EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Anke B. Liegmann / Ingelore Mammes / Kathrin Racherbäumer (Hrsg.)
Facetten von Übergängen im Bildungssystem
Nationale und internationale Ergebnisse empirischer Forschung
Münster / New York / München / Berlin: Waxmann 2014
(260 S.; ISBN 978-3-8309-3063-1; 34,90 EUR)
Facetten von Übergängen im Bildungssystem Der Sammelband greift ein derzeit aktuelles Thema innerhalb der Erziehungswissenschaft auf. 18 Beiträge werden von den drei Herausgeberinnen in fünf Sektionen geordnet: Übergang vom Kindergarten in die Grundschule (zwei Beiträge), von der Grundschule in die Sekundarstufe I (fünf Beiträge), Übergang in die Sekundarstufe II bzw. in den Beruf (drei Beiträge) sowie „irreguläre Übergänge“ (drei Beiträge) und Übergänge im Bildungssystem anderer Länder (fünf Beiträge). Die Herausgeberinnen dieses Sammelbandes sehen das verbindende Element aller Beiträge in der Frage, „inwiefern unterschiedliche Übergangsmodelle dem Anspruch auf Individualisierung gerecht werden und in welcher Weise sie realisiert werden“ (7).

Die beiden Beiträge zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule thematisieren einerseits den von Kindern nur vermeintlich als Bruch erlebten Übergang (Katharina Kluczniok / Hans-Günther Roßbach) und andererseits die (erwartungswidrig ausbleibenden) Effekte besonderer Maßnahmen für Kinder mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch (Katja Koch). Kluczniok und Roßbach plädieren dafür, über die Bildungspläne für frühkindliche Erziehung curricular eine Abstimmung zwischen den Institutionen herzustellen und sich in der pädagogischen Arbeit auf die Kinder zu konzentrieren, die tatsächlich Übergangsprobleme haben. Koch kritisiert, dass die meisten Sprachförderprogramme im Kindergarten auf die Alltagssprache anstatt auf die für die Schule unabdingbare Bildungssprache fokussieren.

Während der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule innerhalb der Disziplin ein bereits stark bearbeitetes Feld darstellt, rückt der Übergang in die Sekundarstufe I erst allmählich stärker in den Blick. Bezogen auf diesen Übergang macht Anke B. Liegmann zwei vorherrschende Forschungslinien aus: Eine erste fokussiert die leistungsgerechte Zuweisung in die Sekundarschule; eine zweite bearbeitet den Übergang über das so genannte Fähigkeitsselbstkonzept. Gleichwohl verwundert es, dass in einem einleitenden Überblick qualitative bzw. soziologische Studien überhaupt nicht erwähnt werden. Die weiteren vier Beiträge thematisieren Studien zu Elternwahlentscheidungen zwischen G9- und G8-Gymnasien (Svenja Mareike Kühn), zur Gestaltung des Übergangs von der Primar- zur Sekundarstufe im Hinblick auf die im Schulgesetz von NRW verankerte flexible Schuleingangsphase sowie das Recht auf individuelle Förderung (Kathrin Racherbäumer), zur schulstufenübergreifenden Kooperation in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften in NRW (Kathrin Racherbäumer / Marcus Kohnen) und exemplarisch – nämlich am Beispiel technischer Bildung – die Konsistenz von Lehrplänen über die Primarstufe hinaus bis ins Gymnasium (Ingelore Mammes / Kristin Schäfer). Die Beiträge liefern interessante Einsichten zur Übergangsproblematik und werfen weiterführende Fragen auf. So weist Svenja Mareike Kühn daraufhin, dass die zunehmende Entscheidung der Eltern für Gymnasien auch ohne eine solche Empfehlung eine Veränderung der Schülerschaft bedeutet. Verschenkt wird in dieser Sektion Querverbindungen zu ziehen; so thematisieren die Beiträge von Kathrin Racherbäumer sowie Ingelore Mammes und Kristin Schäfer jeweils anders technische Bildung im Rahmen des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts, ohne Bezüge herzustellen. So fragt man sich, ob die von Racherbäumer konstatierte Unterschiedlichkeit der individuellen Förderung im Unterricht – in der Primarstufe über niveauunterschiedliche Materialen; in der Sekundarschule über unterschiedliche Bearbeitungsdauer – auf die jeweilige curriculare Einbettung des Faches zurückzuführen ist, die ggf. in der Primarstufe mehr Zeit lässt, während in den ersten Klassenstufen der Sekundarschule zunächst Grundlagen in den naturwissenschaftlichen Fächern zügig gelegt werden müssen oder eben nicht.

Hinsichtlich des Übergangs in die Sekundarstufe II stellen Grit im Brahm und Gabriele Bellenberg die vielfältigen und doch je nach Bundesland unterschiedlichen Wege mitsamt ihren Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler dar. Der Übergang in den Beruf wird lediglich in zwei Beiträgen fokussiert: Einmal geht es um Determinanten von Berufswahlentscheidungen von Jugendlichen in der Deutschschweiz (Markus P. Neuenschwander / Marcia Hermann) und einmal um die Vorstellung eines für die Stadt Köln entwickelten Instruments zur AbsolventInnenbefragung dualer Ausbildungsgänge an 17 städtischen Berufskollegs (Jürgen Zepp / Johannes König). Auffällig an dieser Sektion ist, dass sie nur rudimentär vertreten ist, obwohl Übergänge nach der Sekundarstufe lebensgeschichtlich von besonderer Bedeutung für die Heranwachsenden sind. Grit im Brahm und Gabriele Bellenberg machen dabei überhaupt auf einen Übergang aufmerksam, der im allgemeinbildenden Schuldiskurs gar nicht als solcher wahrgenommen und diskutiert wird: den Übergang in die Sekundarstufe II, der jedoch gerade für Schulkarrieren abseits des regulären Weges von besonderer Bedeutung ist. Wünschenswert wären für diese Sektion weitere Beiträge zum Übergang in den Beruf gewesen.

Die Sektion zu „irregulären Übergängen“ umfasst Aspekte wie Schulformwechsel während der Sekundarstufe I (Gabriele Bellenberg), Klassenwiederholungen und deren biographische Folgen (Denise Demski / Anke B. Liegmann) und die Akzeleration von hochbegabten Schülerinnen und Schülern durch Überspringen von Klassenstufen, vorzeitige Einschulung, Binnendifferenzierung oder über separierte Beschulung (Anna Gronostaj / Miriam Vock). Damit wird ein breites und interessantes Spektrum eröffnet, das es versteht, die institutionellen Übergänge noch einmal thematisch zu öffnen. Demski und Liegmann kommen zu dem Ergebnis, dass Klassenwiederholungen keine Nachteile im Verlauf der Biographie hervorbringen. Daraus müsste eigentlich folgen, dass dieser Sachverhalt keiner weiteren (Forschungs-)Aufmerksamkeit bedürfe, jedoch verweisen die Autorinnen dann doch im Argumentationsgang überraschend auf die ökonomischen Kosten solcher Klassenwiederholungen. In dieser Beziehung hätten hier vielleicht qualitative Studien über die Verarbeitungsprozesse von Klassenwiederholern Aufschluss geben können. Aber es ist wiederum (allein) Gabriele Bellengberg, die es versteht, in ihrem Beitrag sowohl quantitative als auch qualitative Studien zu berücksichtigen. Gerade diese „irregulären Übergänge“ machen deutlich, dass Studien zu den subjektiven Verbeitungsmodi noch einmal anders Aufschluss zu Phänomenen der Klassenwiederholung und Akzeleration geben könnten.

Die internationalen Beiträge versammeln ganz unterschiedliche Fokussierungen auf das Thema der Übergänge. Sie befassen sich mit der Erinnerung an Schule von indigenen Bevölkerungsgruppen in Australien (Leonie McIntosh / Emma Kearney / Tuija A. Turunen / Bob Perry) sowie mit Übergängen im Bildungssystem Chinas (Ke Yu). Demgegenüber thematisieren Elisabeth Mellgren und Ingrid Pramling Samuelsson den Übergang von der Vorschule zur Grundschule in Schweden und konstatieren unterschiedliche Auffassungen vom Lernen in den jeweiligen Institutionen, die den Übergang erschweren. Jane Tobell befasst sich mit Übergängen zwischen Primar- und Sekundarschule in Großbritannien und zeigt an zwei Fallbeispielen, welche Praktiken die einzelne Schule ergreift und wie diese von den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrerinnen und Lehrern bearbeitet werden. Im letzten Beitrag zeigen Diviya Jindal-Snape und Elizabeth F. S. Hannah welche Unterstützungsmaßnahmen für den Übergang von der Primar- zur Sekundarschule in Schottland ergriffen werden. Die internationalen Beiträge können nicht die Funktion übernehmen, die Forschungsergebnisse aus Deutschland in eine internationale Perspektive zu stellen. Sie zeigen gleichwohl an, dass das Thema auch in anderen Ländern diskutiert wird und welche Maßnahmen dort ergriffen werden. Sie dienen dazu, einen ersten Blick über den Tellerrand zu werfen.

Im Sammelband ist eine ansehnliche Anzahl an Beiträgen zum Thema „Übergänge im Bildungssystem“ zusammengestellt. Übergänge im Bildungssystem stehen immer unter der Maßgabe von jedem einzelnen vollzogen und bearbeitet zu werden. Dem entspricht komplementär die institutionelle Forderung, das Individuelle im Übergang zu fördern und zugleich Konzepte zu entwerfen, die für alle Schülerinnen und Schüler gelten können. Der Sammelband bietet mosaikartige Einblicke in entsprechende Übergangsmodelle. Doch bleiben die verbindenden Querlinien der einzelnen Beiträge allzu offen.
Sieglinde Jornitz (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sieglinde Jornitz: Rezension von: Liegmann, Anke B. / Mammes, Ingelore / Racherbäumer, Kathrin (Hg.): Facetten von Ãœbergängen im Bildungssystem, Nationale und internationale Ergebnisse empirischer Forschung. Münster / New York / München / Berlin: Waxmann 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093063.html