EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Thorsten Bohl / JĂŒrgen Budde / Markus Rieger-Ladich
Umgang mit HeterogenitÀt in Schule und Unterricht
Grundlagentheoretische BeitrÀge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen
Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2017
(312 Seiten; ISBN 978-3-8252-4755-3; 24,99 EUR)
Umgang mit HeterogenitĂ€t in Schule und Unterricht Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass 2017 eine Publikation zum „Umgang mit HeterogenitĂ€t in Schule und Unterricht“ vorgelegt wird, nachdem in den letzten Jahren eine unĂŒberschaubar gewordene Anzahl von EinzelbeitrĂ€gen, HerausgeberbĂ€nden, EinfĂŒhrungen und auch LehrbĂŒchern erschienen sind, die sich dem erziehungswissenschaftlichen Problematisierungsanlass ‚HeterogenitĂ€t‘ widmen. Nicht zuletzt ist der pĂ€dagogische Topos ‚Umgang mit HeterogenitĂ€t‘ mittlerweile selbst zum Gegenstand (erkenntnis-)kritischer Reflexionen gemacht geworden, woraus spezifische diskursive PrĂ€missen fĂŒr die theoretische und empirische Auseinandersetzung mit dem Thema HeterogenitĂ€t in schulischen Handlungskontexten resultieren. Vor diesem Hintergrund konfrontiert sich das von Thorsten Bohl, JĂŒrgen Budde und Markus Rieger-Ladich herausgegebene Studienbuch mit einer anspruchsvollen Herausforderung, soll das formulierte Ziel, „den ‘state of the art‘ der Forschung“ abzubilden und die einschlĂ€gige erziehungswissenschaftliche nationale wie internationale Diskussion in systematischer Weise zugĂ€nglich zu machen (8), eingelöst werden.

Das Studienbuch gliedert sich in vier ĂŒbergeordnete Kapitel: Kapitel I „Theoretische Grundlinien“ wird mit einem Beitrag von JĂŒrgen Budde eröffnet, der sich dem Gegenstandsbereich in systematisierender Absicht annĂ€hert, wobei die „Unbestimmtheit“ des Begriffs HeterogenitĂ€t ein zentrales Motiv sowohl fĂŒr den Problemaufriss als auch fĂŒr das abschließende Fazit darstellt. In kritischer Distanz zum Postulat einer gegebenen Unterschiedlichkeit von SchĂŒler*innen, auf die die Institution Schule lediglich reagiert, werden die mit dem Konzept HeterogenitĂ€t aufgerufenen Differenzkonstruktionen als aktive Herstellungsleistung im Kontext von Schule und Unterricht thematisiert. Zudem wird der Versuch unternommen, Abgrenzungen gegenĂŒber „verwandten Begriffen“ (21) wie DiversitĂ€t, IntersektionalitĂ€t und Inklusion vorzunehmen. WĂ€hrend Budde konstatiert, dass „HeterogenitĂ€tskonstruktionen im schulischen Feld von MachtverhĂ€ltnissen durchzogen sind“ (21), geht der anschließende Beitrag von Markus Rieger-Ladich davon aus, dass dies auch fĂŒr den erziehungswissenschaftlichen Diskurs und „die pĂ€dagogische Rede von HeterogenitĂ€t“ (27) selbst gilt. Mit Fokus auf die ordnungsstiftende Bezeichnungs- und Klassifizierungspraxis, die etwas ĂŒberhaupt erst als different bzw. abweichend in Erscheinung treten lĂ€sst, wird die dem HeterogenitĂ€tsdiskurs eignende ‚Ontologie‘ der Verschiedenheit problematisiert und die Perspektive auf die Folgen machtvoller Differenzmarkierungen und die Ausschließung produzierenden NormalitĂ€tserwartungen von Bildungsinstitutionen umgestellt. Dass das Problem der „Machtförmigkeit“ (43) nicht nur die sozialen Unterscheidungen, mit denen Individuen bezeichnet werden, betrifft, sondern auch fĂŒr den mit den Konzepten von „Chancengleichheit“ und „Anerkennung“ entfalteten normativen BegrĂŒndungszusammenhang heterogenitĂ€tssensibler AnsĂ€tze folgenreich ist, bildet den analytischen Ausgangspunkt des Beitrags von Paul Mecheril und Andrea J. Vorrink.

Die in Kapitel II „HeterogenitĂ€tskategorien und -felder“ folgenden BeitrĂ€ge von Frank-Olaf Radtke („Kultur“), Christine Thon („Geschlecht“) und Albert Scherr („Klasse“) entfalten ihre Diskussion der in Rede stehenden Kategorien/Konzepte auf der Grundlage unterschiedlicher Bezugnahmen auf gesellschaftstheoretisch informierte Überlegungen. WĂ€hrend Radtke die TragfĂ€higkeit von „Kultur“ als Analysekategorie im Migrationskontext grundlegend in Frage stellt, erweisen sich „Geschlecht“ und „Klasse“ Thon und Scherr folgend als unverzichtbarer Bezugspunkt eines analytischen Zugriffs auf soziale UngleichheitsverhĂ€ltnisse und bildungsinstitutionelle Strukturbildungen. Eine von allen bislang genannten BeitrĂ€gen geteilte Problematisierungsachse bildet dabei die pĂ€dagogisch motivierte Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeiten, die bei Radtke ihren Ausdruck in einer grundlegenden Skepsis gegenĂŒber der Adressierung von Individuen als „ReprĂ€sentanten von Kollektiven“ (74) und ihrer identitĂ€tspolitischen Aufladung im pĂ€dagogischen Kontext findet. Mit den BeitrĂ€gen von Dieter Katzenbach sowie Katharina Walgenbach und Lisa Pfahl wird neben grundlegenden konzeptionellen Überlegungen zu „Inklusion“ und „IntersektionalitĂ€t“ ein stĂ€rkerer Fokus auf die bildungsinstitutionellen Exklusionsprozesse gelegt, die sich mit der Zuschreibung des Merkmals ‚Behinderung‘ resp. eines sonderpĂ€dagogischen Förderbedarfs verbinden und die nicht zuletzt auf eine latente soziale Differenzierungspraxis hinweisen. Der diesem Teilkapitel auch zugeordnete Beitrag von Jasmin Decristan und Nina Jude liegt hinsichtlich der darin thematisierten „HeterogenitĂ€tskategorie Schulleistung“ gewissermaßen ‚quer‘ zu den anderen BeitrĂ€gen, insofern hier zum einen ein nicht sozial zugeschriebenes, sondern ein als individuell erworben verstandenes Merkmal im Vordergrund steht, zum anderen auf die theoretisch-konzeptionelle Erschließung der Kategorie Schulleistung verzichtet wird. Die der Diskussion zu Erscheinungsformen und Ursachen von Leistungsunterschieden zugrunde gelegten einschlĂ€gigen empirischen Befunde geben gleichwohl Hinweise darauf, dass es sich auch im Fall von Schulleistung um ein Merkmal handelt, das seinerseits von sozialen Zuschreibungspraxen nicht unbeeinflusst ist.

Der das Kapitel III „Schulsystem und Einzelschule“ eröffnende Beitrag von Merle Hummrich geht der Bedeutung einer international-vergleichenden Perspektive nach und weist dabei am Beispiel von Deutschland und USA auf die jeweiligen kulturell-historischen Tradierungen und schulstrukturellen Besonderheiten im ‚Umgang mit HeterogenitĂ€t‘. Der anschließende Beitrag von Isabell van Ackeren und Svenja Mareike KĂŒhn verdeutlicht, wie eng die historisch variierenden Differenzierungsmuster zur Herstellung (vermeintlich) homogener Lerngruppen (entlang von Stand, Schicht, Geschlecht oder ‚Begabung‘) an die in ihren GrundzĂŒgen bis heute unverĂ€ndert verbliebene hierarchisch gegliederte Struktur des deutschen Bildungswesens rĂŒckgebunden sind. Der Beitrag von Albrecht Wacker zu Schulstruktur und Zweigliedrigkeit akzentuiert demgegenĂŒber nicht das institutionelle Beharrungsvermögen des Bildungssystems, sondern fokussiert den aktuellen Wandel zu unterschiedlichen Varianten der Unterscheidung von gymnasialen und nicht-gymnasialen Schulformen und diskutiert auf der Basis der bislang nur unzureichend vorliegenden empirischen Befunde mögliche Effekte dieses Wandels auf das Ausmaß und die Erscheinungsformen sozialer DisparitĂ€ten. Im abschließenden Beitrag dieses Kapitels stellen Barbara Wimmer und Herbert Altrichter Bedingungen und Möglichkeiten heterogenitĂ€tsorientierter Schulentwicklungsstrategien vor.

Das Kapitel IV „Professionalisierung, Unterricht, Didaktik“ wird von einem Beitrag von Ina Biederbeck und Martin Rothland eröffnet, der den ‚Umgang mit HeterogenitĂ€t‘ als Bezugspunkt fĂŒr Professionalisierungsprozesse zum einen auf der Grundlage unterschiedlicher professionstheoretischer AnsĂ€tze, zum anderen auf der Grundlage empirischer Befunde aus dem Kontext der Einstellungs- und Selbstwirksamkeitsforschung diskutiert. WĂ€hrend dabei ‚HeterogenitĂ€t‘ als ‚empirischer‘ Sachverhalt und im Sinne eines gegebenen professionellen Handlungsproblems vorausgesetzt wird, betont der aus der Perspektive der empirischen Lehr-Lernforschung und pĂ€dagogischen Diagnostik geschriebene Beitrag von Karl-Heinz Arnold und Carola Lindner-MĂŒller erneut die ‚Unterbestimmtheit‘ (238) des HeterogenitĂ€tskonstruktes. Im Rahmen der Diskussion von Formen und (Neben-)folgen adaptiver Unterrichtsstrategien steht das ĂŒbergeordnete schulpĂ€dagogische Thema der Lerngruppendifferenzierung im Fokus, welches in den anschließenden BeitrĂ€gen von Thorsten Bohl, Thomas HĂ€cker sowie Susanne Prediger und Claudia von Aufschnaiter ausfĂŒhrlicher behandelt wird. Die in der programmatisch orientierten HeterogenitĂ€tsliteratur hĂ€ufig generalisierend als ‚Problemlösungsstrategien‘ angebotenen didaktisch-methodischen Überlegungen zum individualisierten oder adaptiven Unterricht werden von Bohl in RĂŒckbindung an allgemeine empirische Befunde zu UnterrichtsqualitĂ€t einer differenzierenden Betrachtung unterzogen, wĂ€hrend Prediger und von Aufschnaiter aus fachdidaktischer Perspektive Gelingensbedingungen eines niveaudifferenzierenden Lernens diskutieren. HĂ€cker konfrontiert die programmatische Orientierung an ‚Individualisierung‘ mit empirischen Befunden aus quantitativen und qualitativ-rekonstruktiven Studien und verdeutlicht, dass individualisierender Unterricht mit Blick auf die Problemstellung der (Re-)produktion von Bildungsungleichheit nicht ohne weiteres als Teil der Lösung, sondern ebenso auch als ein möglicher Teil des Problems reflexiv in Rechnung gestellt werden muss.

In der Gesamtbetrachtung der lesenswerten und anspruchsvollen BeitrĂ€ge des Studienbuches zeigt sich eine breite und die mittlerweile erreichte disziplinĂ€re Ausdifferenzierung dokumentierende Bearbeitung der Thematik. Der Band reprĂ€sentiert aber auch insofern den „state of the art“ – zumindest der deutschsprachigen Forschung –, als die differenzierte Entfaltung der unterschiedlichen fachspezifischen bzw. subdisziplinĂ€ren Zugangsweisen verdeutlicht, dass von einer einheitlichen theoretischen Fassung des pĂ€dagogischen Sachverhaltes ‚HeterogenitĂ€t‘ nicht ausgegangen werden kann, sondern dass es sich, wie von den Herausgebern in der Einleitung markiert, um durchaus „widerstreitende Perspektiven“ (12) handelt. Damit verweisen die BeitrĂ€ge in ihrer Summe auch auf ein grundlegendes Dilemma des erziehungswissenschaftlichen Diskurs- und Forschungsfeldes ‚HeterogenitĂ€t‘: WĂ€hrend ‚HeterogenitĂ€t‘ im RĂŒckgriff auf sozialkonstruktivistische Theorieangebote zum Gegenstand einer ungleichheits- und machtanalytischen Reflexion gemacht und auch als Effekt institutioneller Beobachtungsweisen thematisiert wird, scheinen sowohl die empirische Beobachtung von HeterogenitĂ€t in Schule und Unterricht als auch didaktische Differenzierungskonzepte aus methodologischen GrĂŒnden nicht auf jene ‚ontologische‘ Annahme der als solches gegebenen ungleichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen verzichten zu können. Hinsichtlich der systematischen Analyse des Zusammenhangs von HeterogenitĂ€t und Ungleichheit im Bildungssystem artikuliert sich in dem Band damit nolens volens ein nach wie vor bestehendes Desiderat: Gerade weil von einer komplexen VerschrĂ€nkung leistungsdifferenzierender und intersektionaler Zuschreibungslogiken in Schule und Unterricht auszugehen ist, wirft der in Rede stehende Gegenstandsbereich auch grundlegende methodologische Fragen auf, die in der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion gegenwĂ€rtig erst in AnsĂ€tzen bearbeitet werden [1]).

[1] Diehm, Isabell/Kuhn, Melanie/Machold, Claudia (Hrg.): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. VerhĂ€ltnisbestimmungen im (Inter-)DisziplinĂ€ren. Wiesbaden: Springer VS 2017.
Ulrike Hormel (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrike Hormel: Rezension von: Thorsten, Bohl, / JĂŒrgen, Budde, / Markus, Rieger-Ladich, (Hg.): Umgang mit HeterogenitĂ€t in Schule und Unterricht, Grundlagentheoretische BeitrĂ€ge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen. Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382524755.html