Laut Studien zur Qualität von Unterricht, die Andreas Helmkes Angebots-Nutzungs-Modell folgen, spielt die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften neben anderen Wissens-, Fähigkeits- und Kompetenzbereichen eine bedeutsame Rolle für die Wirksamkeit von Unterricht. Im pädagogischen Kontext fallen vornehmlich jene Tätigkeiten in den Bereich der Diagnostik, die zur Beurteilung von Personen- und Situationsmerkmalen beitragen, d.h. die Leistungsbewertung ebenso wie beispielsweise Einschätzungen über die Motivation oder das Verhalten von Schülern, über das Klassenklima oder auch über Aufgabenschwierigkeiten. Empirische Befunde zur diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften weisen ein ambivalentes Bild auf. Während Lehrkräfte die Rangfolge der Leistungen ihrer Schüler recht treffend einzuschätzen vermögen, überschätzen sie in der Regel das Leistungsniveau ihrer Lerngruppen und sie unterschätzen die Leistungsstreuung. Darüber hinaus scheint die diagnostische Kompetenz bezüglich von Unterrichtsvariablen noch stark ausbaufähig zu sein. Diagnostische Kompetenz kann im Zusammenhang mit gutem Unterricht wie eine Katalysatorvariable wirken, doch ohne guten Unterricht bleiben gute Diagnosen wirkungslos.
Mit dem Ziel der Entwicklung eines „Denkgerüsts“ (10) für Lehrkräfte, das zur Optimierung diagnostischer Tätigkeiten beiträgt, legen die Psychologinnen Ingrid Hesse und Brigitte Latzko der Universität Leipzig das hier zu besprechende Buch vor. Nach ihrer Auffassung ist die Qualität der Diagnosekompetenz von Lehrkräften insbesondere nach den jüngeren Schulleistungsstudien (wieder) in den Fokus gerückt. Seither werden verstärkt Wege zur Schaffung entsprechender Lernsituationen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern gesucht. Ähnlich wie in vielen anderen Veröffentlichungen wird im vorliegenden Band die pädagogische Diagnostik synonym zur pädagogisch-psychologischen Diagnostik gesehen. Die Autorinnen wollen ein Lernangebot sowohl für Studierende als auch für im Beruf stehende Lehrkräfte bereitstellen, dass sich durch Verständlichkeit, Praxisorientierung und zugleich durch theoretische Fundierung auszeichnet und Wege zu theoriegeleiteten Hypothesenbildungen und deren Prüfung weist.
Die Veröffentlichung ist in vier Teile gegliedert. Zunächst werden Sinn und Zweck einer vielfältig ausgerichteten pädagogisch-psychologischen Diagnostik im Kontext des Lehrerhandelns vorgestellt. Die Autorinnen machen deutlich, dass diagnostische Urteile in der Gefahr stehen durch typische Urteilstendenzen und Fehler beeinflusst zu werden. Zudem weisen sie diagnostische Aufgaben einer jeden Lehrkraft im Vergleich zu anderweitig institutionalisierten Formen der Diagnostik und Beratung beispielsweise durch Förderschullehrkräfte, Beratungslehrer oder Schulpsychologen aus.
Im zweiten Teil werden messtheoretische Grundlagen skizziert. Die Skizze entspricht dem, was Ingrid Hesse und Brigitte Latzko „für das diagnostische Handeln von Lehrkräften nützlich“ (58) erscheint. Ihre Ausführungen zum Messen und zu den Gütekriterien von Verfahren der pädagogisch-psychologischen Diagnostik sind auch für Novizen nachvollziehbar.
Der mit knapp 300 Seiten umfangreichste dritte Teil befasst sich mit ausgewählten Anlässen und Situationen diagnostischen Handelns im Schulalltag. Mit zahlreichen Beispielen wird auf Lernvoraussetzungen von Schülern und auf Aspekte der Unterrichtsqualität als Determinanten der Schulleistung eingegangen. Es folgen Ausführungen zur Diagnostik im Rahmen der Feststellung des Lernerfolgs durch Schulleistungstest in verschiedenen Lernbereichen sowie die Vorstellung alternativer Beurteilungsverfahren. Als Verfahren werden beispielsweise der kognitive Fähigkeitstest (KFT 4-12+ R), das Arbeitsverhaltensinventar (AVI), die Skalen zur Erfassung des schulischen Selbstkonzepts (SESSKO), Schülerfragebögen zur Unterrichtsqualität, der Hamburger Schulleistungstest für 4. und 5. Klassen (HST 4/5), der Leseverständnistest für Erst- bis Sechsklässler (ELFE 1-6), die Hamburger Schreibprobe 1-9 (HSP 1-9) oder auch der Deutsche Mathematiktest für dritte Klassen (DEMAT 3+) vorgestellt und es werden auf die jeweiligen Verfahren bezogene Fördermöglichkeiten aufgezeigt. Zudem sind der Diagnostik von Hochbegabung ebenso wie derjenigen von Lernschwierigkeiten und der Diagnostik am Beginn von Klasse 5 je eigene Unterpunkte gewidmet.
Den letzen Teil stellen Aufgaben zur Optimierung der eigenen diagnostischen Kompetenz dar. Dazu wird zunächst eine von Helmke entworfene fünfschrittige Selbstdiagnose zur Erfassung eigener diagnostischer Kompetenz angeführt. Es folgen Ausführungen zur kollegialen Fallberatung als effektiver Interventionsmaßnahme zur Arbeit an der Psychohygiene bei Problemfällen und darüber hinaus Aufgaben zur Auseinandersetzung mit Testverfahren, zur Vorbereitung von Diagnosesituationen, zur Analyse von Klassenarbeiten und zum Entwerfen informeller Tests. Zuletzt regen die Autorinnen zu einer angeleiteten Fallanalyse an. Das Buch endet mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem Verzeichnis der vorgestellten Tests.
Zusammenfassend liefert die Veröffentlichung fundierte und kompakte Informationen für diagnostische Tätigkeiten von Lehrkräften. Als besonders vorteilhaft sind die Zusammenschau über formelle und informelle Verfahren, die zur Diagnostik eingesetzt werden können, und darauf bezogene Fördermaßnahmen hervorzuheben. Je nach Situation können aus dem dritten Teil gezielt Textabschnitte herausgesucht werden, die über die jeweiligen Diagnostikaspekte informieren und eine Vorauswahl möglicher Diagnoseverfahren bieten.
Eine Ausweisung impliziter und expliziter pädagogischer Vorannahmen, d.h. eine Reflexion der gesetzten pädagogischen Maßstäbe, erfolgt im Rahmen des zugrunde gelegten Verständnisses einer „pädagogisch-psychologischen Diagnostik“ leider nur eingeschränkt. So müssen Lehrkräfte (und damit Schulen) selbst entscheiden, welche der vorgestellten diagnostischen Ansätze zu ihren pädagogischen Förderkonzepten passen und inwiefern ihr Fokus eher auf die Aufdeckung von Defiziten oder die Erkundung vorhandener Potenziale ausgerichtet ist. Gleichwohl ist es Ingrid Hesse und Brigitte Latzko gelungen, ein gut einsetzbares Lernangebot zur Diagnostik zu verfassen, das sowohl für Studierende zur Einarbeitung in die Thematik als auch für gestandene Lehrkräfte als eine Art Kompendium und Ratgeber nützlich ist.
EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)
Diagnostik für Lehrkräfte
Opladen und Farmington Hills: Budrich 2009
(318 S.; ISBN 978-3-8252-3088-3; 24,90 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Hesse, Ingrid / Latzko, Brigitte: Diagnostik für Lehrkräfte. Opladen und Farmington Hills: Budrich 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382523088.html
Daniel Blömer: Rezension von: Hesse, Ingrid / Latzko, Brigitte: Diagnostik für Lehrkräfte. Opladen und Farmington Hills: Budrich 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382523088.html