EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Christian Fischer (Hrsg.)
Diagnose und Förderung statt Notengebung?
Problemfelder schulischer Leistungsbewertung
MĂĽnster: Waxmann 2012
(176 S.; ISBN 978-3-8309-2665-8; 16,90 EUR)
Diagnose und Förderung statt Notengebung? Das von Christian Fischer herausgegebene Buch stellt eine Sammlung von Beiträgen dar, die im Rahmen der „Münsterschen Gespräche zur Pädagogik 2011“ von Wissenschaftler_innen, Schulpraktiker_innen und weiteren Bildungsarbeitenden eingebracht und diskutiert wurden. Als Referenzpunkt der Auseinandersetzung lässt sich nach Christian Fischer „ein deutliches Unbehagen im Hinblick auf die Praxis und Wirkung von Schulnoten“ (7) bestimmen, da die schulische Leistungsbewertung zunehmend als „ambivalent“ (ebd.) erscheine: „Sie ist offenkundig notwendig, zugleich gibt es Kritik in Bezug auf die Formen, Qualität und nicht zuletzt auf einzelne Ziele der schulischen Leistungsbeurteilung“ (ebd.). Die Beiträge des Bandes wollen auf das pädagogische Unbehagen reagieren. Das Buch untergliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil finden sich Texte von Eiko Jürgens, Hansjörg Scheerer, Felix Winter, Katrin Rakoczy und Silvia-Iris Beutel, die sich überwiegend theoretisch mit „Problemfelder[n] schulischer Leistungsbeurteilung“ beschäftigen. Im zweiten Teil stellen die Autoren Gisela Gravelaar, Barbara Riekmann, Michael Wildt, Angela Köhler, Christian Fischer, Karsten Patzer, Mario ten Venne und Karin Volkwein „Alternative Beurteilungskonzepte“ für die und aus der Praxis vor. Alles in allem kann gesagt werden, dass die Beiträge des Bandes weitgehend von dem Gedanken getragen sind, dass die Schule von einer neuen Lernkultur (Stichworte: offene Lernangebote, Individualisierung, Diagnostik und Förderung) bestimmt ist bzw. sein sollte und dass das Unterrichtsgeschäft infolgedessen neue Formen der Leistungsbewertung benötige. Welche Beiträge liefern die Autoren im Hinblick auf das Unbehagen an der schulischen Leistungsbewertung? Was kann eine an Diagnose und Förderung orientierte Schulpädagogik leisten?

Das Grunddilemma der Institution Schule liegt bekanntlich in ihrem gesellschaftlichen Auftrag, die ihr anvertrauten Kinder sowohl zu fördern als auch zu selektieren (vgl. [1]). Das Unbehagen an der Bewertungs- und Selektionspraxis stellt sich spätestens ab den 1970er Jahren im Anschluss an Karlheinz Ingenkamp als ein dreifaches Gerechtigkeitsproblem dar: Die an der Notengebung orientierten Selektionsprozesse sind nur mäßig objektiv; die Bewertungspraxis benachteiligt vermutlich Kinder sogenannter bildungsferner Milieus (vgl. auch [2]) und sie ist zudem sozial folgenreich, da die weiterführenden Schulen hochdifferente Lernmilieus darstellten ([3], vgl. auch [4]). Dieser Effekt kann möglicherweise auch für Kurssysteme, vielleicht sogar für Binnendifferenzierung generell vermutet werden.
Wie reagieren die vorliegenden Beiträge auf das pädagogische Strukturproblem? Da die praktisch orientierten Beiträge die hier aufgeworfenen Fragen nur implizit berühren, werden im Folgenden die theoretisch orientierten Beiträge diskutiert.

Ausgehend vom Gerechtigkeitsproblem der Notengebung argumentiert William Middendorf für eine Hinwendung zum Kompetenzraster. Während mit einer Leistungsbewertung, die sich an der sozialen Bezugsnorm (Bildung einer Rangreihe) orientiere, zwar Aussagen ermöglicht würden, wer von den Schüler_innen einer Klasse besser oder schlechter sei, könnten mit der Verwendung von sachlichen bzw. kriterialen Bezugsnormen (z.B. Führerscheinprüfung) Aussagen darüber getroffen werden, was die Geprüften inhaltlich können würden. Nach Middendorf wäre das Kompetenzraster (im Gegensatz zur klassischen Notengebung) als kriteriales Messinstrument anzusehen und sein Nutzen läge nicht nur in einer höheren Objektivität der Leistungsbeurteilung, sondern auch in der Sichtbarkeit dessen, was die geprüfte Person kann und was sie noch zu lernen hat. Es wäre also zugleich als Messinstrument und als Teil eines pädagogischen Verständigungsprozesses anzusehen.

Ähnlich diskutiert auch Eiko Jürgens, wobei seine Argumentation darauf abzielt, schulische Leistungsbewertung in den erweiterten Kontext einer Pädagogischen Diagnostik zu stellen, welche „primär auf den (pädagogischen) Erkenntnisgewinn ab[ziele]“ und „nicht auf formalisierte Ausleseprozesse“ (23), da sie „unmittelbar mit dem schulischen Förderprinzip verbunden“ (24) sei. Jürgens fordert vor dem Hintergrund „pädagogisch-psychologischen Theoriewissens zur Erklärung menschlichen Lernens“ eine „generelle Lernzielhomogenität“ aufzugeben, wobei „Lernplananforderungen“ im Sinne eines Curriculums als „Orientierungsmarken“ wichtig wären, damit „allen Heranwachsenden die Chancen auf individuelle Höchstleistungen offen“ (34) blieben. Jürgens argumentiert weiter, dass die Leistungsbewertungen sich sowohl an der individuellen wie sachlichen Bezugsnorm orientieren sollten, damit individuelle Lernwege transparent im Raum gesellschaftlicher Anforderungen möglich seien.

Hansjörg Scheerer fragt im Anschluss an Ingenkamp nach der Qualität des Lehrerurteils im Vergleich zu Tests. Er zeigt auf, dass es aufgrund der Varianz der Noten durchaus zu „gravierende[n] Beeinträchtigungen der Bildungsgerechtigkeit“ (50) komme und fordert nationale Leistungsvergleiche ein. „Unter diesem Aspekt bieten zentrale Abschlussprüfungen ein objektiveres Auswahlkriterium als klassenbezogene Noten. Allerdings lassen sich damit die Einflüsse ungünstiger schulischer Lernbedingungen nicht mehr ausgleichen“ (53), was aber auch hieße, dass durch die Tests offensichtlich werden würde, welche Schulen und welche Regionen besser und welche schlechter abschneiden.

Felix Winter fokussiert in seinem Beitrag „deutliche Spannungsbeziehungen und Widersprüche zwischen einer veränderten, erweiterten Lernkultur einerseits und der tradierten Leistungsbewertung andererseits“ (60). Folglich sei die schulische Leistungsbeurteilung zu reformieren, einerseits wegen des “eklatanten Referenzgruppenfehlers“ (64) und andererseits, weil die offenen Lernprozesse andere Leistungsbewertungspraktiken benötigen. Leistungstests stellten nach Winter keine Lösung dar, da „für viele Bereiche selbständigen, kooperativen individualisierten Lernens keine angemessene Leistungsbeurteilung zur Verfügung“ (65) stünden. Daher sei auf das Portfolio als Methode des Unterrichts wie der Leistungsbewertung zu setzen. Nach Winter ändere sich hierbei die Rolle der Schüler_innen: „Hier sind jeweils auch die Schülerinnen und Schüler gefordert, sie müssen z.B. Auskunft über den Verlauf ihrer Arbeiten geben, Schwierigkeiten und Erfolge selbst und gemeinsam mit anderen einschätzen und auch Konsequenzen (mit-)überlegen“ (66).

Abschließend fordert Silvia-Iris Beutel in ihrem „Plädoyer für die Pädagogisierung der Leistungsbeurteilung“ wie Middendorf u.a., dass „Leistungsanforderungen und Bewertungskriterien offen gelegt und Kompetenzen deutlich ausgewiesen“ (96) werden sollten. „Wenn es mehr denn je um die Entfaltung von Bildungschancen und die Sicherung von Schulerfolg und Abschlüssen geht, ist eine Neubestimmung von Lernen, Unterricht und Leistung unumgänglich. Kultur und Sprache der Schule wenden sich dann von einer „Defizitsemantik“ ab und einer „Fördersemantik“ (Drepper, 1998, S. 75) zu.“ (ebd.)

Wenn man die knapp skizzierten Ansätze der Autor_innen rekapituliert, dann lassen sich im Groben zwei Akzentsetzungen in der Positionierung zu den Problemfeldern schulischer Leistungsbeurteilung erkennen. Jürgens Ansatz benennt explizit das Spannungsfeld von Lernzielhomogenität und individuellen Lernwegen, aber auch Middendorfs, Beutels und vielleicht sogar Scheerers Positionen lassen sich einem balancierendem Umgang dieser Spannungsmomente zuordnen. So soll letztlich durch Kompetenzraster, pädagogische Diagnostiken, standardisierte Tests oder Aufklärung über Leistungsanforderungen Transparenz dahingehend hergestellt werden, dass die individuell Lernenden ihren Leistungsstand zu den Leistungsanforderungen der Gesellschaft oder wenigstens ihrer Klasse relationieren können. Auch wenn sie das Spannungsfeld von Fördern und Selektieren nicht aufzulösen vermögen, könnten diese transparenzorientierten Ansätze zumindest im Anschluss an Bourdieus Rationale Pädagogik „eine Präzisierung der gegenseitigen Anforderungen von Lehrenden und Lernenden“ [5] ermöglichen, was gerade für Kinder benachteiligter Schichten eine wichtige Hilfestellung wäre. Die Ansätze von Winter und Beutel positionieren sich zum Strukturproblem etwas anders, indem erster durch den Einbezug von Schüler_innen in die Notengebung die Verantwortung für den Bewertungsakt ein Stück weit an die Betroffenen delegiert und zweiter durch einen Wechsel in der Semantik möglicherweise das Strukturproblem eher verschleiert als zur Klärung beiträgt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die gut zu lesenden und anschaulich geschriebenen Beiträge der vorliegenden Herausgeberschrift den aktuellen Stand der Probleme und Ambivalenzen im Feld der schulischen Leistungsbewertung gut abbilden. Somit kann also allen Leser_innen, die aktuelle Problemfelder schulischer Leistungsbewertung kennen lernen wollen, das Buch zur Lektüre anempfohlen werden. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass dem Band eine Einordnung und kritische Diskussion der Beiträge fehlt und dass das Gros der Aufsätze kaum Bezüge zu den Erkenntnissen der empirischen Bildungsforschung herstellt, so dass einige Argumentationen zwischen dem Sollen einer „Postulatepädagogik“ und dem Sein einer Bildungswissenschaft kippen. Insofern kann letztlich gar nicht entschieden werden, ob schulische Konzepte, die auf „Diagnose und Förderung statt Notengebung“ setzen, das pädagogische Unbehagen an der Strukturproblematik tatsächlich mehr als nur rhetorisch zu lösen vermögen.

[1] Streckeisen, Ursula / Hänzi, Denis / Hungerbühler, Andrea (2007): Fördern und Auslesen. Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma. Wiesbaden
[2] Ditton, Hartmut (2008): Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, Rolf / Lauterbach, Wolfgang (Hg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. 3. Auflage., Wiesbaden, S. 247-275
[3] Baumert, Jürgen / Stanat, Petra / Watermann, Rainer (2006): Schulstruktur und die Entstehung differenzieller Lern- und Entwicklungsmilieus. In: Dies. (Hrsg.): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wiesbaden, S. 95-188
[4] Zaborowski, Katrin U. / Meier, Michael / Breidenstein, Georg (2011): Leistungsbewertung und Unterricht – Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule, Wiesbaden
[5] Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Ăśber Bildung, Schule und Politik. Schriften zu Politik & Kultur 4. Hamburg, S. 152
Michael Meier (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Meier: Rezension von: Fischer, Christian (Hg.): Diagnose und Förderung statt Notengebung?, Problemfelder schulischer Leistungsbewertung. MĂĽnster: Waxmann 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092665.html