In der Dissertationsschrift von Judith Krämer wird vor dem Hintergrund von historischen und theoretischen Betrachtungen der Frage nachgegangen, wie Lernen über Geschlechterverhältnisse empirisch erfasst werden kann. Der Aufbau der vorliegenden Interviewstudie ist so gestaltet, dass die theoretischen Ausarbeitungen und die Empirie etwa den gleichen Umfang haben. Die Ausführungen lassen sich in drei große Bereiche einteilen. Im ersten Teil werden in den Kapiteln zwei bis vier die Entwicklungen geschlechterreflektierender Bildung und feministischer Perspektiven betrachtetet. Auf dieser Basis arbeitet die Autorin im zweiten Teil heraus, wie Lernprozesse über Geschlechterverhältnisse subjektiv aus der Sicht mehrjährig feministisch interessierter Akteur_innen rekonstruiert werden. Im Fokus dieser Interviewauswertungen stehen die Lerngründe, Lernwiderstände und Handlungsmöglichkeiten aus der Perspektive der Befragten (Kapitel fünf). Ziel der Auswertungen im dritten Teil ist die Generierung von Wissen über Genderkompetenzlernprozesse (Kapitel sechs), das durch die Ausarbeitung und Darstellung von verschiedenen Spannungsfeldern verdeutlicht wird (Kapitel sieben).
In der Einleitung (Kapitel eins) werden das Forschungsfeld umrissen sowie Thesen und Zielebenen formuliert. Entlang der Frauen- und Geschlechterforschung werden dabei drei aktuelle Entwicklungslinien zum (Er-)Lernen von Geschlechterverhältnissen nachgezeichnet: Gleichstellung / Feminismus, (Re-) Traditionalisierung / Anti-Feminismus und Individualisierung / Ökonomisierung.
Im ersten Teil des Buches werden in Kapitel zwei die historische Genese und die aktuell-empirischen, teils widersprüchlichen, bildungsinstitutionellen Rahmungen des Lernens über Geschlechterverhältnisse betrachtet. Grundlegende Begrifflichkeiten und Konzepte, wie Emanzipation, Feminismus und Intersektionalität werden geklärt und die unterschiedlichen feministischen Paradigmen „Gleichheit“, „Dekonstruktion“ und „Differenz“ in ihren jeweiligen Verhältnissen zu pädagogischem Handeln vorgestellt. Zur theoretischen Fundierung der Interviewstudie werden anschließend in Kapitel drei das Subjektverständnis, die (Selbst-)Reflexivität und Mehrperspektivität als weitere Werkzeuge feministischer Analyse und Kritik herausgearbeitet und vorgestellt. Im vierten Kapitel stehen dann das theoretische Verständnis von Lernen und generelle Fragen zur Beschaffenheit von Lernen und Lernprozessen im Vordergrund. In diesem Abschnitt stellt die Autorin nachvollziehbar heraus, dass retroperspektive Beschreibungen über Auseinandersetzungsprozesse zu Gender bzw. Geschlechterverhältnissen erst durch sich ergänzende Konzepte von Lernen fassbar werden. Ausgehend von der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie nach Holzkamp (1993) werden das Modell der erneuerten Interessetheorie nach Grotlüschen (2010) sowie phänomenologische Theorien des Lernens herangezogen, um zusätzliche Einflussfaktoren auf das Genderlernen zu berücksichtigen: informelle Lernprozesse, Emotionen / Körperlichkeit, Dimensionen der Eigenbeteiligung / der äußeren Einflussnahme. Auf diese Weise ist es möglich, die Entwicklung von Lerninteressen als Prozess mit unterschiedlichen, zeitlich aufeinanderfolgenden Qualitäten in der Studie zu betrachten. Dies führt zur Explikation von Anschlussfragen, die sich an die Forschungsfrage „Wie vollziehen sich Lernprozesse über Geschlechterverhältnisse aus der Perspektive der Interviewten?“ anknüpfen: Welche Begründungen, Lernwiderstände und körperlichen Empfindungen werden für das Lernen angegeben? Wie werden äußere Einflüsse beschrieben / wahrgenommen, und wie zeigt sich die prozessuale Ebene in den Retrospektiven?
Im zweiten Teil des Buches (Kapitel fünf) werden die methodologischen Bezugspunkte, das Forschungsvorhaben und der Umgang mit dem Material vorgestellt. Es wurden leitfadengestützte Interviews mit elf Personen durchgeführt, die ein Interesse an (Queer-)Feminismus, Gender Mainstreaming bzw. der Auflösung von Geschlechterverhältnissen mitbringen, mehrjährige Erfahrungen mit diesen Themen haben sowie in der feministischen oder genderreflektierten Bildungsarbeit tätig sind. Darunter finden sich Erwachsenenbildner_innen, Studierende und Lehrende. Mit Hilfe der Grounded Theory wurden verallgemeinerbare Kern- und Schlüsselkategorien von Lernprozessen über Geschlechterverhältnisse ermittelt.
Im dritten Teil des Buches werden in Kapitel sechs entlang von Zitaten die Ergebnisse der Interviews vorgestellt. Dabei wird das Empiriekapitel nach einer kurzen Einführung zum Kontext (Strukturen, Handlungen, diskursive Formationen, Erfahrungen) in drei Auswertungsbereiche aufgegliedert, die in Bezug zu den drei Hauptphasen des Lernprozesses der erneuerten Interessetheorie (Grotlüschen 2010) gesetzt sind. Im ersten Ergebnisbereich werden zentrale Begründungen zum Lernen von Geschlechterverhältnissen (z. B. berufliche Begründungen) vorgestellt, im zweiten Bereich Gründe des Nicht-Lernens in der Phase der beginnenden Lernprozesse (z.B. erste Abwehrargumente und innere Konflikte). Im dritten Bereich folgen Handlungsoptionen in der fortgeschrittenen Lernphase (z.B. professionelle Positionierungen). Abschließend erfolgt im siebten Kapitel die Einordnung der beschriebenen Erfahrungen und ermittelten Kategorien in vier Spannungsfelder, die Verbindungs- und Querlinien zwischen den Auswertungskategorien der Interviews aufzeigen. Diese Spannungsfelder beziehen sich auf die „Handlungsfähigkeiten“ (z. B. restriktive Handlungsfähigkeit – verallgemeinerte Handlungsfähigkeit), auf „quer verlaufende Spannungsfelder“ (Gewohnheit – Handlungsintention), die „Verwobenheiten in mehrdimensionalen Herrschaftsverhältnissen“ (Sexismuserfahrungen – Rassismuserfahrungen) und auf „themenbezogene Spannungsfelder“ (z. B. Dramatisierung – Entdramatisierung). Die Ergebniszusammenfassung und Rückbindung erfolgt durch eine umfassende Visualisierung der herausgearbeiteten Spannungsfelder, Verortungsmöglichkeiten und Notwendigkeiten des Ausagierens innerhalb der gesellschaftlichen Rahmungen. Als eine mögliche Anschlussfrage formuliert Krämer, wie das Wissen über die Beschaffenheit des Genderlernprozesses, der Lerngründe, Lernwiderstände, Handlungsstrategien und Spannungsfelder einen Eingang in die Praxis einer geschlechterreflektierenden Bildung finden kann.
Das Buch „Lernen über Geschlecht“ bietet eine grundlegende Einführung in historische, theoretische und aktuelle Entwicklungen geschlechterreflektierender und (queer-)feministischer Bildung und ist eine hervorragende Ergänzung der bislang wenigen erwachsenbildnerischen Studien zu den subjektiven Gründen und Widerständen des Genderlernens. Die Interviewstudie verringert diese Forschungslücke, indem sie Antworten auf die Fragen bietet, welche subjektiven Lerngründe, Lernwiderstände und Handlungsfähigkeiten zu biografischen „Genderlernprozessen“ existieren. Etwas ungewöhnlich ist die Auslassung von Unterkapiteln im Inhaltsverzeichnis. Dies mag freilich zur besseren strukturellen Übersicht gewählt worden sein, offenbart der / dem Leser_in jedoch erst bei der Lektüre des Buches wichtige und spannende Inhalte, wie auch vereinzelt angelegte Exkurse, etwa zu „Gesellschaftliche und professionelle Kompetenzen“, „Kritische Männerforschung“ und zu „Extremismus“. Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen, dass das Verstehen dieses Lernens nur vor dem Hintergrund einer Analyse von vielfältigen, intersektionalen Spannungsfeldern (Differenzlinien) betrachtet werden kann und ein erweitertes Verständnis von Lernen über Geschlechterverhältnisse notwendig ist. Judith Krämers Dissertationsschrift zum Genderlernen richtet sich an ein interdisziplinäres Fachpublikum der Gender Studies, Erziehungswissenschaften, Psychologie und Erwachsenenbildung und bietet subjektorientierte Forschungs- und Handlungsimpulse im Bereich der gendersensiblen Bildung.
EWR 15 (2016), Nr. 5 (September/Oktober)
Lernen ĂĽber Geschlecht
Genderkompetenz zwischen (Queer-)Feminismus, Intersektionalität und Retraditionalisierung
Bielefeld: transcript 2015
(394 S.; ISBN 978-3-8376-3066-4; 39,99 EUR)
Sandra Winheller (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sandra Winheller: Rezension von: Krämer, Judith: Lernen ĂĽber Geschlecht, Genderkompetenz zwischen (Queer-)Feminismus, Intersektionalität und Retraditionalisierung. Bielefeld: transcript 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763066.html
Sandra Winheller: Rezension von: Krämer, Judith: Lernen ĂĽber Geschlecht, Genderkompetenz zwischen (Queer-)Feminismus, Intersektionalität und Retraditionalisierung. Bielefeld: transcript 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763066.html