EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Helke Rausch
Wissensspeicher in der Bundesrepublik
Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main 1945–1990
Göttingen: Wallstein-Verlag 2023
(430 S.; ISBN 978-3-8353-5487-6; 40,00 EUR)
Wissensspeicher in der Bundesrepublik Die seit 2006 diesen Namen führende Deutsche Nationalbibliothek (DNB) mit ihren Standorten in Leipzig und Frankfurt am Main hat in den letzten Jahren mehrere Monografien zur Geschichte ihrer Vorgängereinrichtungen gefördert. Nach den Bänden zur Geschichte der Deutschen Bücherei Leipzig von 1912 bis 1945 bzw. für den anschließenden Zeitraum bis 1990 [1] ist jetzt die Darstellung der Geschichte der Deutschen Bibliothek (DB) in Frankfurt am Main von ihrer Gründung in der Nachkriegszeit bis zur Vereinigung mit der Deutschen Bücherei durch den Einigungsvertrag 1990 erschienen.

Die Deutsche Bibliothek entstand, wie Helke Rausch überzeugend herausarbeitet, unter den speziellen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und insbesondere der amerikanischen Besatzungsmacht. Sie sollte, zunächst provisorisch für die Westzonen, dann im Hinblick auf die sich verfestigende Teilung für die Bundesrepublik die Rolle der Deutschen Bücherei in Leipzig übernehmen, nämlich die möglichst vollständige Sammlung der aktuellen Publikationen des Landes und deren bibliografischen Nachweis. Diese Aufgabe hat die DB bis zur Wiedervereinigung, wie die Autorin nachvollziehbar beschreibt, nach anfänglichen Schwierigkeiten zunehmend besser und selbstbewusster erfüllt.

Das Buch betrachtet die DB in erster Linie unter kulturpolitischen und wissenshistorischen Gesichtspunkten, nicht aus einer bibliothekarischen Binnenperspektive, die bisher bei bibliotheksgeschichtlichen Darstellungen dominiert hat. Dieser Ansatz und das Ergebnis ist insgesamt als erfreulich zu begrüßen, auch wenn Angehörige der bibliothekarischen Profession gewisse Unschärfen bei der Verwendung fachsprachlicher Begriffe feststellen könnten [2], die auch einige Aussagen der Autorin einschränken.

Deutlich wird, wie die Deutsche Bibliothek als Neugründung zwar weniger Altlasten personeller wie institutioneller Natur mit sich trug als ältere Einrichtungen, sich aber wegen dieser ungefestigten Stellung immer wieder im politischen Feld platzieren musste. Waren anfänglich der Börsenverein des Buchhandels und die Stadt Frankfurt die hauptsächlichen Träger der Bibliothek, übernahm diese Funktion ab den 1950er Jahren zunehmend der Bund, kulminierend in der Einrichtung als Anstalt des öffentlichen Rechts durch ein Bundesgesetz im Jahr 1969. Rausch beschreibt, wie die DB und vor allem deren Leiter – Hanns Wilhelm Eppelsheimer (amtierte 1946–1959), Kurt Köster (1959–1975) und Günther Pflug (1976–1988) – mit den Veränderungen der politischen Landschaft umgehen mussten. Sie blickt dabei auch immer wieder auf das Verhältnis zur Leipziger „Schwester“ und das internationale Umfeld.

Einen Schwerpunkt der Darstellung bilden die interessanten Kapitel zu zwei Spezialsammlungen, mit denen die DB sich gegenüber der Deutschen Bücherei und anderen Bibliotheken profilieren konnte, nämlich die Exilliteratur 1933–1945 und das Musikarchiv. Der zentrale Bestand der Bibliothek, die deutschen Veröffentlichungen ab 1945, wird demgegenüber nur kursorisch behandelt, was auch durchaus nachvollziehbar ist, weil er weitgehend durch die Publikationslandschaft vorgegeben war, die die DB nicht beeinflussen konnte, während sie zumindest bei der Exilsammlung eine aktive Rolle spielte. Dieser Umstand hätte noch etwas deutlicher betont werden können, etwa bei der ausführlichen und für sich sehr gelungenen Darstellung der Literaturpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht im Zusammenhang mit der angestrebten „reeducation“ (107–131). Auch wenn sich diese Publikationslandschaft der Nachkriegsjahre in der Sammlung der DB widerspiegelt, hat der Abschnitt doch nur einen losen Zusammenhang mit dem Thema. Eine eigentliche amerikanische Bibliothekspolitik im Nachkriegsdeutschland gab es nur im Zusammenhang mit den Bibliotheken der Amerikahäuser (131–141). Mehrfach thematisiert die Autorin den aus heutiger Sicht oft problematischen Umgang mit in den Nationalsozialismus verwickelten Personen in der frühen Bundesrepublik. Allerdings werden in dieser Hinsicht keine Besonderheiten der Deutschen Bibliothek erkennbar.

An mehreren Stellen thematisiert die Autorin die Frage, ob die DB Nationalbibliothek war oder zu einer solchen wurde. Dies greift auch zeitgenössische Diskussionen auf, die schon vor 1945 im Verhältnis zwischen der Deutschen Bücherei und der damaligen Preußischen Staatsbibliothek eine Rolle gespielt haben und bis in die jüngste Zeit aktuell sind, in der die vereinigte Bibliothek zwar schließlich auch offiziell den Namen Nationalbibliothek erhielt, aber ein Teil der klassischen Aufgaben einer solchen Bibliothek von weiteren Einrichtungen übernommen wird, insbesondere den Staatsbibliotheken in Berlin und München. Dazu gehört zum einen die Bereitstellung internationaler Publikationen, die nur in einem formal bestimmten Umfang (deutschsprachige Veröffentlichungen bzw. solche mit Deutschlandbezug) von der DNB abgedeckt wird, wie dies auch schon bei ihren Vorgängereinrichtungen der Fall war. Zum anderen geht es um die historische Dimension, d.h. die Sammlung deutscher Publikationen vor 1912 bzw. 1945. Es war von vornherein klar, dass weder die Deutsche Bücherei noch ihr Frankfurter Pendant eine solche Sammlung retrospektiv aufbauen konnten (vom Spezialfall der Exilsammlung einmal abgesehen). Diese Aufgabe ist angesichts der zersplitterten deutschen Bibliothekslandschaft nur kooperativ zu verwirklichen; ein Hinweis auf die Arbeitsgemeinschaft „Sammlung Deutscher Drucke“, zu der bei deren Gründung 1989 auch die DB gehörte, fehlt leider [3].

Dass die wichtigste Aufgabe der DB neben der Sammlung deren bibliografische Erschließung war, klingt zwar immer wieder an, es hätte aber vielleicht noch etwas deutlicher herausgestellt werden können. Wenn der Direktor Eppelsheimer seine Bibliothek 1951 als „bibliographisches Institut“ bezeichnete und nicht etwa als Nationalbibliothek (157–158), ist dies nicht als Bescheidenheitsgestus zu interpretieren, sondern gibt die zentrale Funktion genau wieder.

Leider fehlt fast völlig eine Beschreibung der Nutzung der Bibliothek und ihrer Bestände. Dies hätte vermutlich klarer gemacht, wie die DB die im Titel genannte Funktion als „Wissensspeicher“ und damit als auch bildungshistorisch relevanter Ort in der Praxis ausgefüllt hat. Eppelsheimer hat sich zwar ebenfalls 1951 zum Thema „Bibliothek und Bildung“ programmatisch geäußert, was Rausch ausführlich referiert (102–106), doch tat er dies explizit als Direktor der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek, was er in Personalunion war.

Seine Aufforderung, den traditionellen und ideologisch überhöhten deutschen Bildungsbegriff angesichts seiner Diskreditierung durch den Nationalsozialismus stärker international und auf die aktuellen Bedürfnisse auszurichten, gehört weniger zur Geschichte der Deutschen Bibliothek als zur Neugestaltung des öffentlichen Bibliothekswesens, das sich erst seit dieser Zeit endgültig vom alten Ideal der Volksbildung und der damit verbundenen Lenkung des Lesers ab- und der pragmatischen Orientierung an der amerikanischen „public library“ zuwandte. Immerhin indirekt profitierte die DB von der Diskussion der 1960er Jahre über die „deutsche Bildungskatastrophe“, die offenbar ihre Etablierung als Bundesanstalt gefördert hat (294–295), auch wenn ihre konkrete Aufgabe bei der Verbesserung des Bildungssystems unklar blieb.

Einige etwas ungewöhnliche oder umgangssprachliche Formulierungen wie das mehrfache Verb „norden“, „Speicherzeiten“ (24) oder „Eigenzeit“ (360) lassen sich ebenso wie die nicht ganz seltenen Druckfehler überlesen und wären in einer Neuauflage genauso schnell zu korrigieren wie die Angabe von lokalen Dateipfaden anstelle von URLs für Online-Ressourcen (51 Anm. 19 und öfter) und einige kleine sachliche Fehler: Das Zentralblatt für Bibliothekswesen war 1947 keine westdeutsche Zeitschrift, sondern erschien in der Sowjetischen Besatzungszone (102); die Todesstrafe war in der Bundesrepublik bereits durch das Grundgesetz abgeschafft (221). Für eine Publikation des Jahres 2023 ungewöhnlich, gibt es, anders als bei den Bänden zur Deutschen Bücherei im selben Verlag, keine eBook-Fassung.

Trotz der genannten Einschränkungen enthält der Band interessante Einblicke vor allem in die Kulturpolitik der Bundesrepublik und lässt hoffen, dass sich die Verbindung von zeit- und bibliotheksgeschichtlicher Forschung auch bei weiteren Themen als fruchtbar erweist. Für Bildungshistoriker:innen dürfte vor allem das Kapitel zur Sammlung der Exilliteratur (179–255) von Bedeutung sein, das die Pionierarbeit der Deutschen Bibliothek auf diesem Gebiet ausführlich würdigt und auch auf die Wirkung in der Öffentlichkeit eingeht.

[1] Flachowsky, S. (2018). „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“. Die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912–1945 (2 Bände). Wallstein-Verlag.; Rau, C. (2018). „Nationalbibliothek“ im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945-1990. Wallstein-Verlag.
[2] Ein Beispiel: „Archivbibliothek“ war kein Neologismus der Nachkriegszeit (11), sondern wurde schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Fachdiskurs für wissenschaftliche Bibliotheken verwendet, die ihre Bestände dauerhaft aufbewahren und nicht aussondern: vgl. Müller, G. H. (1929). Die Archiv-Parallele. Zentralblatt für Bibliothekswesen, 46, S. 304.
[3] Auch die dafür initiative Forderung des Anglisten Bernhard Fabian nach einer „Archivierung der Nationalliteratur“ bzw. einem „Nationalarchiv gedruckter Texte“ wird nicht zitiert: Fabian, B. (1983). Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung. Vandenhoeck & Ruprecht.
Stefan Cramme (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefan Cramme: Rezension von: Rausch, Helke: Wissensspeicher in der Bundesrepublik, Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main 1945–1990. Göttingen: Wallstein-Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535487.html