explizit auf Ländervergleiche gerichteten Buchteil. Leitner ordnet die von Esping-Andersen ausdifferenzierten Wohlfahrtsstaatsregime in eine von ihr entwickelte Klassifizierung von Familialisierungsvarianten. Dabei weist sie bspw. die skandinavisch-sozialdemokratischen Regime dem ‚optionalen Familialismus’ zu – ein Modus, in dem der Familie die Möglichkeit zu ‚care’-Arbeit eingeräumt und honoriert wird, zugleich aber auch eine Externalisierungsoption vorliegt. In diese Richtung sieht Leitner auch die konservativen Wohlfahrtsstaaten – und damit auch Deutschland – voranschreiten, wobei dies ihr zufolge mit weitaus weniger sozioökonomischer und genderbezogener Egalisierung als in den skandinavischen Staaten von statten geht. Gerade an dieser Stelle wäre die zu Eingang des Buches ausgegebene weite und vergleichende Perspektive auf die wohlfahrtsstaatliche Regulierung der sozioökonomischen Mitte und der Gesellschaftsunteren spannend gewesen, da die wohlfahrtsstaatliche Anerkennung elterlicher care-Leistungen in Deutschland immer stärker vorurteilig anhand sozioökonomischer Grenzen verläuft. Zudem ist es verblüffend, dass selbst in so elaborierten wohlfahrtsstaatlichen Vergleichsanalysen des Familialismus, wie der vorliegenden, die Kinderbetreuungssituation in Deutschland mit Feststellungen wie der folgenden unter dem Strich ‚verwestdeutscht’ wird: „Germany [...] does not have the political inheritance of a child care infrastructure that could be built upon“ (47). Dies ist mit der empirischen Realität Ostdeutschlands nur schwer in Einklang zu bringen und bedeutet zudem eine erneute verpasste Chance, die Ausläufer der historisch gewachsenen Unterschiedlichkeit der Familialisierungstraditionen in Ost- und Westdeutschland mit mittlerweile doch deutlicher zeitlicher Distanz zur Wiedervereinigung zu analysieren.
Der zweite Beitrag des Ländervergleichsteils stammt von Jamie Peck und Nik Theodore. Sie greifen mit ‚conditional cash transfers programs’ (CCT) ein Thema auf, das vor allem in den lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten eine große Bedeutung hat. Einer der Gewinne des Beitrags liegt darin, zu zeigen, dass es an unkonditionierten sozialen Rechten ausgerichtete wohlfahrtsstaatliche (Geld-)Leistungen – nicht zuletzt auf Bemühen der Weltbank – global immer schwerer haben. Aus dieser Lage lässt sich u. a. ableiten, dass auch die europäischen Wohlfahrtsstaaten bzw. die dortigen Sozialwissenschaften zunehmend die Auseinandersetzung mit den Pros und Contras einer Expansion der Konditionierung von Geldleistungen bspw. für Familien angehen werden müssen. Abgeschlossen wird der vergleichende Buchteil mit einem Beitrag von Richard Münchmeier. Er geht der Frage nach, inwiefern es im Zuge der ‚Hartz-IV-Reform’ zu einer Amerikanisierung der deutschen Wohlfahrtsstaatlichkeit gekommen ist und attestiert eine zunehmend repressive und kontrollierende Logik in der sozialpädagogischen Regulierung der sozioökonomisch Benachteiligten. Da diese Einschätzung knapp zehn Jahre nach der Reform zumindest vom Grunde her zu einem in der Forschungslandschaft weitgehend geteilten Lageverständnis zählt, liegt der Mehrwert dieses Beitrages zuvörderst darin, dass hiermit die steigende Relevanz deutlich wird, etwaige Eigenbeiträge der ‚Sozialen Arbeit’ an der Spezifik ihrer aktuellen Rolle sowohl auf der Ebene der Profession als auch der Disziplin verstärkt in den Blick zu nehmen.
Der dritte Buchteil umfasst drei Beiträge mit ‚case studies’. So setzt sich Robert P. Fairbanks II mittels eines ethnographischen Zugangs mit den Verbindungen von Sozialer Arbeit und wohlfahrtsstaatlicher Armutsregulierung in den USA auseinander. Dabei bezieht er sich sowohl auf die formelle und als auch die informelle Drogen- und Alkoholabhängigkeitsbekämpfung. Philipp Sandermanns Beitrag in diesem Buchteil zielt auf die Veränderungen und Kontinuitäten des deutschen Wohlfahrtsstaates. Er weist dabei Annahmen einer post-staatlichen Wohlfahrt ebenso zurück wie die eines post-wohlfahrtlichen Staates. Als kontinuierliches Merkmal des deutschen Wohlfahrtssystems – so Sandermanns präferierte Begrifflichkeit in diesem Kontext – sieht er nicht die Generierung von faktischer Inklusion, sondern vielmehr die kommunikative, in unterschiedlichen historischen Phasen mit verschiedenartigen konkreten Wertideen manifestierte Auseinandersetzung mit Exklusionsproblematiken, für die Folgendes gilt: „[...] the notion of ‚total social inclusion’ is represented as normatively desirable and realizable“ (120). Sandermann stellt mit dieser Kontinuitätsbetonung der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Forschungslandschaft ein klares und vor allem auch in seiner Nüchternheit seltenes Korrektiv entgegen. Vor dem Hintergrund, dass dieser Buchbeitrag in wesentlichen Teilen auf einem bereits vor vier Jahren erschienen Beitrag in der ‚Neuen Praxis’ ist, hätte man sich – gerade vor dem Hintergrund der Versiertheit der Analyse – gern eine fortführende Auseinandersetzung damit gewünscht, welche neuen Fragestellungen und Thesen sich aus dieser Kontinuitätsdiagnose ableiten lassen.
Abgeschlossen wird der dritte Buchteil und damit auch der Herausgeberband im Ganzen durch einen Blick auf die Lage in Frankreich. Vincent Dubois setzt sich mit den Interaktionsmodi auseinander, die zwischen den Beschäftigten wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen und ihren Hilfeempfängern auftreten. Dabei illustriert er, dass im Zuge der Konditionierung sozialer Anspruchsrechte immer weniger formale Beantragungsakte vorliegen, sondern vermehrt Rechtfertigungs- und Normierungssituationen, die immer öfter von sozialpädagogisch ungeschulten Verwaltungsangestellten durchgeführt werden und somit mit einer höheren Anfälligkeit gegenüber Stereotypisierungen etc. behaftet sind. Vor dem Hintergrund der Regulierungsoptionen, die auch in Deutschland den Arbeitsvermittlern der Jobbörsen gegenüber Hilfeempfängern und ihren Kindern zustehen bzw. der global sukzessive an Bedeutung gewinnenden Aushandlung der Anspruchsberechtigung auf der Interaktionsebene, berührt Dubois damit einen immer wichtiger werdenden Bereich der Armuts- und Wohlfahrtsstaatsforschung, dessen Zugangshürden im Feld sich die empirische Forschung zunehmend stellen sollte.
Wie zuvor angedeutet, begibt sich das Buch mit seiner Hinterfragung des wohlfahrtsstaatlichen Endes in einen gesellschaftlichen Teilbereich, dessen Realität sowie sozialwissenschaftliche Beobachtung ihre Konkordanz primär in der Bejahung einer Wandlung der Wohlfahrtsstaatlichkeit erfährt. Dabei lassen sich vor allem diametral gegenüberstehende Blöcke identifizieren: so 1) im sozialpolitischen Bereich der Wohlfahrtsstaatsforschung: die Interpretamente eines neoliberalen Abbaus vs. eines neosozialen Umbaus, 2) in der angrenzenden Armutsforschung: die Wahrnehmung einer als zunehmend zu lax eingestuften Regulierung der Armen vs. einer immer rigoroseren Entmündigung und 3) in der sozialpädagogisch konnotierten Wohlfahrtsstaatsforschung: die Kritik an vermehrt repressiv ausgerichteten Wohlfahrtsstaatsbedingungen vs. einer vielleicht nur bedingt auf die Schattenseiten hin durchdachten Einpassung in das gegenwärtige Dogma der Bildungsexpansion.
In diesem nicht nur blockweise gespaltenen, sondern zudem auch durchaus verhärteten Forschungs- und Politikgebiet tut ein derart nüchtern und analytisch oftmals scharf argumentierender Herausgeberband, der sich auch nicht scheut, Kontinuitäten im Wandel zu betonen, schlicht und ergreifend gut. Gerade deswegen wäre es umso erfreulicher gewesen, wenn das Buch etwas umfangreicher ausgefallen und sich weniger stark an bereits publizierten Arbeiten einzelner Autorinnen und Autoren (z. B. Clarke, Leitner, Peck, Sandermann) orientiert hätte. Gleichzeitig hätte auch deren roter Faden stärker wieder aufgenommen werden können: zum einen die Analyse von ‚welfare practices’, zum anderen die kritische Distanz zur Post-Wohlfahrtsstaatlichkeitsthese. Ergo: mehr davon und mehr davon.
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
The End of Welfare as We Know it?
Continuity and Change in Western Welfare State Settings and Practices
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2014
(139 S.; ISBN 978-3-8474-0075-2; 19,90 EUR)
Maksim HĂĽbenthal (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maksim HĂĽbenthal: Rezension von: Sandermann, Philipp (Hg.): The End of Welfare as We Know it?, Continuity and Change in Western Welfare State Settings and Practices. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740075.html
Maksim HĂĽbenthal: Rezension von: Sandermann, Philipp (Hg.): The End of Welfare as We Know it?, Continuity and Change in Western Welfare State Settings and Practices. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740075.html