Heute hat in etwa jeder Fünfte in Deutschland, so eine offizielle Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 26.01.2010, ausländische Wurzeln; da klingen Zuckmayers Worte, so amüsant sie auch formuliert sein mögen, gar nicht so weit hergeholt. Lesen sich doch die Herkunftsländer der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ebenso bunt: Das Statistische Bundesamt nennt unter anderem die 27 Mitgliedsländer der EU, aus denen die Mehrzahl stammt, Asien, Ozeanien, die Türkei und Kasachstan. Doch mit Migrationsprozessen einhergehende Komplikationen sind längst auch in den Fokus der Öffentlichkeit, der Politik und der Wissenschaft gerückt.
Mecheril und seine KollegInnen legen zwei Publikationen vor, die einen differenzierten Einblick in die Migrationsthematik erlauben.
(1) Inci Dirim / Paul Mecheril (Hrsg.): Migration und Bildung
Dieser Band enthält neben einer Einführung von Dirim und Mecheril dreizehn Beiträge, die sich in die thematischen Felder „Sprache und Sprachförderung“, „Gesellschaftliche Teilhabe und Diskriminierung“, „Identitäten, Zugehörigkeiten, Selbst- und Fremdverständnisse“ sowie „Schule und andere Bildungsinstitutionen“ einordnen lassen. Den Grundstein legte eine gemeinsame Tagung der Sektion Migration und ethnische Minderheiten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und der Sektion International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahr 2006. Es muss dem Leser bewusst sein, dass auf 285 Seiten die Thematik nicht vollständig erschlossen werden kann - das legt bereits der Titel nahe: Einerseits werden soziologische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven aufgezeigt, da hier ein große Schnittmenge besteht - andererseits betont bereits die Wortwahl „Schlaglichter“, dass Ausschnitte aus einem komplexen Themengebiet aufgegriffen werden. Alle Beiträge werden im Folgenden aufgeführt um Einblick in die Vielfältigkeit zu geben, es kann jedoch nur eine begrenzte Anzahl an Beiträgen ausführlicher vorgestellt werden.
Im Bereich „Sprache und Sprachförderung“ sind vier Beiträge zusammengefasst, die unterschiedliche Perspektiven beinhalten: Zunächst findet sich eine schrittweise und exemplarische Einführung in „Dialogische Sprachstandsdiagnostik für mehrsprachige Kinder in der Grundschule“ (11ff). Dirim und ihren Mitautoren gelingt eine nachvollziehbare Handreichung, die keine Vorkenntnisse voraussetzt und somit den Leser zu Beginn des Sammelbandes „mitnimmt“.
Lütje-Klose beschäftigt sich in ihrem Beitrag (27ff) mit der „Prävention von Sprach- und Lernstörungen bei mehrsprachigen Kindern mit Migrationshintergrund“ und stellt ausgewählte Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur vorschulischen Sprachförderung in Niedersachsen vor. Ihre explorative Studie umfasst dabei die Jahre 2003 bis 2007 und wurde an Grundschulen durchgeführt. Interessant ist hier insbesondere der Umstand, dass mit dem Schuljahr 2003/2004 vorschulische Sprachförderung an allen Grundschulen in Niedersachen eingeführt wurde (vgl. § 54 a Sprachfördermaßnahmen (NSchG)). „Im Rahmen eines Lehr-Forschungs-Projekts wurden zwölf mehrsprachige Kinder [...] die zum Zeitpunkt der Einschulungsuntersuchung als besonders entwicklungsgefährdet galten, von Studierenden der Sonderpädagogik von der vorschulischen Sprachförderung bis zur Übergangsempfehlung auf die weiter führenden (sic!) Schulen begleitet.“ (Lütje-Klose, B. 2009, 27). Lütje-Klose stellt auf dreißig Seiten kompakt den Forschungsstand, das Forschungsdesign und zentrale Ergebnisse vor. Sie rundet ihren lebendig geschriebenen Beitrag mit Hypothesen zur Gestaltung entwicklungsfördernder Bedingungen ab.
Fürstenau stellt eine explorative Interviewstudie „unter Schulleiterinnen und Schulleitern vor, die sich selbst Innovationsbereitschaft im Umgang mit der sprachlich-kulturellen Heterogenität zuschreiben“: „Ich wäre die Letzte, die sagt, „‚Hier muss Deutsch gesprochen werden’“ (57ff). Hier geht es vor allem darum Rahmenbedingungen zu betrachen, „unter denen innovative Konzepte sprachlicher Bildung entwickelt und umgesetzt werden können“ (Fürstenau, S. 2009, 57). Angesprochen werden Unterricht in Deutsch als Zweitsprache, Wertschätzung von Mehrsprachigkeit, Herkunftssprachunterricht, strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen.
Der Bereich „Sprache und Sprachförderung“ wird von Zwengel und Paul abgeschlossen, die „Spracherwerb und Generationenverhältnis - Wenn Eltern durch ihre Kindern lernen“ in den Mittelpunkt stellen (78ff).
Der Bereich „Gesellschaftliche Teilhabe und Diskriminierung“ umfasst drei Beiträge.
Jobst und Skrobanek setzen sich mit der Thematik „Ethnische Differenzierung oder Selbstexklusion - zum Umgang junger Türken und Aussiedler mit Benachteiligungs-erfahrungen“ (99ff) auseinander. Die Autoren wollen die Relation zwischen „wahrgenommener Benachteiligung und Ethnisierung“ betrachten. „Im Mittelpunkt steht die Frage nach „der Beziehung zwischen einer objektiv benachteiligenden Lebenslage, der subjektiven Wahrnehmung dieser Lage und einem ‚verstärkten’ Rückzug auf die Ressourcen der (ethnischen) Eigengruppe“ (99). Unter Rückgriff auf Willis und Bourdieu wird der Umgang mit Benachteiligung reflektiert.
Daran schließt sich der Beitrag von Nohl und Schittenheim an - „Die prekäre Verwertung von kulturellem Kapital in der Migration - Bildungserfolge und Berufseinstieg bei Bildungsin- und -ausländern“ (125ff). Sie kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Verwertung ihres Wissens und Könnens auf dem Arbeitsmarkt für MigrantInnen selbst dann mit Risiken verbunden ist, wenn sie über hohe Bildungsabschlüsse verfügen, wobei sie nicht zwischen Bildungsin- und –ausländerInnen differenzieren. Im Mittelpunkt des Beitrages stehen schließlich hoch qualifizierte MigrantInnen und ihre Erfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt - der Leser lernt u. a. Frau Dr. Çiçek, eine Bildungsinländerin und Herrn Dr. Nazar, einen Bildungsausländer kennen. Eine Schlussfolgerung besteht darin, dass für Bildungsausländer oftmals schon die formalrechtliche Anerkennung des im Ausland erworbenen Bildungstitels - also institutionalisierten kulturellen Kapitals - mit einem Risiko verbunden ist. „Migration ist hier als konkretes Ereignis im Lebenslauf zu verzeichnen [...[. Darüber hinaus spielt [...[ auch eine Rolle, dass ihre Sprachkenntnisse, Migrationserfahrungen und Kenntnisse des Herkunftslandes im Ankunftsland zu einer Neubewertung ihres inkorporierten kulturellen Kapitals führen können“ (30) - und damit bedeutsam für den Arbeitsmarkt im Ankunftsland. Dies illustrieren die Autoren am Beispiel von Hr. Dr. Nazar.
Im Gegensatz dazu wird Migration für Bildungsinländer meist nicht durch einen faktischen Statuswechsel im Bildungsverlauf bemerkbar, da diese oftmals im Kindesalter stattfindet oder - bei Angehörigen der zweiten Generation - nicht als biographisches Ereignis verzeichnet wird. Aber auch sie müssen mit Einschränkungen - unter Umständen im gesamten Bildungsverlauf, z. B. durch Einschränkung der Aneignung und Verwertung kulturellen Kapitals, wie im Fall von Fr. Çiçek, rechnen.
Es schließen sich zwei weitere Artikel an. Griese thematisiert „Vorbilder und Vorteile - Selbstzeugnisse von Studierenden mit Migrationshintergrund Türkei“ (147ff), in dem es um erfolgreiche Bildungsinländer geht. Unter anderem gewinnt die Studie ihre Daten aus Aufsätzen, welche die Studierenden zu den Begriffen „Zukunft“, „Migration“ und „Gesellschaft“ schrieben. Grieses Beitrag zeichnet sich durch seine hohe Anschaulichkeit und durch einen interessanten Perspektivenwechsel aus.
Leyendecker und Ko-Autoren beschäftigen sich mit „Langfristige[n] Sozialisationsziele[n] von migrierten und nicht-migrierten Müttern in der Türkei und in Deutschland - der Einfluss von Bildung, Kultur und Migrationserfahrungen“ (147ff).
Die beiden weiteren Themenfelder, in die die Beiträge des Sammelbandes einzuordnen sind, sind „Identitäten, Zugehörigkeiten, Selbst- und Fremdverständnisse“ mit drei Artikeln (Frik: „Bildungs- und Berufssituation der Spätaussiedlerinnen im Zusammenhang mit ihrer Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung“ (183ff); Schubert: „Gesellschaftliche Integration, Migration und Bildung“ (201ff); Bloscho / Hauenschild: „Interkulturalität und Transkulturalität“ (229ff)) sowie „Schule und andere Bildungsinstitutionen“ mit zwei Artikeln (Schulze / Yildiz: „Zur Gestaltung von Bildung in der Migrationsgesellschaft“ (247ff) und Sixt / Fuchs: „Die Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern als Folge der Entwertung von sozialem und kulturellem Kapital durch Migration“ (265ff))
Entstanden ist ein äußerst fruchtbarer Sammelband,der Studien, Forschungsergebnisse und Streitfragen nachvollziehbar und anschaulich vorstellt. Der Leser erhält Einblick in Migrationsprozesse zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus verschiedenen Blickwinkeln: Komplexität und Facettenreichtum von Migration und Bildung werden angemessen abgebildet.
(2) Inci Dirim et al. (Hrsg.): Spannungsverhältnisse
Die Herausgeber fassen unter „Spannungsverhältnisse“ zwei große Themenblöcke: „Kritik der Integrationsdiskurse“ und „Migrations-gesellschaftliche Bildungsräume“, denen je fünf Beiträge zugeordnet sind. Die Beiträge gingen aus einer Tagung der Sektion für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hervor, welche „Spannungsverhältnisse zwischen eher einseitig Angleichungserfordernisse thematisierenden, assimilationistischen Positionen und interkulturell-pädagogischer Forschung“ zum Thema hatte. Entsprechend bearbeiten die Beiträge folgenden Fragestellungen:
- Wie stellt sich aus der Sicht interkulturell-pädagogischer Forschung die neuerlich formulierte These dar, dass es keine Alternative zur Assimilation gebe?
- Welche Konsequenzen für die Frage der Verbesserung von Chancengleichheiten im und durch das Bildungssystem ergeben sich aus den Ergebnissen von Untersuchungen zu Mehrsprachigkeit, Diskriminierung in institutionellen und informellen Bildungskontexten und Zugehörigkeitserfahrungen in der Migrationsgesellschaft?
- Welche wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundverständnisse sind bei der Analyse pädagogisch relevanter Verhältnisse der Migrationsgesellschaft angemessen?
- Welche Konzeptionen reflexiver interkulturell-pädagogischer Forschung liegen als Alternativen zu gesellschaftliche Verhältnisse bloß konstatierenden und darin potenziell Machtverhältnisse affirmierenden Ansätzen vor? Wo liegen ihre Stärken, wo ihre Schwächen? (9).
Geisen beschäftigt sich im Beitrag „Vergesellschaftung statt Integration. Zur Kritik des Integrations-Paradigmas“ (13ff) mit der Begrifflichkeit und Konzeption von Integration. Geisen befasst sich insbesondere mit folgenden unterschiedlichen Auffassungen: „Intergration als dauerhafter Zustand, in dem Unterschiede zu den Einheimischen [...] weiterhin bestehen bleiben, aber ein bestimmtes Maß an sozialer und politischer Beteiligung erreicht wird. [....] Integration als vorübergehender Prozess [...], der übergeht in einen Zustand der Assimilation“ (14) oder Integration als leere Worthülse (32). Er betrachtet Integration als wissenschaftliches und politisches Leitmotiv sowie als sozialwissenschaftliches Konzept und subsummiert unter diesen Aspekten jeweils weitere Unterscheidungen.
Ausgangspunkt für Kritik liegt laut Geisen vor allem darin, dass dem Integrationsbegriff zwangsläufig ein Gesellschaftsbegriff zugrunde liegt und „Gesellschaft und das zu integrierende Individuum bzw. die zu integrierende Gruppe werden als disparate, also als grundlegend voneinander getrennte Einheiten aufgefasst. Die Formen von Integration beschreiben dann die Prozesse und Resultate, wie sich das Verhältnis der beiden Einheiten zueinander entwickelt“ (31).
Eine Alternative zeigt er mit dem Begriff der Vergesellschaftung auf - „ein dynamischer Ansatz, der die Tätigkeit der Subjekte in einem gegebenen gesellschaftlichen Kontext als einen aktiven, die gesellschaftlichen Bedingungen selbst beeinflussenden und (mit-)gestaltenden Prozess versteht“ (ebd.).
An Geisens Artikel schließen sich „Der Fall Kelek - Die Politik der Differenz und ihre (fatalen) Effekte“ (35ff) von Sauter, der Beitrag „Über die Normalisierung kultureller Hegemonie im Alltag. Warum Adnan keinen „normalen Bürgersmann“ spielen darf“ (59ff) von Yildiz, „Der Migrationshintergrund als Topos in gegenwärtigen Diskursen über Bildungsgerechtigkeit“ (79ff) von Stojanov sowie der Artikel von Dirim „Wenn man mit einem Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so“ (91ff). Sie fügen sich auf unterschiedliche Art und Weise in die von Geisen begründete Kritik am Integrationsbegriff ein und ergänzen damit das Bild: Zeigt es nicht überdeutlich, dass Integration als leere Worthülse wahrgenommen wird, wenn ein türkischer Schauspieler im Tatort schon den Gemüsehändler, den Asylbewerber, den Ganoven gespielt hat, aber auf die Frage, ob er auch mal die Rolle des „normalen Bürgersmann“ spielen könne, zur Antwort bekommt, dafür habe man doch deutsche Schauspieler? (59) Oder zeigt sich nicht die Assimilation darin, wenn an einer Schule „Türkisch sprechen“ verboten und geahndet wird (101; Schild wurde an einer Schule in NRW gesichtet)?
Im zweiten Block „Migrationsgesellschaftliche Bildungsräume“ haben die Herausgeber folgende Artikel zusammengefasst: „Mehrsprachigkeit, Kulturelles Kapital oder Bürde in der Schule?“ (115ff) von Hornberg; Bellin schreibt über „Die soziale Zusammensetzung der Schulklasse. Zum Einfluss von Kompositionsmerkmalen auf die Leseleistung von Grundschulkindern“ (135ff); Fürstenau und von Redecker beschäftigen sich mit „Verhältnissen der Anerkennung zwischen Schule und Roma-Familie“ und titeln ihren Beitrag mit „Hier sind die Leute schon gewöhnt an Roma“ (153ff); Wagner schreibt über „Fremdsein und Statuspassage. Perspektiven für Bildungsangebote mit der Zielgruppe Neuzuwandernde“ (173ff); Pilch Ortega und Sprung schließen den Block mit „Verschränkungen von Wissensformen als transkulturelle (Forschungs-)Praxis. Das Beispiel Diskriminierung“ (189ff).
Herausgegriffen wird der Beitrag von Wagner - „Fremdsein und Statuspassage“. Wagner macht es sich zum Ziel, einerseits „Ressourcen und Potentiale der Zielgruppe Neuzuwandernde aufzuzeigen und darüber nachzudenken, wie adäquate Bildungsangebote im Ankommensprozess gestaltet werden können“ und diskutiert hierfür zunächst kritisch bestehende Angebote, um dann Alternativen zu entwerfen „die vom Durchlaufen einer Statuspassage zum Neubürger ausgehen“ (173). Damit möchte der Autor Abgrenzungsdynamiken und Exklusionsprozesse verhindern, die auf einseitigen Assimilationsforderungen oder reiner Beschulung in Integrationskursen beruhen. Wagner gelingt ein interessanter Artikel, der sowohl in Aufbau als auch Argumentation logisch ist sowie konsequent darauf hinwirken möchte, dass die in Deutschland seit 2005 eingeführten Integrationskurse eine Überarbeitung erfahren.
Abschließend fügen sich die beiden Publikationen zu einem einander ergänzenden Gesamtbild. Den Herausgebern und Autoren ist es gelungen, einen wertvollen Einblick in ein lebendiges Forschungsfeld zu geben, Kritik an Bestehendem zu vermitteln, aber auch Gelungenes zu benennen und Perspektiven aufzuzeigen.