EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Die PĂ€dagogik Paulo Freires und ihre Rezeption - eine Sammelbesprechung

Paulo Freire
UnterdrĂŒckung und Befreiung
(Hrsg. von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, in Kooperation mit Armin Bernhard
MĂŒnster u.a.: Waxmann 2007
(140 S.; ISBN 978-3-8309-1803-5; 9,90 EUR)
Paulo Freire
Bildung und Hoffnung
(Hrsg. von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, in Kooperation mit Armin Bernhard)
MĂŒnster u.a.: Waxmann 2007
(156 S.; ISBN 978-3-8309-1856-1; 9,90 EUR)
Martin Stauffer
PĂ€dagogik zwischen Idealisierung und Ignoranz
Eine Kritik der Theorie, Praxis und Rezeption Paulo Freires
Bern u.a.: Lang 2007
(265 S.; ISBN 978-3-03910-373-7; 51,00 EUR)
UnterdrĂŒckung und Befreiung Bildung und Hoffnung PĂ€dagogik zwischen Idealisierung und Ignoranz Die Diskussionen um die ‚KlassikerInnen‘ der PĂ€dagogik zeigen, dass diese nicht nur bestimmte Funktionen fĂŒr die Disziplin erfĂŒllen, sondern auch darĂŒber hinaus mit bestimmten – Zeit und Ort ĂŒbergreifenden – strukturellen pĂ€dagogischen Problemen/Fragen assoziiert werden. Sie stehen mit ihrem Lebenswerk fĂŒr eine bestimmte Lösung dieser Fragen. Paulo Freire (1921-1997) kann daher jenseits jeglicher fachwissenschaftlicher Debatten als Klassiker gelten. Seine pĂ€dagogische Arbeit sah er stets als Gesellschaftskritik und seine Arbeit stand im Dienste der GesellschaftsverĂ€nderung. Sein Name wird mit der Forderung einer humanisierenden Bildung und Erziehung verbunden. Bis heute inspiriert er, gut zehn Jahre nach seinem Tod, wichtige Auseinandersetzungen in der Erziehungswissenschaft. ZeitgemĂ€ĂŸ ist die BeschĂ€ftigung mit Freire schon deshalb, weil dadurch höchst relevante Fragen fĂŒr die pĂ€dagogische – praktische wie theoretische – Arbeit (wieder) aufgeworfen werden, insbesondere im aktuellen Kontext der Bildungsreform. Die Autoren der drei hier besprochenen BĂŒcher leisten somit einen Beitrag zu einer ernsten Auseinandersetzung jenseits von Applausrezeption und Entlarvungsabsicht. Die BĂŒcher sind als wichtige BeitrĂ€ge zur internationalen Erziehungswissenschaft zu sehen. Sie bergen jeweils auf unterschiedliche Art und Weise Probleme.

Die beiden von Peter Schreiner u. a. herausgegebenen BĂ€nde sind thematisch organisiert: Teil 1 widmet sich dem Thema „UnterdrĂŒckung und Befreiung“, Teil 2 dem Thema „Bildung und Hoffnung“. Sie enthalten Freires zwischen 1970 und Ende der 1990er Jahren veröffentlichte Originaltexte bzw. TextauszĂŒge oder Interviews – zum Teil in deutscher ErstĂŒbersetzung. Beide SammelbĂ€nde sind im Rahmen eines Projektes entstanden und vom Comenius-Institut in MĂŒnster und dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf unterstĂŒtzt. Eröffnet werden die BĂŒcher mit einem Geleit von Freire-Kenner Heinz-Peter Gerhardt, welcher GrĂŒnde fĂŒr die weitere Auseinandersetzung mit den Schriften Paulo Freires expliziert (7f.) sowie seine andauernde Nachwirkung erlĂ€utert (9). Dabei wird deutlich, warum es problematisch ist, Freire in die gĂ€ngige Passform kanonisierter Erziehungstheoretiker und -praktiker hineinzuzwingen, wie M. Stauffer es tut. Die EinfĂŒhrungen in beiden BĂ€nden sind bis auf geringfĂŒgige Unterschiede (Textauswahl) identisch. Sie geben einen kurzen Einblick in die AktualitĂ€t Freires, grundlegende Informationen zu seinem Lebenslauf und argumentieren fĂŒr die BeschĂ€ftigung mit seiner Arbeit.

Die im Band 1 chronologisch versammelten Texte (1970-1990) sind im „Kontext einer PĂ€dagogik der Befreiung“ (18) zu lesen. Sie sind deshalb aufgenommen, so die Herausgeber, da sie exemplarisch in „das Konzept einer humanisierenden Bildung als Instrument der Befreiung aus UnterdrĂŒckung einfĂŒhren und erlĂ€utern“ (18). Die einzelnen Texte behandeln nicht ausschließlich pĂ€dagogische Fragestellungen, sie adressieren vielmehr gesamtgesellschaftliche Probleme (politische, religiöse, ethische usw.) und machen dadurch deutlich, dass fĂŒr Freire PĂ€dagogik eine intrinsische Beziehung zur Politik hat. Inhaltlich sind die sieben Originaltexte mit bekannten Themen befasst wie „Politische Alphabetisierung“, dialogische sowie problematisierende Erziehung/Bildung, Rolle und Engagement der Kirchen in der BefreiungspĂ€dagogik, Bildung als Erkenntnisprozess.

Die neun BeitrĂ€ge des zweiten Bandes widmen sich dem Thema „Bildung und Hoffnung“, das Freire vor allem in seiner spĂ€ten Schaffensperiode – den 1990er Jahren – bearbeitete und ĂŒber das es in deutscher Sprache so gut wie keine Veröffentlichungen gibt. Den Herausgebern zufolge geben sie ĂŒber die „erziehungstheoretische und pĂ€dagogische (
) Vorstellung Freires“ Aufschluss. Sie behandeln einerseits Themen der Schulentwicklung (27ff. und 37ff.) und Lehrerbildung (74ff. und 97ff.) – Freire hat zeitweise nach seiner RĂŒckkehr aus dem Exil als Leiter im Sekretariat fĂŒr Bildung/Erziehung der Metropole SĂŁo Paulo gewirkt. Andererseits geht es thematisch um die Reflexion der eigenen Wirkungsgeschichte (53ff. und 122ff.) sowie um die Rolle der Biographie Freires fĂŒr seine pĂ€dagogische Arbeit (44ff. und 86ff.). DarĂŒber hinaus macht ein Beitrag Freires Relation von „Erziehung und Hoffnung“ (116) deutlich: „VerĂ€nderung ist schwierig aber möglich“ (120). Problematisch in beiden BĂ€nden scheint mir die unzulĂ€ngliche Kontextualisierung der Originaltexte zu sein. Aus diesem Grund sind die BĂ€nde fĂŒr StudienanfĂ€nger nur bedingt zu empfehlen.

Die aus der Dissertationsschrift aus dem Jahr 2002 entstandene Publikation von Martin Stauffer setzt sich kritisch mit der Theorie, Praxis und Rezeption Freires auseinander. Der ursprĂŒngliche Text ist dabei um ein Kapitel erweitert.
Die 265 Seiten des Bandes sind in sechs Kapitel aufgeteilt, wobei Kapitel 1 in das Thema einleitet und den Argumentationsgang expliziert. Es geht Stauffer um eine ‚Entzauberung‘ Freires sowie eine ZurĂŒckweisung seiner deutschsprachigen Rezeption. Der Grund hierfĂŒr: weil „beide von der Aufgabe entlasten, sich eingehender mit brasilianischer PĂ€dagogik zu befassen“ (1). Warum sich die Themen gegenseitig ausschließen mĂŒssen, wird nicht einleuchtend expliziert (vgl. Kapitel 6). Die Überlegungen in Kapitel 2 gelten Freires pĂ€dagogischer Konzeption. Es geht um Freires „politisch-ethische Überzeugungen, sein Modell der GesellschaftsverĂ€nderung, seine EinschĂ€tzung ‚traditioneller Bildung‘, sein VerstĂ€ndnis von Bewusstwerdung und Alphabetisierung, seine Bestimmung des VerhĂ€ltnisses von LehrerInnen und SchĂŒlerInnen, seine Auffassung von Lehren und Lernen“ (75). Der Ertrag dieser Auseinandersetzung wird mit der Äußerung „Mehr KontinuitĂ€t als Innovation“ charakterisiert. Freire habe sich im Laufe der Zeit nicht weiterentwickelt (74). DarĂŒber hinaus sei in Freires VermĂ€chtnis „keine kohĂ€rente pĂ€dagogische Konzeption [zu finden], sondern eine Sammlung politisch-pĂ€dagogischer Lösungen“ (77f.). Nachdem der „Theoretiker“ Freire demontiert ist, geht es um seine Praxis. Dabei erkennt Stauffer, dass eine objektive EinschĂ€tzung der Freire’schen Praxis auf fast unĂŒberbrĂŒckbare Grenzen stĂ¶ĂŸt. Reliable Datenquellen sind rar; was vorhanden ist, ist oft problematisch (79). In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Alphabetisierungskampagnen Freires in Brasilien, Chile, Guinea-Bissau, Grenada u. a. diskutiert. Stauffers Urteil: „Freire setzte sich ĂŒber WidersprĂŒche zwischen seiner Theorie und seiner Praxis hinweg (
), vernachlĂ€ssigte die Ausbildung von LehrerInnen bzw. KursleiterInnen (
), ließ zu, dass ‚seine‘ Projekte politisch vereinnahmt wurden (
), dokumentierte und evaluierte seine Arbeiten unzulĂ€nglich [
]“ (146). Die Materialgrundlage fĂŒr die Auswertung der Praxis beispielsweise in Brasilien entnimmt er fast ausschließlich einer einzigen Quelle. Carlos Lyra veröffentlichte 1996 einen Bericht, den er 1963 (!) ĂŒber die Arbeit Angicos geschrieben hat. Dabei geht es um eine Art Tagebuch mit Daten zum Alltag des Experiments, nicht um Analysen oder Ergebnisse der Projekte. Die Quelle wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Stauffer macht trotzdem Inferenzen, setzt diese anderen Quellen entgegen und urteilt: Die „BeitrĂ€ge Freires zu Alphabetisierungsprojekten muten bescheiden an“ (146).

Kapitel 4 „Die Bildung einer Legende“ diskutiert die Rolle von Freires Biographie sowohl in seinem Werk als auch in der Rezeption. Die Frage warum das Biographische einen so großen Raum einnimmt, beantwortet Stauffer folgendermaßen: weil „Leben und PĂ€dagogik fĂŒr ein und dieselbe Sache gehalten wird“ und weil „eine außerordentliche Lebensgeschichte eine dĂŒnne pĂ€dagogische Konzeption aufwerten soll“ (179). Der empirische Teil der Arbeit – Kapitel 5 – bemĂŒht sich um die wissenschaftliche sowie die öffentliche Rezeption Freires. Dabei stellt Stauffer u.a. fest, dass das Gros der Rezeption sich auf „Qualifikationsarbeiten, pĂ€dagogische Lexika und Zeitschriften“ konzentriert und in der Hauptsache Mitte der 1970er Jahre entstanden ist (202). Geographisch konzentriert sich diese auf 1. Deutschland, 2. Brasilien und 3. USA und entgegen seiner Ausgangshypothese ist sie der „PĂ€dagogik zuzurechnen (rund 67%)“ (192). Die öffentliche PrĂ€senz Freires ist auf der anderen Seite am Internet ablesbar: In Stauffers Top 20-Liste erzielt Freire Platz 4. Dabei wird deutlich, so der Autor, dass Freire der einzige Autor ist, bei dem die Anerkennung in der Fachdisziplin und im Internet augenfĂ€llig auseinander klaffe: „Er wurde zum öffentlichen PhĂ€nomen, jedoch nicht zu einer festen pĂ€dagogischen GrĂ¶ĂŸe“ (196).

Kapitel 6 setzt Freire in Bezug zur brasilianischen „ReformpĂ€dagogik“. Dies scheint eines der grĂ¶ĂŸten Probleme des Bandes zu sein; denn dabei wird das Wissen um die ‚ReformpĂ€dagogik‘ als „Problem der Geschichtsschreibung“ (Oelkers) ignoriert und ein weiteres ‚Dogma‘ produziert. Stauffer bilanziert: Freire verdankt seine Beachtung der „Idealisierung seiner Lebensgeschichte und der Verbindung von Politik und PĂ€dagogik in einer Phase gesellschaftlichen Wandels“ (205). Die deutschsprachige Rezeption ignoriere die meisten seiner Werke und idealisiere das Wenige, das sie zur Kenntnis nehme. Weder werde seine Theorie noch seine Praxis kritisch durchleuchtet (206). Das Ergebnis dieser Rezeption sei die Abschreibung des pĂ€dagogischen Diskurses des SĂŒdens (206f.). Dasselbe Urteil ĂŒber die Rezeption – Idealisierung und Ignoranz – fĂ€llt der Autor hinsichtlich Freires Theorie und Praxis. Da Freire weder ĂŒber eine pĂ€dagogische Ausbildung noch ĂŒber ein Studium der Erziehungswissenschaft verfĂŒgte, gleiche sein Werk einer unreflektierten „Sammlung pĂ€dagogisch-politischer Lösungen“ (207). Und da Freire „weder ein Bildungsprogramm noch methodische Handlungsanleitungen“ vorgelegt hat, blieb die Übertragung seiner AnsĂ€tze auf andere Breitengrade auf die politisch-pĂ€dagogische Dimension beschrĂ€nkt: „Gesellschaftskritik und Parteilichkeit, seine Bewusstseinsbildung, Kodierungen und Dekodierungen von Lebenssituationen, Prinzipien der Aktion/Reflektion und des Dialogs“ (219). Das VerhĂ€ltnis von Freire und der Escola Nova wird anhand eines Vergleichs/Kontrasts bestimmt, der auf einem dĂŒrftigen tertium comparationis grĂŒndet: Gesellschaftskritik. Andere Vergleichselemente muten nicht unbedingt nachvollziehbar an. Dass die BeschĂ€ftigung mit der Escola Nova und der Gruppe, die Stauffer als „brasilianische ReformpĂ€dagogik“ konstruiert, sinnvoll und aufschlussreich sein kann, steht außer Frage. Ob Paulo Freire zu den KlassikerInnen der PĂ€dagogik gehören soll oder nicht, kann weder verbindlich noch ohne Verweis auf die Funktion von Klassikerdebatten entschieden werden.
Marcelo Parreira do Amaral (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcelo Parreira do Amaral: Rezension von: Freire, Paulo: UnterdrĂŒckung und Befreiung, (Hrsg. von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, in Kooperation mit Armin Bernhard. MĂŒnster u.a.: Waxmann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383091803.html