Der vorliegende Band nimmt die zahlenmĂ€Ăig geringe ForschungstĂ€tigkeit im Bereich empirischer Arbeiten innerhalb der SonderpĂ€dagogik zum Anlass, um vor allem im Bereich geistiger Behinderung dieses Desideratum zu benennen und eine Bestandsaufnahme vorzunehmen.
Dass es sich hierbei um eine spannungsreiche Fragestellung handelt, zeigt das kritische Zitat von Wember auf Seite 14: âTheorie siegt ĂŒber Empirie, Vorlieben fĂŒhren zu Ignoranz. Wissenschaftliche Belege werden nicht oder nur selektiv wahrgenommen, wenn sie nicht in das geliebte TheoriegefĂŒge passen, oder sie werden schlicht und ergreifend nicht weiter als wichtig erachtet.â
In ihrer Einleitung beschreiben die Herausgeberinnen zunĂ€chst die deutschsprachige empirische Forschungssituation und konstatieren eine VerĂ€nderung der Forschungsperspektiven mit dem Ziel, Menschen mit geistiger Behinderung am Forschungsprozess zu beteiligen. Die Frage der empirischen Arbeiten ĂŒber Personen mit einer geistigen Behinderung habe sich zu einer Frage mit bzw. von Personen im Sinne der PAR (Participation Action Research) verĂ€ndert (13). So ist auch das methodische Spektrum in den folgenden BeitrĂ€gen sehr breit und zeigt die Vielfalt alternativer empirischer Möglichkeiten. Das Methodenrepertoire reicht von der quantitativen Metaanalyse, der Einzelfallanalyse, LĂ€ngsschnittstudien zu qualitativen Interviews, Interaktionsanalysen, mehrperspektivischen Video- und Konversationsanalysen.
In seinem PlĂ€doyer fĂŒr mehr quantitative Forschung kann Sarimski in dem vorliegenden Band Mittels Zeitschriftenanalyse (21 ff.) belegen, dass nur 5,1 % aller im Bereich geistiger Behinderung erschienenen Arbeiten quantitative Methoden nutzen, von denen er sich zu Recht mehr wĂŒnscht.
Die drei folgenden Artikel bearbeiten das Thema âWohnen bei geistiger Behinderungâ (Hahn, Fischer, Seifert), wobei es sich um die Dokumentation und Auswertung einer zehnjĂ€hrigen LĂ€ngsschnittstudie in einem Wohnprojekt und der damit verbundenen Ablösung der jungen Menschen mit einer geistigen Behinderung von ihren Eltern handelt, die mittels Interviews und Beobachtungsleitfaden ein gutes Beispiel fĂŒr die Notwendigkeit detaillierter qualitativer Forschung liefern. Seifert untersucht in ihrem Ă€uĂerst sensiblen Beitrag die Angebotsstruktur in einem Wohnheim fĂŒr Menschen mit geistiger Behinderung.
In seinem Beitrag zur der Beschreibung der kontrollierten Einzelfallanalyse zeigt H. MĂŒhl, wie bei einem Design mit N=1 quantitative Ergebnisse ĂŒber den sog. Grundratenvergleich zu ermitteln sind, die die Effekte einer Verhaltensmodifikation bei scheinbar irreversiblen Verhaltensmustern wie z. B. dem selbstverletzenden Verhalten anzeigen können. Die beiden folgenden BeitrĂ€ge beschĂ€ftigen sich mit der Forschungssituation der FC (Facilitated Communication) und zeigen Ă€uĂerst redlich, wie schwierig diese Interaktion/Kommunikation zu erfassen ist, bei der es offensichtlich nicht ausreicht, den StĂŒtzer âblindâ zu machen, weil auch unbewusste Prozesse die durch das StĂŒtzen eindeutig beeinflussbare Interaktion zu steuern scheinen. Der Beitrag von AlfarĂ© belegt die Notwendigkeit multimodaler Kommunikationsanalysen, bei denen die bislang dominante verbale Bezugsebene um Aspekte der Prosodie, Mimik, Blickorganisation, Gestik und Körperpositur ergĂ€nzt wird, wobei diese Aspekte sowohl systematisch als eigene Ausdruckebenen wie auch in ihrer Relation untereinander und zum Verbalen berĂŒcksichtigt werden. Ein transkribiertes Konversationsprotokoll zur FC (146 ff) belegt, wie viel in den erwĂ€hnten ModalitĂ€ten in wenigen Sekunden passiert.
Die nĂ€chsten beiden Arbeiten beschĂ€ftigen sich mit den Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen (Sarimski/Wiebel) in dem Projekt BiVoS bzw. mit einer Störung aus dem Autismusspektrum (Cordes/Cordes). Sarimski und Wiebel zeigen mittels mikroanalytischer Videostudien die Bedeutung und AnfĂ€lligkeit frĂŒher Eltern-Kind-Interaktionen fĂŒr den spĂ€teren Umgang mit einem behinderten Kind und machen darauf aufmerksam, dass eine gestörte Interaktion eine zusĂ€tzliche Erschwernis der Eltern-Kind-Situation nach sich zieht bzw. umgekehrt, welche positiven Möglichkeiten in einer bewusst gestalteten Interaktion fĂŒr die zukĂŒnftige Familiensituation liegen.
Cordes/Cordes weisen auf die Bedeutung frĂŒhdiagnostischer Möglichkeiten bei autistischen Kindern hin und berichten ĂŒber LĂ€ngsschnittergebnisse aus dem Lovaas-Programm, einer frĂŒhen verhaltenstherapeutischen Intensivtherapie. AnschlieĂend geben sie einen sehr informativen Ăberblick ĂŒber Pilotprojekte zu Elterntrainingsprogrammen, die alle positive Ergebnisse zeigen. Die weiteren drei Texte (Mittermair, Terfloth/Lamers, Pixa-Kettner) sind dem sozialen Umfeld gewidmet (soziale Netzwerkkarte, nachschulische Angebote und Elternschaft). Die Netzwerkkarte steht in der Tradition eines ressourcenorientierten Beratungs- und FörderverstĂ€ndnisses und soll, diagnostisch eingesetzt, die sozialen Kontakte abbilden helfen. Die Studie von Terfloth/Lamers dient der sehr differenzierten Erfassung von beruflichen Möglichkeiten von Menschen mit einer schweren oder mehrfachen Behinderung. Die Situation von Eltern mit einer geistigen Behinderung hat in den letzten 15 Jahren in Deutschland mehr Beachtung gefunden, nicht zuletzt durch die Arbeiten der Arbeitsgruppe um Pixa-Kettner/Bargfrede. Sie plĂ€dieren im Sinne der Handlungsforschung fĂŒr eine Beteiligung der Eltern am Forschungsprozess, wie es ebenso auch fĂŒr die Arbeit von Markowetz und Schuppener gilt. Markowetz möchte Handlungsforschung zur Lösung sozialer Probleme einsetzen, Schuppener nĂ€hert sich der Frage nach der IdentitĂ€t von Personen mit dem Ziel bzw. der Programmatik, dass durch partizipative Forschung be-hinderte Menschen ent-hindert werden könnten (316). Der Beitrag von Hennicke ĂŒber Möglichkeiten der Kooperation zwischen Psychiatrie und der GeistigbehindertenpĂ€dagogik fĂ€llt etwas aus dem unterschiedliche Methoden reflektierenden Rahmen. Es handelt sich um eine informative Fallstudie, die eine multimodale Diagnostik und eine gelungene Zusammenarbeit zwischen den genannten Disziplinen beschreibt.
Der vorliegende Band versteht es, die von Wember eingangs zitierte Kritik und Spannung innerhalb der einzelnen Forschungstraditionen und -linien in Ă€uĂerst produktiver und anregender Weise aufzugreifen. So ist ein insgesamt sehr lesenswerter Band entstanden. Er zeigt, welche Methoden im Bereich geistiger Behinderung auf hohem empirischem Niveau zur Anwendung kommen. Er zeigt auch, dass die deutsche Forschungssituation in diesem Feld weit besser zu sein scheint als ihr Ruf.
EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)
Empirische Forschung im Kontext geistiger Behinderung
âEdition Sâ
Heidelberg: UniversitÀtsverlag Winter 2009
(324 S.; ISBN 978-3-8253-8338-1; 19,00 EUR)
Christiane Hofmann (GieĂen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Hofmann: Rezension von: Janz, Frauke / Terfloth, Karin (Hg.): Empirische Forschung im Kontext geistiger Behinderung, âEdition Sâ. Heidelberg: UniversitĂ€tsverlag Winter 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382538338.html
Christiane Hofmann: Rezension von: Janz, Frauke / Terfloth, Karin (Hg.): Empirische Forschung im Kontext geistiger Behinderung, âEdition Sâ. Heidelberg: UniversitĂ€tsverlag Winter 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382538338.html