Wer der Frage nachgeht, was Schulen eigentlich versuchen, um Schülerinnen und Schüler frühzeitig mit demokratischen Praktiken vertraut zu machen, der wird feststellen, dass zumindest in der öffentlichen Diskussion über Bildung das Thema Demokratie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Man verlässt sich darauf, dass zwar sowohl die Zivilgesellschaft als auch die schulische Grundbildung auf demokratische Kompetenzen angewiesen sind, diese sich jedoch nebenbei entwickeln. Demokratie ist in Schulen eher selten ein lebendiger Erfahrungswert. Meist begegnen Kinder und Jugendliche ihr als einem abstrakten Begriff, der überwiegend in wenigen Unterrichtseinheiten abgearbeitet wird.
Dabei steht außer Frage, dass Schule und Demokratie einander bedürfen und Demokratie ohne Bildung nicht denkbar ist. Die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Demokratie und Schule ist aber nicht erst ein Phänomen unserer Zeit. Fritz Osterwalder geht daher in „Demokratie, Erziehung und Schule“ in historischer Perspektive der Frage nach, wie sich das Verhältnis von Demokratie und Erziehung entwickelt hat und heute darstellt. Dabei wird das Konzept „Demokratie“ vor allem als politische Idee verstanden, die nicht zwangsläufig demokratische Lebens- und Erziehungsformen einbezieht.
Das auf Basis einer Vorlesung entstandene Buch nimmt die Erfahrungen und Überlegungen auf, die sich in der Diskussion mit Studierenden in Karlsruhe und Bern ergeben haben. Der Vorlesungscharakter findet sich daher auch im Aufbau der Publikation wieder: In 14 Buchkapiteln nähert sich Osterwalder überblicksartig und anhand ausgewählter Beispiele dem Thema und nimmt dabei Bezug auf deren Bedeutung und Genese in der jeweils vorgestellten Epoche.
Im Kapitel „Die Konzepte Demokratie und Erziehung“, zeigt Osterwalder, wie komplex und schwierig die Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten Demokratie und Erziehung aufgrund deren normativen Charakters sein kann. Nach der einleitenden Diskussion und für die weitere Betrachtung notwendigen Begriffsdefinition, widmet sich das folgende Kapitel der römischen Republik und der hellenistischen Staatenwelt in der Antike sowie dem damals vorherrschenden Demokratieverständnis und deren Einfluss auf die Neuzeit, wobei Platon und Cicero im Fokus der Betrachtung stehen. Folgerichtig widmet sich der anschließende Abschnitt der Wiederentdeckung der Antike in den autonomen Stadtstaaten Norditaliens, insbesondere in Florenz, und deren republikanischer Gestalt. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Auseinandersetzung mit dem Wirken von Niccolò Machiavelli.
Gegenstand des Kapitels „Individuelle Rechtssphäre – die Erziehung der Person“, sind die Schriften von Robert Filmer und John Locke, die geprägt durch die Herrschaftskonflikte im England des 17. Jahrhunderts maßgebende Gedanken zur gesellschaftlichen Ordnung formuliert haben. Dass Zeiten der staatlichen „Unordnung“ stets zu grundlegenden Überlegungen von Staat und selbst Bildung führen, zeigt Osterwalder auch im folgenden Kapitel „Krise der Republik und republikanische Moral“, welches z.B. Bildungskonzepte aus dem 18. Jahrhundert in der Schweizer Eidgenossenschaft vorstellt und beschreibt, wie diese als eine Erneuerung republikanischer Vorstellungen eingeordnet und verstanden werden kann.
Das Kapitel „Moderne Demokratie“ widmet sich vorrangig der Darstellung der Ideen der französischen Staatstheoretiker Montesquieu und Mably zu den Entwicklungen der amerikanischen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit James Madison wird ergänzend einer der amerikanischen Gründungsväter und die Bedeutung seines Wirkens für das amerikanische Bildungssystem vorgestellt. Mit dem Konzept der „instruction publique“ von Condorcet im revolutionären Frankreich beschäftigt sich das folgende Kapitel. Die politische Auseinandersetzung zu den Aufgaben der öffentlichen Bildung in der Dritten Französischen Republik stellt das zehnte Kapitel vor. Namentlich sei hier Jules Ferry genannt, der sich gegen die Kirche und die Jesuiten wandte, wenn es um Fragen der schulischen Erziehung ging, und ihnen die Fähigkeit zur notwendigen Moralerziehung absprach, die für die Entwicklung einer modernen demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Rechtsgleichheit und dem bildungspolitischen Ziel der Chancengleichheit, insbesondere in der Schweiz, widmet sich Osterwalder ebenfalls in einem eigenen Beitrag, bevor sich das folgende Kapitel „Öffentlichkeit, Multikulturalität und Demokratie“ mit dem amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey auseinandersetzt. Mit Blick auf die Erschütterungen der Weltwirtschaft seit Ende der 2000er Jahre erscheint das Kapitel „Private und öffentliche Trägerschaft“ besonders interessant. Hier stellt Osterwalder die Ideen zur schulischen Bildung der sogenannten chicago boys wie Milton Friedman vor, die sich für eine Privatisierung des Bildungswesens und für ein Zurückdrängen des Staates stark machten. Folgend wird anhand der internationalen Erhebungen zum Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern der demokratiebedeutsame Einfluss auf die weltweiten Bildungssysteme analysiert, während im Kapitel „Schule – eine demokratische Institution“ die demokratischen Partizipationsmöglickeiten in der Schule aus Sicht des Autors vorgestellt werden.
Im Epilog des vorliegenden Bandes nennt Osterwalder dann das entscheidende Ergebnis seiner Analyse: „dass aber die Auseinandersetzung über die Ausrichtung von Erziehung und Schule auf Demokratie und jene über die Grundlegung von Demokratie durch Schule und Erziehung von zentraler Bedeutung für die Herausbildung der modernen Gesellschaften war und bleiben wird“ (218).
Der Autor stellt in seinem Buch eine fundierte Auswahl entscheidender Markierungspunkte im Wechselspiel von Demokratie und Erziehungsidealen vor und leistet damit einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit den Themen Erziehung und Demokratie aus bildungshistorischer Perspektive. Insbesondere aufgrund der vielen Fallbeispiele eignet sich das Buch für einen Einstieg in die Auseinandersetzung mit der demokratierelevanten Bedeutung von Erziehung und Bildung und ist besonders auch für Studierende zu empfehlen. Allerdings muss man kritisch anmerken, dass Osterwalder bei seiner Analyse die inzwischen doch umfangreiche aktuelle fachwissenschaftliche Auseinandersetzung zum Themenfeld Demokratieerziehung in der Schule weitestgehend vernachlässigt. Spätestens seit Beginn der 2000er Jahre wird in der Schulpädagogik ebenso wie in der Politischen Bildung über Formen, Ziele, Grundlagen und Wege des Demokratielernens und seine normativen Voraussetzungen diskutiert. Zwar deutet der Autor diesen Diskurs bereits in der Einführung kurz an, indem er aber z.B. die Wahl eines Klassensprechers im Lebensfeld Schule als demokratisch nur wenig bedeutsam beschreibt, entsteht unweigerlich der Eindruck, dass die praxisnahen Wege und die (ohnehin zu geringen) demokratiebedeutsamen Elemente der Schule nicht wirklich relevant erscheinen (18f).
Dieser Eindruck verstärkt sich bei der Lektüre des mit sechs Seiten recht kurz gehaltenen Kapitels „Schule – eine demokratische Institution“. Hier stellt Osterwalder abschließend die Erkenntnisse seiner historischen Analyse mit Blick auf die Schule von heute vor und beschreibt dabei die Möglichkeiten und zahlreichen Grenzen demokratischer Mitbestimmung, ohne sich jedoch auf die aktuellen Diskurse und Einsichten zu berufen. Bedauerlicherweise werden hier auch keine aktuellen internationalen Perspektiven angesprochen oder gar vorgestellt – wiewohl von der Charta des Europarats zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung über die IDEC-Bewegung bis hin zu zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen doch gerade hier ein auch für die deutsche Debatte und Praxis fordernder und bedeutsamer Hintergrund entstanden ist. Gerade aufgrund des verheißungsvollen Buchtitels kann „Demokratie, Erziehung und Schule“ die Erwartungen zum Thema Schule in diesem Punkt nicht erfüllen.
EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)
Demokratie, Erziehung und Schule
Zur Geschichte der politischen Legitimation von Bildung und pädagogischer Legitimation von Demokratie
Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2011
(200 S.; ISBN 978-3-8252-3557-4; 14,90 EUR)
Mario Förster (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mario Förster: Rezension von: Osterwalder, Fritz: Demokratie, Erziehung und Schule, Zur Geschichte der politischen Legitimation von Bildung und pädagogischer Legitimation von Demokratie. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382523557.html
Mario Förster: Rezension von: Osterwalder, Fritz: Demokratie, Erziehung und Schule, Zur Geschichte der politischen Legitimation von Bildung und pädagogischer Legitimation von Demokratie. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382523557.html