Christine Lost präsentiert eines der interessantesten Phänomene der Biographisierung der Moderne: Die Herrnhuter Lebensläufe. Sie bieten ein beeindruckendes Reservoir für die Erforschung moderner Ego-Dokumente. Lost hat diesen Schatz im Rahmen eines DFG-Projekts bearbeitet und zu heben begonnen.
Die Herrnhuter Brüdergemeine, eine pietistische Religionsgemeinschaft, 1727 durch Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf in Herrnhut (Oberlausitz) gegründet, weist seit 1747 eine eigenständige Tradition der Lebenslaufschreibung auf. Jedes Gemeinemitglied hatte nach einer Anordnung Zinzendorfs vom 22. Juni 1747 seinen Lebenslauf, der beim Begräbnis vorgelesen werden sollte, selbst zu verfassen. Zum Teil erhalten die Lebensläufe nachträgliche Ergänzungen von Familienangehörigen oder anderen Gemeinemitgliedern.
Das Unitätsarchiv in Herrnhut umfasst einen Bestand von mehr als 30.000 Lebensbeschreibungen über einen Zeitraum von dreihundert Jahren. Für das vorliegende Buch sichtete Christine Lost zweitausend Lebensläufe und bezog davon ca. dreihundert in eine genauere Betrachtung ein. Einunddreißig aus diesem Fundus ausgewählte Lebensläufe wurden schließlich detailliert untersucht und sind in einem Quellenteil abgedruckt. Lost ermöglicht somit einen zweifachen Einblick in dieses für die historische Sozialisations- und Biografieforschung kaum zu überschätzende Quellenmaterial: In einem ersten Teil (1-74) ordnet sie die Quelle historisch und kontextuell ein und präsentiert ihre Forschungsergebnisse; in einem zweiten umfassenderen Teil (75-313)‚sprechen die Quellen selbst’. In diesem Sinne stehen die einunddreißig ungekürzt veröffentlichten Lebensläufe im Zentrum des Buchs und vermitteln dem Leser einen ersten, aber durchaus komplexen Eindruck von dem Bestand des Herrnhuter Unitätsarchivs.
Das Besondere an dieser Quelle ist, wie Dietrich Meyer in seinem Geleitwort hervorhebt, die Kontinuität der Produktion herrnhutischer Lebensläufe seit dem 18. bis ins 20. Jahrhundert und damit die wissenschaftliche Chance, Lebensgeschichten des „normalen“ bzw. „einfachen“ Menschen in seinen historischen Kontexten durch verschiedene Generationen in ihren Veränderungen und Stabilitäten rekonstruktiv zu verstehen (VII-IX). Die zweite Besonderheit der Lebensläufe der Herrnhuter Brüdergemeine liegt in ihrer geistig-lebenspraktischen Verortung, da sie sich einerseits der Moderne und der im 18. Jahrhundert beginnenden Autobiographisierung des eigenen Lebens mit dem Ich im Zentrum anschließen, andererseits das Ich im Kontext eines religiös und gemeinschaftlich orientierten Lebens im Blick auf Gott thematisieren und reflektieren (X-XV).
Die dritte und für die erziehungswissenschaftliche Forschung vielleicht zentrale Besonderheit liegt in den Funktionen der Lebenslaufschreibung. Die Lebensläufe fungieren zum einen als Stabilisierungselement der Gemeine; denn sie formulieren gelungenes Leben im Hinblick auf Gott sowie die Selbstverortung und das Engagement in der Gemeine und sichern über diese kommunikative Tradierung das historische Bewusstsein und die Kontinuität der religiösen Organisation. Damit verbunden dienen die Lebensläufe zum anderen als Lehrtexte für die anderen Gemeinemitglieder, da durch die Darstellung des eigenen Lebens, in dem Krisen, Herausforderungen und Zweifel ebenso thematisiert werden wie die erfahrene Unterstützung durch die schützende Gemeinschaft der Brüdergemeine und vor allem durch das Erbarmen Gottes, soll den lebenden Gemeinemitgliedern exemplarisch Orientierung für das eigene Leben geboten werden. Die lebenspraktische Bedeutung liegt also vorrangig in einer pädagogischen Funktion für die Gemeinemitglieder. Die Lebensläufe sollen erzieherisch wirken, wie Lost durch Kontextualisierung der Quellen zur Herrnhuter Brüdergemeine im Detail nachweist. „Das Leben als Lehrtext“ ist die zentrale und von Ulrich Herrmann übernommene These Christine Losts. Es handelt sich demnach letztlich um pädagogische Dokumente, deren Autoren, eingebunden ins pietistische Milieu, eine religiös motivierte Form der Vergemeinschaftung lebten und dokumentierten. Lost begründet ihre These, indem sie die Analogie zur Praxis der täglichen „Losung“ der Herrnhuter Brüdergemeine aufzeigt. Hierbei handelt es sich um Bibelverse, die seit 1728 für ein Kalenderjahr aus dem Neuen Testament ausgelost und denen nach einigen Jahren zusätzlich ergänzende Textstellen zugefügt wurden. Seit 1763 als „Lehrtexte“ bezeichnet, hatten sie den Zweck für das Leben Orientierung zu bieten, „sie sollten ‚Leben’ beeinflussen“ und korrigieren, so Lost (7).
Lost gliedert die Präsentation ihrer Forschungsergebnisse in vier Kapitel. Im ersten Kapitel arbeitet sie zunächst historisch-kontextualisierend und behandelt die „thematischen Grundlagen“ (2-33), indem sie die Lebensläufe in die Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine als einer Religionsgemeinschaft verortet sowie die Historie der Herrnhuter Lebenslaufschreibung im Verlaufe der drei Jahrhunderte rekonstruiert. Anschließend betrachtet sie die Lebensläufe als Praxisform und unterscheidet fünf Funktionen: die rituelle, die historische, die praktische, die kommunikative und die pädagogische Funktion (21). Ihre zentrale These, die Lebensläufe als Lehrtexte zu interpretieren, wird aber in der Darstellung der fünf Funktionen geschwächt, weil jetzt die verschiedenen Funktionen gleichwertig nebeneinander stehen, obwohl sich inhaltlich eine Ordnung anbieten würde, bei der die pädagogische Funktion dominiert. Denn bereits die auf die praktische Funktion gerichtete Perspektive bestätigt Lost implizit in ihrer zentralen These und es zeigt sich auch in allen fünf vermeintlich differenten Funktionen eine bestimmte Dimension des Pädagogischen, worauf Lost jedoch nicht explizit verweist.
Im ersten Kapitel wird zudem der analysierte Lebenslaufbestand knapp nach der gattungsspezifischen Besonderheit und dem Umfang der Manuskripte beschrieben und Aufbau und Struktur der Texte werden diskutiert. Die gattungsspezifische Besonderheit zeigt sich insbesondere in einer „innere(n) Dramaturgie des Herrnhuter Stils“, der literarisch in der Unterscheidung eines ‚äußeren’ und eines ‚inneren’ Gangs durch das Leben zum Ausdruck kommt. Für dieses Grundmuster lassen sich zwar Differenzen in den Jahrhunderten aufweisen, ohne dass es gänzlich aufgegeben wird.
In den folgenden beiden Kapiteln stellt Lost die zentralen und sich wiederholenden Themen der Erzählung der analysierten Autobiographien dar: Das zweite Kapitel (34-54) widmet sich der Frage nach „Tradierten Entwicklungsmodellen“ (34) und Lost weist die folgenden Erzählschemata in den Autobiographien nach: „Erinnerte Kindheit“, „Suchen und Finden: Wege nach Herrnhut und zur Gemeine als ‚Ankunft’“, „‚Davor’ und ‚Danach’: Schnittstellen“ sowie „Lebensenden und Nachträge“. Das dritte Kapitel „Kommunikationsmodell und Lehrtext“ (55-70) befasst sich mit den Unterabschnitten „Der Blick nach innen und zurück: ‚Nachricht von sich’“, „Der Blick auf sich: das Selbstbild“, „Die Überblickung der Gemeinschaft und eingreifende Zeitereignisse“ vor allem mit der auf das Selbst gerichteten Perspektive und der Selbstkonstruktion und -reflexion im Kontext von individuellem Leben und historischen Zeitereignissen. Das vierte Kapitel „‚Nachricht von sich’: Bestandteil einer methodischen Lebensführung und Medium sozialer Kommunikation“ stellt den Zusammenhang von erzieherischer Absicht und der Spezifik der Lebensbeschreibungen als Kommunikationsmittel der Brüdergemeine dar.
In ihren Analysen kann Lost insgesamt zwar die Logik der von ihr behaupteten Binnenstrukturen und der Typik der Reflexion aus der pädagogischen Absicht an einzelnen Textstellen belegen. Ihre leitende These wird jedoch nicht systematisch und als heuristischer Rahmen für die Analyse der Autobiographien genutzt. Dies hätte sich durchaus angeboten, da die Lebensläufe sich ganz offenkundig um die pädagogisch ausgelegte Kategorie der „Entwicklung“ zentrieren, so dass die von Lost betonte zentrale Funktion der Texte sich auch in der Struktur und Methodik der Reflexion der Lebensläufe wieder findet. Ohne die These vom „Lehrtext“ überdehnen zu müssen, bietet die pädagogische Funktion ein Gesamtverständnis der Quelle, aber das wird von Lost nur andeutungsweise und noch nicht hinreichend genutzt.
Der Ergebnispräsentation folgen die alphabetisch nach Autorennamen angeordneten Dokumente, die durch ein zusätzliches chronologisches Verzeichnis der alphabetischen Anordnung in einem dritten Verzeichnis zugeordnet sind und mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis im Anhang präsentiert werden. Die Auswahl der Quellen soll die Proportionen hinsichtlich der Zeiträume zwischen 1750 und 1950 wahren sowie das Geschlecht der Mitglieder und die Vielfalt von gelebtem Leben im Kontext der Herrnhuter Brüdergemeine repräsentieren (XVIII und 74). Das sind nachvollziehbare Auswahlkriterien, auch wenn man sich Alternativen denken kann, wie z.B. soziales Milieu, Beruf, Alter. Dem einzelnen abgedruckten Lebenslauf wird die Archiv-Signatur oder die Literaturangabe der Publikation zugeordnet. Man erhält Angaben zum Typus als selbst- oder fremdverfasst, zum Umfang, zum Manuskript sowie Besonderheiten (z.B. dass es sich um einen Missionarslebenslauf handelt) werden vorangestellt. An dieser Stelle hätte der Leser sich einen einführenden Überblick mit Angaben über den untersuchten Gesamtbestand gewünscht, so dass nicht nur ein schneller Einblick in die abgedruckten Texte möglich ist, sondern auch eine Einschätzung der ausgewählten einunddreißig Quellentexte in Relation zu dem zugrunde gelegten Bestand der dreihundert bzw. zweitausend Lebensläufe. Die Literaturverweise und das Literaturverzeichnis berücksichtigen allgemeine Literatur zur Herrnhuter Brüdergemeine und dem historischen Kontext sowie selbstverständlich den Forschungsstand zur Herrnhuter Lebenslaufforschung.
Bei allem Gewinn für den Nutzer dieser Edition, die forschungsrelevanten Fragen, wie man mit einem solch umfangreichen Material methodisch umgeht und welchen theoretischen Zugang zur Analyse und Interpretation der Quellen man begründet wählt, bleibt leider weitgehend offen. Lost verzichtet darauf, die Forschungsfragen z.B. durch ein einleitendes Kapitel aufzunehmen oder ihre eigene Theorie und Methode der Analyse explizit zu begründen. Ihre Ergebnisse werden allein mit exemplarischen Zitaten und Textstellen aus den Dokumenten präsentiert. Die generalisierenden Aussagen, die sich auf ein Material von mindestens einunddreißig bzw. dreihundert Dokumenten beziehen, sind damit aber methodisch nicht begründet. Die Frage nach dem „Wie“ der qualitativen Auswertung bleibt unthematisiert, und aufgrund der fehlenden theoretisch-methodischen Reflexion der Forschungsergebnisse entstehen systematische Probleme. Schon Losts zentrale These, dass es sich bei den Lebensbeschreibungen um „Lehrtexte“ handelt, wie es sich aus den Dokumenten selbst begründen lasse, d.h. sich aus der Intention und der Funktion der Lebensläufe zwanglos ergebe, wird trotz der mehrperspektivischen Darstellung ihrer reichhaltigen Forschungsergebnisse nicht in letzter Stringenz verdeutlicht. Es steht demnach eine theoretisch begründete, reflektierte und methodisch gesicherte, differenzierte Analyse noch aus.
Dennoch: Mit diesem Buch erhält der Leser durch die einunddreißig abgedruckten Lebensbeschreibungen einen Ausschnitt beeindruckender Quellen, auch wenn diese aufgrund ihrer Komplexität und Vielfalt noch nicht ausgeschöpft sind, und er kann auf eine Kommentierung, Historisierung und interessante Interpretation der Quelle durch Christine Lost zurückgreifen – analysieren muss er dann selbst.
EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)
Das Leben als Lehrtext
Lebensläufe aus der Herrnhuter Brüdergemeine
Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2007
(337 S.; ISBN 978-3-8340-0149-8; 19,80 EUR)
Nicole Welter (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Welter: Rezension von: Lost, Christine: Das Leben als Lehrtext, Lebensläufe aus der Herrnhuter BrĂĽdergemeinde. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400149.html
Nicole Welter: Rezension von: Lost, Christine: Das Leben als Lehrtext, Lebensläufe aus der Herrnhuter BrĂĽdergemeinde. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400149.html