EWR 7 (2008), Nr. 5 (September/Oktober)

Michael Zimmer-MĂĽller
Grenzenlose Pädagogen?
Die Autoren des deutschen und amerikanischen pädagogischen Zeitschriftendiskurses 1890-1945
Aachen: Shaker 2008
(496 S.; ISBN 978-3-8322-6858-9; 49,80 EUR)
Die Frage, wer neben einem Lehrer als „Pädagoge“ im Sinne eines Forschers oder forschenden Praktikers im komplex-semantischen Feld oder in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin bezeichnet wird (oder werden darf), hat sich heute mehr oder weniger im Begriff „Bildungsforscher“ erledigt. Das Fragezeichen im Titel von Michael Zimmer-Müllers Dissertation könnte auch darauf anspielen, dass jene Frage eine längere Tradition hat. Doch ist die Prosopographie der Akteure eines wissenschaftlichen Feldes oder einer Disziplin nur ein Teil von Zimmer-Müllers umfassender Arbeit zu den Autoren der deutschen und amerikanischen (pädagogischen) Zeitschriften im Zeitraum von über 50 Jahren. Neben der kollektivbiographischen Analyse des Autorenkorpus dieser Zeitschriften bezogen auf deren Thematisierung des (pädagogischen) Auslandes fragt Zimmer-Müller nach der Quantität und Qualität der internationalen Rezeption in 21 deutschen und neun amerikanischen Zeitschriften zwischen 1890 und 1945. Rezeption wird dabei als „Auslandsbezug eines Zeitschriftenaufsatzes“ verstanden (38 f.). In diesem Sinne bezeichnet der ursprüngliche Titel der 2007 an der Universität Mannheim eingereichten Dissertation „Internationale Rezeption in der Erziehungswissenschaft im deutsch-amerikanischen Vergleich 1890-1945: Prosopographische Untersuchungen zum Autorenkorpus des internationalen pädagogischen Zeitschriftendiskurses“ den Inhalt des Buches präziser. Aber im Spannungsfeld beider Titel liegt die o.g. Frage nach der Zugehörigkeit zu Feld oder Disziplin bzw. der Geschichte der komplexen Konstituierung der Pädagogik als Wissenschaft, der mit der vorliegenden Studie in doppelter Kärrnerarbeit ein weiterer Stein hinzugefügt wurde.

Dabei fragt der Autor nicht vordergründig disziplingeschichtlich. Vielmehr untersucht er den Internationalisierungsgrad der deutschen und amerikanischen Pädagogik. Diesen über die Zeitschriften zu erschließen ist sinnvoll und hat Tradition [1]. Hierzu geht Zimmer-Müller in einer Art Zangenbewegung aus quantitativer und qualitativer Analyse vor. Nach einem Forschungsüberblick, der die im Deutschen Reich und in den USA unterschiedlich verlaufenden Disziplinbildungsprozesse sowie die Entstehung und Ausgestaltung der jeweils nationalen/regionalen Bildungssysteme kurz beschreibt, folgen einerseits zwei ausführliche Abschnitte zum quantitativen Umfang des auslandsbezogenen Schrifttums und dessen Autoren. Andererseits werden in einer epochalen Dreiteilung (1890-1918, 1919-1933, 1934-1944) ausführlich die thematischen Schwerpunkte des Auslandsbezuges in den deutschen und amerikanischen Zeitschriften verglichen.

Zu Beginn des ersten Teils (Kapitel 2) werden neben Häufigkeitsauszählungen (Internationalisierungsindices) auch die Themenkonjunkturen und der Länderbezug nach Zeitschriften(milieu) und Land sowie im zeitlichen Verlauf dargestellt. Schließlich nehmen die Autoren der Auslandsberichterstattung (Kapitel 3 und 4) entsprechend der Fragestellung einen bedeutenden Platz ein. Diese werden nach Berufsgruppen, nationaler Herkunft und Geburtskohortenzugehörigkeit quantitativ erfasst. Ergänzt wird dies durch einen 130-seitigen Anhang mit den Kurzbiographien der Autoren. Im Ergebnis zeigt sich einerseits die Alters-, aber vor allem Professionsheterogenität der Autoren, was wiederum die Frage der Zugehörigkeit zu Feld oder Disziplin aufwirft. Auffällig ist, dass über den gesamten Zeitraum nahezu jeder zweite Autor in den deutschen Zeitschriften Lehrer war. In den amerikanischen Zeitschriften waren es mit über 80% Hochschulangehörige (155). Andererseits können hier u.a. zwei Typen von Autoren ausgemacht werden, die in Zimmer-Müllers Arbeit von herausgehobener Bedeutung sind: Internationalisten und solche, die als Wegbereiter einer vergleichenden Erziehungswissenschaft anzusehen sind.

Im zweiten Teil (Kapitel 5) steht neben der abermaligen Quantifizierung der Berufszugehörigkeit der Autoren im jeweils untersuchten Zeitraum die qualitative Analyse der Gegenstände des Auslandsbezuges im Mittelpunkt. Exemplarisch wird das autoren-, vor allem aber länderspezifische Interesse am Ausland offen gelegt. Hier sind bspw. Themen wie Internationalisierung, Frieden und Völkerverständigung (deutsche Zeitschriften) oder der Sendungswille der amerikanischen Pädagogik (amerikanische Zeitschriften) in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hervorzuheben. Ebenso finden sich in diesem Kapitel lesenwerte längere Analysen des auslandsbezogenen Schrifttums einzelner Autoren wie Erich Hylla zum amerikanische Bildungswesen (255 ff.) oder aber zum Auslandsbezug als Mittel der NS-Propaganda bei Theodor Wilhelm (285 ff.). Hier bringt Zimmer-Müllers Arbeit „Diskurs“ als Deskription (und theoretisiert als Analyse) von Argumentationsfolgen, „in denen Geltungsansprüche begründet werden“ [2], zur Geltung. Die inhaltliche Heterogenität der Thematisierung des Auslandes, auf die im Fazit noch einmal dezidiert hingewiesen wird, findet nicht zu unrecht im gesamten Verlauf der Arbeit ihren Ausdruck in Formulierungen wie „auslandsbezogene Publikationen“, „Artikel, in denen sich die Autoren … mit dem Ausland befassen“, „Auslandsberichterstattung“ oder „Auslandsrezeption“. In der Vielzahl der Verwendung des Begriffs über die gesamte Arbeit hinweg ist dieser „Diskurs“ eher „Kommunikation“[3].

Insgesamt ist Zimmer-Müllers Arbeit eine interessante und detailreiche Studie zur Intensität und zur Qualität der Rezeption internationaler pädagogischer Trends bzw. ausländischer Bildungssysteme und deren vielgestaltigen thematischen Ausprägungen von der Kleinkindpsychologie bis zur universitären Bildung in deutschen und amerikanischen Zeitschriften. Zudem stehen mit den Autoren dieser Zeitschriftenbeiträge jene im Blickfeld, die als Akteure im pädagogischen Feld oder in der Pädagogik als Wissenschaft das Ausland zum Thema machen und so das Ausland als Teil des jeweils nationalen pädagogischen Wissens (oder Diskurses) zu institutionalisieren versuchten. Dass dies in einer professionsheterogenen Weise geschah, wie Zimmer-Müllers Arbeit nachdrücklich zeigt, kann als weitere Herausforderung für eine noch ausstehende Geschichte der Erziehungswissenschaft gesehen werden. Die bereits erwähnten Kurzbiographien im Anhang kann man in diesem Zusammenhang nur noch einmal hervorheben als eine spezifische Ergänzung zu vorliegenden Arbeiten [4]. Schade ist, dass auf ein Personenregister verzichtet wurde.


[1] Vgl. u. a. Zymek, B. (1975): Das Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion. Schulpolitische Selbstrechtfertigung, Auslandspropaganda, internationale Verständigung und Ansätze zu einer Vergleichenden Erziehungswissenschaft in der internationalen Berichterstattung deutscher pädagogischer Zeitschriften 1871-1952. Ratingen/Kastellaun. Keiner, E. (1999): Erziehungswissenschaft 1947-1990. Eine empirische und vergleichende Untersuchung zur kommunikativen Praxis einer Disziplin. Weinheim.
[2] Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar. Band I: A-G. Berlin/New York 1997, S. 372.
[3] Vgl. u. a. Keiner, Edwin (wie Anm. 2)
[4] Horn, K.-P. (2003): Erziehungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert. Zur Entwicklung der sozialen und fachlichen Struktur der Disziplin von der Erstinstitutionalisierung bis zur Expansion. Bad Heilbrunn/Obb.
Thomas Koinzer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Koinzer: Rezension von: Zimmer-MĂĽller, Michael: Grenzenlose Pädagogen?, Die Autoren des deutschen und amerikanischen pädagogischen Zeitschriftendiskurses 1890-1945. Aachen: Shaker 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383226858.html