EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)

Kerstin te Heesen (Hrsg.)
Pädagogische Reflexionen des Visuellen
MĂĽnster / New York / MĂĽnchen / Berlin: Waxmann 2014
(162 S.; ISBN 978-3-8309-3031-0; 29,90 EUR)
Pädagogische Reflexionen des Visuellen Wiewohl schon Philippe Ariès, der französische Mediävist und Historiker der Annales-Schule, in seiner bereits im Jahr 1960 veröffentlichten, bahnbrechenden Studie über die Geschichte der vormodernen Kindheit zahlreiche Bilder als aufschlussreiche Quellen anführte [1], ist hierzulande in der historischen Bildungsforschung doch im Grunde erst seit etwa 20 Jahren die Forderung laut geworden, Bilder aus vergangenen Epochen – wie Zeichnungen, Kupferstiche oder Gemälde – nicht mehr nur als ergänzende Belege textlicher Quellenaussagen zu nutzen, sondern konsequent als selbständige Quellen zu verstehen, die einen unschätzbar großen Eigenwert aufweisen können, weshalb sie dann auch einer ihrer Eigenart angemessenen Analyse und Interpretation bedürfen [2]. Seither gibt es eine anhaltende Nachfrage nach bildanalytischer Forschung im Rahmen vielfältiger bildungshistorischer Fragestellungen, welche die Rede von einem „pictorial turn“ auch in der Historiographie von Erziehung, Bildung und Unterricht durchaus gerechtfertigt erscheinen lässt. Dass Bilder heute ganz selbstverständlich als Quellen historischer Bildungsforschung betrachtet werden, lässt sich übrigens auch exemplarisch daran ablesen, dass die Berliner Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung ein Bildarchiv zur Bildungsgeschichte aufgebaut hat, das derzeit fast 70.000 Bilder umfasst – Buchillustrationen, Fotografien, Graphiken oder auch Ansichtspostkarten – und leicht zugänglich ist, weil es seit dem Jahr 2000 online zur Verfügung steht [3].

Trotz des gesteigerten Interesses an Bildern als Quellen bildungsgeschichtlicher Zusammenhänge liegen jedoch noch immer vergleichsweise wenige Studien vor, die Bilder gezielt als Träger und Vermittler pädagogischer Inhalte untersuchen. Der jetzt von der Luxemburger Bildungshistorikerin Kerstin te Heesen vorgelegte Sammelband, der die Bedeutung des Bildes als pädagogisch-historische Quelle in seiner elementaren Anschauungspotenz auch als Medium zur „Bildung“ des Herzens und des Verstandes begreift und zahlreiche Bildquellen auf der Grundlage von insgesamt neun einschlägigen Aufsätzen eines internationalen Autorenteams aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt, ist deswegen sehr zu begrüßen. Und wenn mit Geert Thyssen einer der Beiträger konstatiert, dass ungeachtet des gewachsenen Verständnisses für die Bedeutung von Bildquellen „innerhalb der pädagogischen Historiographie das reiche Potential visueller Quellen“ dennoch nach wie vor zu einem großen Teil „unerforscht geblieben ist“ (80), dann weiß die Herausgeberin sehr genau, dass sie mit der vorliegenden Publikation eben deswegen auch nur verschiedene „Annäherungen“ an „Bilder als Träger und Vermittler pädagogisch relevanter Inhalte“ (8) bieten kann. An diesem selbstgesetzten und zu Recht bescheidenen Anspruch sollte die Veröffentlichung denn auch gemessen werden.

Die versammelten Beiträge des Bandes widmen sich ganz verschiedenartigen und doch immer pädagogisch aufschlussreichen bildlichen Darstellungen von Familie, Kindheit, Jugend, Erziehung, Schule und Gesellschaft. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich dabei vom frühen 17. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Alle Autoren versuchen eine Deutung der von ihnen untersuchten Bildquellen mit einer ausführlichen Erklärung der von ihnen angewandten analytischen und interpretatorischen Methoden zu verbinden. Bezug genommen wird dabei vielfach auf Überlegungen von international bekannten Theoretikern des Visuellen wie Erwin Panofsky oder Peter Burke [4], aber auch auf entwickelte Interpretationsansätze von Ulrike Mietzner oder Ulrike Pilarczyk, die selbst auch einen Beitrag zum Sammelband beigesteuert hat [5]. Hervorzuheben ist bereits an dieser Stelle, dass die zahlreichen Illustrationen, mit denen der Band bebildert ist, im Druck durchweg eine hervorragende Qualität aufweisen, ob es sich nun um Fotos der 1980er Jahre oder Ölgemälde aus dem Goldenen Zeitalter der Niederlande handelt.

Holländische Gemälde und Zeichnungen von Malern wie Rembrandt oder Jan Steen, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angefertigt wurden, sind die ältesten Abbildungen, die im Band besprochen und analysiert werden. Es handelt sich dabei vornehmlich um Darstellungen der idealtypisch guten Mutter oder von Eltern, die das Kindeswohl aktiv fördern sowie um Anschauungsmaterial zur Frage der moralischen Gefährdungen, denen Jugendliche mit dem Eintritt in das Lebensalter der Pubertät ausgesetzt sind. Interpret dieser Bilder ist Jeroen Dekker, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Erziehung an der Universität Groningen. Er weist in seinem englischsprachigen Beitrag nach, dass die holländische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts sehr bewusst mit Bildern lebte, da nicht nur die Bürger, sondern auch Bauern sich den Ankauf von Gemälden leisten konnten. Ausländische Besucher der Niederlande seien immer wieder überrascht gewesen, „to see even the walls of farmhouses hung with paintings“ (30). Wenn auf diesen so beliebten Gemälden also bestimmte Erziehungsthemen und -probleme immer wieder in ähnlicher Weise ins Auge springen, sei ganz offenkundig davon auszugehen, dass diese Bilder „the main educational and moral discourse“ (46) der Niederländer zur Zeit des Goldenen Zeitalters widerspiegeln. Das ist ein sehr wichtiger Hinweis, weil er deutlich macht, dass auch die in der historischen Bildungsforschung wieder verstärkt betriebene Ideen- und Diskursgeschichte in besonderer Weise auf die Interpretation von Bildern angewiesen bleibt.

Die Herausgeberin te Heesen widmet sich in zwei Beiträgen, von denen ein englischsprachiger in Ko-Autorschaft mit Karin Priem entstanden ist, diversen Familien- und Kinderporträts des 19. Jahrhunderts. Sie weist darin nach, dass häufig nicht die abgebildeten Inhalte, sondern die fehlenden, doch zu erwartenden Bildaussagen und -gegenstände für den Bildinterpreten die eigentliche Botschaft und zugleich Herausforderung sind. In vielen Familienporträts des 19. Jahrhunderts falle auf, das dort der „leiblichen Abwesenheit“ von Eltern durch eine „symbolische Anwesenheit“ begegnet werde und zwar von Gegenständen, die als das Kind „beschützend[e] Platzhalter“(24) zu verstehen sind. Die Deutung dieser Symbole führe dann oftmals näher auf die eigentliche Bedeutung der konkreten Elternschaft hin als auf die Bedeutung der im Bild zu sehenden Personen. Klar wird durch te Heesens anregende Ausführungen auch, dass erst eine genaue Kenntnis der Bildersprache einer bestimmten Zeit oder eines historischen Ortes die umfassende Interpretation von in diesem Kontext entstandenen Bildern möglich werden lässt, weil nur die Kenntnis des Erwartbaren das Entdecken des Fehlenden möglich werden lässt.

Schwarzweiß-Fotografien der 1920er und 1930er Jahre werden dann in Beiträgen von Ulrich Hägele und Geert Thyssen einer genauen Analyse unterzogen, wobei Hägele die Darstellung von „ungeschminkter“ kindlicher Armut in den USA untersucht und Thyssen die gezeigte Wirklichkeit einer deutschen Waldschule in Westfalen, in der Kinder auch in ihrer „natürlichen“ Nacktheit gezeigt werden. Beide Aufsätze versuchen den Betrachter dafür zu sensibilisieren, dass es gerade bei emotional berührenden Fotografien darum geht, nicht vorschnell den kritischen Blick auf die gezeigten Personen aufzugeben, da es sich bei Fotografien immer auch um Bildinszenierungen handelt. Wie eine Binsenwahrheit unserer heutigen, bilderverliebten Zeit klingt es daher, wenn Hägele mahnt: „Wir können nicht früh genug damit anfangen, im Kindergarten oder in der Schule spielerisch mit Bildern zu arbeiten“ (77). Dennoch ist ihm sicherlich beizupflichten.

Mit der fotografisch dokumentierten und inszenierten Jugendkultur der 1980er Jahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts befassen sich die Beiträge von Ulrike Pilarczyk und Sieglinde Jornitz. Es sind dies Abhandlungen über fotografisches Material, das ganz anders als die Fotografien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Anfang an keinen naiven oder unverstellten Blick auf die gezeigten Menschen suggerieren. Sie fordern dem Betrachter vielmehr ab, sich als kritischer Interpret der dargestellten Situationen zu bewähren. Besonders interessant ist ein Hinweis von Jornitz, der verdeutlicht, dass jede Betrachtung von Kinder- und Jugendbildern „spezifisch pädagogisch geformt“ (131) ist. Gibt sich ein Betrachter Rechenschaft darüber, wie er auf die gezeigten Bilder reagiert – etwa aufgeregt, gelassen oder besorgt –, wird er oder sie sich der eigenen pädagogischen Haltung bewusst. Bilder dokumentieren also nicht nur pädagogische Situationen der Vergangenheit, sondern geben auch Aufschluss über die Betrachtungsweise (beispielsweise eines Bildungshistorikers) der Gegenwart.

Als Plädoyer für das Anfertigen von Fotografien im Unterricht – es geht dabei zugleich auch um das Anlegen von archivalischem Bildmaterial für die Bildungshistoriker von morgen – liest sich Christoph Lesers Artikel. Will man wissen, wie es Schülern in Schule und Unterricht ergeht, sind Fotografien von Unterrichtsszenen ein vollkommen adäquates Mittel zu diesem Zweck, da sie einen „mußevollen und reflexiven Blick auf den Schüler als Subjekt“ (103) erlauben. Dabei kann es vorkommen, dass Schüler in einer „Gleichzeitigkeit von Teilnahme und Rückzug“ (114) vom Unterrichtsgeschehen zu sehen sind, was vielleicht keine ganz überraschende Einsicht für alle diejenigen ist, die in der Schule schon einmal unterrichtet haben oder selbst unterrichtet wurden.

Abgesehen von dem Schlussbeitrag des Sammelbandes – in der Marie-Christin Nowak die fotografischen Abbildungen der RAF-Ikonen Ulrike Meinhof und Holger Meins auf ihre Authentizität hin überprüft und dabei jedweden Hinweis auf pädagogische Reflexionen des Visuellen komplett ausspart – bieten die von te Heesen zusammengestellten Aufsätze vielfach interessante und bedenkenswerte Überlegungen zur Bedeutung von Bildquellen in der historischen Bildungsforschung. Der Band bietet viele Anregungen, enthält weiterführende Annäherungen an Bilder als Träger und Vermittler pädagogischer Inhalte und wird daher seinem eigenen Anspruch durchaus gerecht.


[1] Ariès, Ph.: Geschichte der Kindheit (Originaltitel: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960, übersetzt von Caroline Neubaur und Karin Kersten), München: 1975.
[2] Vgl. z. B. Pöggeler, F.: Bild und Bildung. Beiträge zur Grundlegung einer Pädagogischen Ikonologie und Ikonographie, Frankfurt am Main: 1992; Link, J.-W. / Schmitt, H. / Tosch, F. (Hrsg.): Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbrunn: 1997.
[3] Das Online-Bildarchiv zur Bildungsgeschichte der Berliner Bibliothek fĂĽr Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) heiĂźt Pictura Paedagogica Online und ist im Web einsehbar unter: http://opac.bbf.dipf.de/virtuellesbildarchiv/
[4] Burke, P.: Augenzeugenschaft: Bilder als historische Quellen (Originaltitel: Eyewitnessing. The Uses of Images as Historical Evidence, New York: 2001, übersetzt von Matthias Wolf), Berlin: 2003; Panofsky, E.: Ikonographie und Ikonologie [1939/1955]. In: Kaemmerling, E. (Hrsg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklungen – Probleme. Bildende Kunst als Zeichensystem, Band 1, Köln: 1994.
[5] Mietzner, U. / Pilarczyk, U. / Myers, K. / Peim, N. (Hrsg.): Visual History. Images of Education, Bern: 2005.
JĂĽrgen Overhoff (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂĽrgen Overhoff: Rezension von: Heesen, Kerstin te (Hg.): Pädagogische Reflexionen des Visuellen. MĂĽnster / New York / MĂĽnchen / Berlin: Waxmann 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093031.html