Heinrich Roth hielt 1962 in Göttingen seine Antrittsvorlesung unter dem Titel „Die realistische Wendung in der Pädagogischen Forschung“, die noch im selben Jahr in einer Fachzeitschrift erstmals erschien. Seither wurde die Rede noch mehrmals veröffentlicht. Neben dem Titel, der zum geflügelten und mehrfach modifizierten Slogan geworden ist, wurden insbesondere die Richtung und der Impuls der Rede innerhalb der Erziehungswissenschaft rezipiert, weniger jedoch fand eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem implizierten Programm statt. In gewisser Weise wurde der Text mit dem epochal anmutenden Titel zu einem pädagogischen Klassiker, bei dem es sich scheinbar erübrigte, ihn gründlich zu lesen.
Carolin Lehbergers Dissertationsstudie unternimmt nun den interessanten Versuch, auf der Materialbasis von Roths Œuvre und der darauf bezogenen Sekundärliteratur zu überprüfen, inwiefern der Pädagoge, der als einer der wichtigsten Protagonisten in der Epoche der Bildungsreform der Bundesrepublik Deutschland galt, selbst versucht hat, seine Programmatik zu verfolgen. Die Verfasserin vertritt dabei die These, dass es Roth in seinem Schaffen nach 1962 insbesondere in der zweibändigen „Pädagogischen Anthropologie“ gelang, das Programm der realistischen Wendung mit der selbstgestellten Aufgabentrias von historisch-philosophischer Reflexion, empirischer Erforschung der Erziehungswirklichkeit und deren bildungspolitischen Optimierung erfolgreich zu verfolgen.
Nach einer knappen Einleitung, die auf die unterschiedlichen Gebrauchsweisen und Begriffspolitiken der „realistischen Wendung“ verweist, folgt im zweiten Teil eine detaillierte Analyse der Antrittsrede Heinrich Roths. Der Pädagoge und Psychologe beabsichtigte mit diesem Beitrag, den Modernisierungsrückstand der sich im Etablierungsprozess befindenden Erziehungswissenschaft zu beleuchten und eine empirie- und forschungsbasierte Perspektivenerweiterung anzumahnen. Obwohl die Pädagogik zu Beginn der 1960er Jahre an eine Tradition der experimentellen Pädagogik hätte anknüpfen können, tendiere sie dazu, in einer Art selbstverschuldetem Isolationismus eine rein historisch und philosophisch geprägte und damit beschränkte Wesensschau zu betreiben, die wenig Kooperationsmöglichkeiten mit den inzwischen zu empirischen Wissenschaften gewordenen Nachbardisziplinen der Psychologie und Soziologie zulasse. Einen Bruch mit dem tradierten geisteswissenschaftlichen Zugang zur Pädagogik wollte Roth mit seinem Verständnis der realistischen Wendung jedoch vermeiden. Aus dieser Motivation heraus klingt dann auch Roths Aussage plausibel, dass die wissenschaftliche Pädagogik mit Hilfe andauernder kontinuierlicher empirischer Forschung – ganz im Sinne eines hermeneutischen Zirkelschlusses – regulierend auf die pädagogische Praxis einwirken solle, um mit einem autoritätskritischen Klang Zielsetzungen wie „Mündigkeit“, „geistige Selbstständigkeit“ und „Freiheit des jungen Menschen“ in der Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Da die Legitimationsüberprüfung von Erziehungsnormen und pädagogischen Leitbildern aus pädagogisch-empirischer Forschung nicht erwachsen könne, bleibe die historisch-philosophische Reflexion in der Pädagogik unerlässlich. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik tendiere wiederum dazu, pädagogische Fragen rein deduktiv aus den klassischen Texten zu beantworten, wohingegen Fragen z.B. nach den gesellschaftlichen Begabungsreserven in der Stadt und auf dem Land, nach der Angemessenheit von Zeugnisnoten oder den finanziellen Aufwendungen pro Schüler lediglich mit empirischer Forschung beantwortet werden könnten. Aus Roths Sicht waren erfahrungswissenschaftliche Methoden kein Selbstzweck, sondern dienten der höheren Aufklärung über gesellschaftliche Bedingungszusammenhänge von Erziehung und Bildung. In diesem Abschnitt gelingt es Lehberger gekonnt hervorzuheben, dass Roth in seinem Argumentarium sich – so wie es die geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogen auch taten – des Begriffs „Erziehungswirklichkeit“ bediente, ihn aber semantisch anders auflud. Demnach hielt Roth die Erziehungswirklichkeit mit Hilfe von erfahrungswissenschaftlichen Methoden für „direkt erforschbar“. Dass der von Roth gehegte Anspruch der realistischen Wendung sich nicht nur in der Berücksichtigung empirischer Methoden erschöpfte, sondern darauf hinauslaufen sollte, fast triangulierend die Maschen zwischen Empirie, historisch-philosophischer Reflexion und pädagogischer Optimierung der Erziehungswirklichkeit enger zu ziehen, erwähnt Lehberger im Rahmen einer eher textimmanenten Interpretation dezidiert.
Im dritten Teil der Arbeit nimmt Lehberger sich der Frage an, wie die Vertreterinnen und Vertreter der erziehungswissenschaftlichen Disziplin schreibend auf das Werk von Heinrich Roth reagiert haben. Für eine derartige Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte ermittelt die Verfasserin in Datenbanken und zentralen erziehungswissenschaftlichen Fachorganen in einem ersten Schritt, wie oft Roth dort von 1939 bis 2007 zitiert wurde. Die diesen Textkorpus konstituierenden 152 Beiträge werden in einem zweiten Schritt nach sechs Rubriken klassifiziert und für eine Darstellung des Rezeptionsverlaufes genutzt. Der Rezeptionsverlauf folgt dann auch annähernd einer trivialen Typik von disziplinären Tiefengedächtnissen und Kanonisierungsprozessen: Die Hochkonjunktur der Roth-Rezeption hing mit seinem 60., 65. und 100. Geburtstag sowie mit seinem Todesjahr 1983 zusammen. In Sachen Themenkonjunktur analysiert Lehberger, dass die meisten Texte zu Heinrich Roth sich auf die „realistische Wendung“ beziehen, weitere konzentrierten sich auf sein Gesamtwerk, auf die „Pädagogische Anthropologie“, auf den von ihm initiierten dynamischen Begabungsbegriff sowie auf seine Biografie. Lehberger hält zu diesem Buchabschnitt fest, dass Roth in erster Linie als Wissenschaftstheoretiker oder als pädagogischer Anthropologe wahrgenommen wurde.
Um ihre These zu belegen, dass Heinrich Roth die realistische Wendung als Programm in seinen eigenen Studien umgesetzt hat, spürt Lehberger im vierten Abschnitt ihrer Untersuchung die thematischen Schwerpunkte im Gesamtwerk von Roth auf. Wird die Anzahl der Publikationen nach Themengebieten ausgezählt, fällt auf, dass Roth – entgegen der Rezeptionstendenz in der Scientific community – sich weniger mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen beschäftigte, als man nach seiner Antrittsrede hätte erwarten können. Überzeugend schränkt die Verfasserin, auch aus methodischen Bedenken, diesen Befund ein und rückt das im Vergleich zu den anderen Schriften Roths monumentale Werk der „Pädagogischen Anthropologie“ mehr in das Blickfeld. In diesem Integrationswerk, von dem Otto Friedrich Bollnow behauptete, dass es schon als Versuch eigentlich über die Kraft eines einzelnen Gelehrten hinausgehe, finden sich dann auch die wesentlichen Forderungen und Argumentationsfiguren der realistischen Wendung in der pädagogischen Forschung wieder. Mit den beiden Bänden der „Pädagogischen Anthropologie“, von denen letztlich lediglich der erste Band zu einem Impulsgeber in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft wurde, beabsichtigte Roth auch ein Umdenken in Lern-, Erziehungs- und Schulreformfragen anzuregen. In diesem Abschnitt tendiert Lehbergers Studie zu einer Werk-Monografie mit präzisen Inhaltsangaben, die zur Relektüre einladen. Aus heutiger Perspektive wirkt jedoch Heinrich Roths Vorstellung von einer objektiven Erfassung der gegenwärtigen Erziehungswirklichkeit als stilisiert und selbst als eine an die damalige Epoche gebundene Bezeichnung für diejenigen Aspekte erziehungswissenschaftlichen Wissens, die Übersetzungen, Übertragungen und Theoriewechsel überdauern sollten. Roth argumentierte für eine Art „Objektivität in Hemdsärmeln“, die sich durch Tausende konkreter Forschungshandlungen allmählich aufbaut und ausfüllt, so wie ein Mosaik sich aus Tausenden kleiner bunter Glasscherben zusammensetzt. Bahnbrechend für die deutschsprachige Pädagogik war Roths Gebrauch des dynamischen Begabungsbegriffs, der grundlegend für die Neufassung einer Pädagogischen Anthropologie wurde, die sich in der NS-Zeit durch völkische Ideologeme so stark in Dienst nehmen ließ, dass eine Neuauflage in der Nachkriegszeit als wissenschaftlich riskant gelten musste. Dessen Genese, Neuauflage unter den Vorzeichen der Nachkriegspädagogik und Verflechtungen mit regimekonformen Menschenbildern hätte in diesem Abschnitt noch weiter diskutiert werden können.
In drei weiteren, wesentlich kürzeren Kapiteln nimmt Lehberger weitere Schriften Roths aus den Themenbereichen „Bildungspolitik, Schulreform und Lehrerbildung“, „Pädagogische Psychologie“ sowie „Bildung und Erziehung“ samt Lehrerbildung in den Blick, um ihre These zu belegen, dass Roth die realistische Wendung nicht nur als unabgegoltene Verheißung proklamierte, sondern seine Beiträge selbst danach ausrichtete.
Die Studie von Lehberger, welche im Anhang durch die Wiedergabe der Antrittsrede Roths im originalen Wortlaut und seiner nach Themengebieten geordneten Bibliographie ergänzt wird, bewegt sich insgesamt auf sicherem Gelände, da sie in den meisten Abschnitten die ausgewählte Literatur aus dem Werk Heinrich Roths auf Elemente der realistischen Wendung hin befragt. Nach der Lektüre von Carolin Lehbergers Studie wird deutlich, dass das Anregungspotential von Roths Antrittsrede zur realistischen Wendung trotz ihrer historischen Gebundenheit immer noch nicht ausgeschöpft ist. Lehbergers Buch liefert eine gute Grundlage für Diskussionen über die Zusammenführung von hermeneutischen und empirischen Methoden in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin in Zeiten, in denen durch internationale Leistungstests und Vergleichsstudien die Brauchbarkeit von Datensätzen zur Verbesserung nationaler Bildungssysteme wesentlich von Interpretationen der Ergebnisse abhängt. Wer in Lehbergers Untersuchung streckenweise die kritische Musterung von Roths Werk, das allgemein als empirisch orientiert in Lehrbüchern ausgewiesen wird, vermisst, kann spätestens in der Zusammenfassung sehen, dass die Autorin es versteht, die Deutungsangebote des bekannten Pädagogen aufzugreifen, ohne ihrer Deutungsmacht zu unterliegen. „Insofern ist die 'realistische Wendung' – entgegen der überwiegenden Wahrnehmung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs – keine 'empirische', sondern tatsächlich eine 'Wendung' in Richtung auf ein realistisches Optimierungsprogramm unter Zuhilfenahme von empirischen Ergebnissen; Roth ist nicht Empiriker, aber Empirie ist Teil der theoretischen 'Trias', mit der er Erziehungswissenschaft betreibt", resümiert Lehberger (118). Diese Bewertung von Heinrich Roths Werk schmälert nicht seine Bedeutung in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin und mindert nicht seinen Einfluss auf die Inszenierung des empirischen Zugriffs, sondern führt zu einer Neuvermessung von realistischen Wendungen.
EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)
Die „realistische Wendung“ im Werk von Heinrich Roth
Studien zu einem erziehungswissenschaftlichen Forschungsprogramm
Münster: Waxmann 2009
(160 S.; ISBN 978-3-8309-2202-5; 24,90 EUR)
Andreas Hoffmann-Ocon (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Hoffmann-Ocon: Rezension von: Lehberger, Carolin: Die „realistische Wendung“ im Werk von Heinrich Roth, Studien zu einem erziehungswissenschaftlichen Forschungsprogramm. Münster: Waxmann 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092202.html
Andreas Hoffmann-Ocon: Rezension von: Lehberger, Carolin: Die „realistische Wendung“ im Werk von Heinrich Roth, Studien zu einem erziehungswissenschaftlichen Forschungsprogramm. Münster: Waxmann 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092202.html