EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)

Philipp Sandermann
Die neue Diskussion um Gemeinschaft
Ein Erklärungsansatz mit Blick auf die Reform des Wohlfahrtsstaates
Bielefeld: transcript 2009
(238 S.; ISBN 978-3-8376-1123-6; 24,80 EUR)
Die neue Diskussion um Gemeinschaft In den letzten Jahren deutet sich ein Trend an, in der Theoriediskussion der Sozialen Arbeit den Fokus auf Sozialpolitik zu legen. Diese ist auch bei Philipp Sandermann zu erkennen, obwohl der Titel seines Buches „Die neue Diskussion um Gemeinschaft“ lautet und die Vermutung naheliegt, hier ein weiteres Buch zur sozialpädagogischen Theoriebildung im Anschluss an Reyer oder der Diskussion um den Kommunitarismus zu bekommen. Es stellt sich also die Frage, wie der Autor die Gemeinschaftsdiskussion aufgreift und sie in einen sozialpolitischen Zusammenhang stellt, d. h. sie auf das bundesrepublikanische Wohlfahrtssystem und die hier zu verortende Soziale Arbeit stellt (11).

Hierbei geht Sandermann in seiner als Dissertation eingereichten und zur Veröffentlichung leicht überarbeiteten Schrift ungewöhnliche Wege. Seine Perspektive auf die Gemeinschafsdiskussion ist eine distanzierte sozialwissenschaftliche Beobachtung, der es um eine Erklärung geht, welche Funktion diese für das bundesrepublikanische Wohlfahrtssystem hat.
Damit führt der Autor eine Differenz zu dem ein, wie er die Gemeinschaftsdiskussion wahrnimmt, nämlich als ideologisch. Dieser These geht Sandermann systematisch nach.

Dazu legt er im ersten Kapitel sein methodisches Instrumentarium dar. Sandermann untersucht die Argumentationsstruktur der Gemeinschaftsdebatte im Hinblick auf den Modus der Argumentation. Darauf folgt eine kritische Interpretation dieses Argumentationsmodus, die es ermöglicht, etwas als ideologisch zu bezeichnen. Unter ideologisch wird eine essenzialistische anstatt eine konstruktivistische Perspektive verstanden, die ihr Interessengeleitet-Sein ausblendet. Eine wissenschaftliche Analyse im Unterschied zu einer interessengeleiteten Analyse zeichnet sich nach Sandermann im Anschluss an Zima (2004) [1] durch eine „weitestgehende Offenlegung der Vorannahmen und Folgerungen, sowie durch eine Reflexion der eigenen Konstruktionsvorgänge“ (29) aus. Das ermöglicht eine Fremdbeschreibung der Selbstbeschreibung der Diskussion. Folglich wird nach der Funktion dieses ideologischen Gehalts gefragt. Dazu zieht er ein theoretisches Erklärungsmodell hinzu, um die Bedeutsamkeit der Gemeinschaftsdebatte für das bundesrepublikanische Wohlfahrtssystem aufzeigen zu können.

Das zweite Kapitel stellt die Ergebnisse des ersten Analyseschritts dar. Sandermann zeigt auf, dass in der Gemeinschaftsdiskussion der Ruf nach Wiederbesinnung in unterschiedlichen Facetten laut wird. Es geht zum einen um Wiederbesinnung auf gemeinschaftlich-moralische Werte der westlichen Gesellschaft, um die Wiederbesinnung des Gemeinschaftsbezugs bei der Thematisierung von Individualität und Authentizität. Darüber hinaus wird die Bedeutung der gemeinschaftlichen Sozialisation der Subjekte sowie der Notwendigkeit der Erziehung zur Gemeinschaft wieder betont. Schließlich „soll“ sich auf die gemeinschaftlichen Kräfte in der modernen Gesellschaft und die Bedeutsamkeit der Gemeinschaft für die sozialpädagogische Theoriebildung wieder besonnen werden. Die Differenzen zwischen den einzelnen, für die Debatte relevanten Autoren, werden entlang der einzelnen Facetten differenziert herausarbeitet, können aber im Kontext dieser Rezension nicht näher dargestellt werden.

Diese deskriptive Analyse wird im zweiten Schritt (Kapitel 3 des Buches) kritisch auf ihren ideologischen Gehalt hin befragt. Dabei wird zunächst aufgezeigt, dass nicht deutlich zwischen wissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen und normativen Lösungsvorschlägen unterschieden wird. Vielmehr wird so z.B. bei der republikanischen Variante der Kommunitarismusdiskussion durch den Bezug auf die ontologische Ebene ein direkter normativer Bezug vermieden. Dadurch, dass nicht zwischen der Beobachtungsebene erster und zweiter Ordnung unterschieden wird, münde, so Sandermann, die empirische Beschreibung in eine ideengeschichtliche Setzung wie es sein soll (vgl. 94 f.). Dadurch wird der Konstruktionsprozess der Erkenntnisbildung verdeckt, was nach oben dargestellter Definition bedeutet, dass die Argumentationsweise als ideologisch zu bezeichnen ist. Dieses Beispiel ist nicht trennscharf von dem zweiten Punkt zu unterscheiden, in dem aufgezeigt wird, dass ideengeschichtliche Argumentationsweisen in der Gemeinschaftsdebatte eklektisch gebraucht werden. Dieses zweite Strukturmoment der Wiederbesinnungsrhetorik der Gemeinschaftsdebatte ist zu wenig von dem ersten zu unterscheiden, so dass es ein wenig redundant wirkt. Interessant hingegen erscheint der dritte Punkt des Nachweises des Ideologiegehalts in dem darauf hingewiesen wird, dass Widersprüche simplifiziert werden. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wird nicht strukturell als konflikthaft wahrgenommen. Vielmehr wird durch die Wiederbesinnung auf Gemeinschaft eine Lösungsmöglichkeit lanciert (Taylor, Etzioni, Wendt etc.) oder es wird versucht, trotz der Reflexion der Widersprüchlichkeiten zwischen den Polen eine Balance herzustellen (Böhnisch/Schröer, Opielka).

Im dritten Kapitel steht der Nachweis im Vordergrund warum die Gemeinschaftsdebatte aufgrund ihrer Ideologiehaftigkeit einen Beitrag zum bundesrepublikanischen Wohlfahrtssystem leistet. Dazu wird mittels eines systemtheoretischen Instrumentariums eine funktionale Analyse durchgeführt, in der aufgezeigt wird, welche Bedeutung diese Diskussion zur Problemlösung angesichts des Brüchigwerdens der fordistisch-keynesianischen Wohlfahrtsdoktrin hat. Sandermann stellt dar, dass die fordistisch-keynesianische Wohlfahrtsdoktrin selbst schon ideologisch sei, da nicht zwischen Selbstbeschreibung und Funktion unterschieden wird. Die wohlfahrtsstaatliche Leitdifferenz teilgesellschaftlicher Inklusion/Exklusion wird durch den Anspruch an die Möglichkeit der Totalinklusion aller Bürger absolut gesetzt. Diese Doktrin wird brüchig, da deren Logik zunehmend in Konkurrenz zu anderen Systemen gerät, die zu einer Legitimationskrise beitragen. Dazu gehören Analysen die aufzeigen, dass die Verrechtlichung von Ansprüchen zu einer Anspruchsinflation führen, die Sozialtechnologie von Bürokratien zur Kolonialisierung der Lebenswelten beiträgt, Zugangsprobleme geschaffen werden und Geld und Recht als Steuerungsmittel nicht ausreichend sind. Geld und Recht sollten mindestens durch gemeinschaftliche Moral ersetzt werden. D.h., dass das Brüchigwerden der fordistisch-keynesanischen Wohlfahrtsdoktrin als Problem durch die Diskussion über Gemeinschaft aufgefangen werden kann, da diese sich als Lösung präsentiert, ohne dass die zugrunde liegende Struktur grundsätzlich in Frage gestellt wird. Sie trägt zur Entwissenschaftlichung der sozialwissenschaftlichen Kritik am Wohlfahrtsstaat bei (vgl. 197), indem behauptet wird, dass eine neue Balance von Rechten und Pflichten der Bürger eingeführt werden müsse, nahräumliche Gemeinschaften der Bürokratisierungstendenz etwas entgegensetzen können und gemeinschaftliche Moral zum zentralen Steuerungsmedium für Integration avanciert. Im letzten Kapitel stellt Sandermann dar, dass diese neue Gemeinschaftsdebatte an Aktualität verlöre und sie möglicherweise nur ein Übergangsphänomen zu einem Aktivierenden Sozialstaat sei. Letzteres bedürfe aber einer genaueren Analyse.

Die Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie methodisch hoch reflektiert ist und dabei ungewöhnliche Wege geht, die aber so systematisch begründet werden, dass sie nicht eklektizistisch, sondern wohl durchdacht erscheinen. Er kombiniert eine Ideologiekritik mit einer systemtheoretischen funktionalen Analyse auf eine sehr überzeugende Art und Weise. Er erweitert die systemtheoretische Analyse von Ideologie durch den Bezug auf Zima ohne dadurch eine systemtheoretische Zugangsweise aus dem Auge zu verlieren, sondern im Gegenteil trägt dieser Zugang zur analytischen Verdichtung bei. Damit gelingt es ihm, nicht die eingetretenen Pfade systemtheoretischen Denkens zu reproduzieren, sondern vielmehr exemplarisch an der neuen Gemeinschaftsdiskussion zu zeigen, welches analytische Potenzial die Systemtheorie liefern kann. Durch die mehrschrittige Rekonstruktion der Selbstbeschreibung der neuen Gemeinschaftsdiskussion im Kontext des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaates wird sehr plausibel der Entstehungskontext, die Bedeutung und ansatzweise auch das Ende der neuen Gemeinschaftsdiskussion erklärt.

Es stimmt aber skeptisch, dass alle Beiträge in diesem Diskurs sich als ideologisch erweisen. Manchmal werden ansatzweise Ausnahmen angedeutet aber nie systematisch entfaltet. Dadurch erscheint auch das eigene Vorgehen gelegentlich deduktiv anstatt reflexiv. Dieses Querbürsten zu der vorherrschenden Analyse müsste aber zunächst noch einmal systematisch durchgeführt werden, um eine ernsthafte Berechtigung zur Kritik zu haben. Insgesamt zeichnet sich das Buch durch eine hohe Stringenz, einen klaren Argumentationsstil durch hervorragende Einführungen und systematische Bezugnahmen auf vorangegangene Ausführungen aus, so dass es nicht nur überzeugend sondern auch als sehr leser/innenfreundlich bezeichnet werden kann.

[1] Zima, Peter V. (2004): Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Tübingen: Francke.
Bettina Hünersdorf (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bettina Hünersdorf: Rezension von: Sandermann, Philipp: Die neue Diskussion um Gemeinschaft, Ein Erklärungsansatz mit Blick auf die Reform des Wohlfahrtsstaates. Bielefeld: transcript 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761123.html