EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Mark Roche
Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten
Blaue Reihe
Hamburg: Meiner 2014
(297 S.; ISBN 978-3-7873-2492-7; 22,90 EUR)
Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten Wer wissen will, was die Historische Bildungsforschung zu leisten imstande ist, um aktuelle Debatten über Probleme von Erziehung und Bildung, über die Gestaltung von Schulen und Hochschulen sowie über die Notwendigkeit einer politischen und wissenschaftlichen Definition allgemeiner Bildungsziele mit einem Arsenal von guten Argumenten auszurüsten und mit wichtigen Orientierungspunkten zu versehen, der sollte zu dem jetzt von dem amerikanischen Germanisten Mark Roche vorgelegten brillanten Pamphlet über die gegenwärtige Situation der deutschen und amerikanischen Universitäten greifen. Denn der Autor geht in seiner Darstellung von der Grundannahme aus, dass die Bildungsgeschichte, also die durch einschlägige Forschungen erschlossene und bewusst reflektierte pädagogische Tradition, „eine historische Kraftquelle“ ist, eine „Quelle der beflügelnden Verpflichtungen“, die gleichsam „Wunder wirken“ kann, „wenn es gilt“, in der Hochschullandschaft des frühen 21. Jahrhunderts „normative Ideale für die Zukunft aufzustellen“ (272).

Roche lehrt zurzeit als Professor an der Notre Dame University in Indiana, der führenden katholischen Hochschule der USA, doch hat er zuvor als Akademiker und Hochschuladministrator auch am 1793 gegründeten Williams College und an der Ohio State University gewirkt. Er kennt also die alten, privaten, elitären und zum Teil konfessionell geprägten amerikanischen Elitecolleges und deren Strukturen genauso wie die neueren staatlichen Hochschulen der Vereinigten Staaten, die sich den Herausforderungen der modernen Massenuniversität stellen müssen. Zugleich hat er aber auch viele Jahre in Deutschland zugebracht, wo er an den Universitäten Bonn, Tübingen, Duisburg-Essen, Dresden und Halle-Wittenberg studierte, forschte und lehrte. Ein von Roche vorgetragener Vergleich zwischen deutschen und amerikanischen universitären Bildungsidealen und -praktiken ist also eine Analyse aus berufenem Munde. Dass sie erhellend ist, verdankt sich – neben der stilistischen Eleganz und den analytischen Fähigkeiten des Autors – vor allem, wie eingangs betont, einem Rückblick auf die jeweiligen Bildungstraditionen der beiden untersuchten Nationen, die in den vergangenen Jahrhunderten die Bildungsgeschichte des Westens mehr als andere geprägt haben.

Roche will sowohl für die amerikanischen als auch für die deutschen Hochschulen das Beste und kritisiert gerade deswegen zunächst die hier wie dort anzutreffenden Mängel und Schwächen auf eine so klare wie schonungslose Weise. In Amerika beklagt er die stark schwankende Qualität der universitätsvorbereitenden Highschools, die mit der Leistungsstärke der meisten deutschen Gymnasien schlicht nicht mithalten können, weshalb das schulische Durchschnittsniveau in den USA deutlich niedriger ist als das in Deutschland (68). Weil es zudem in den Vereinigten Staaten wichtiger ist, wo man studiert, als was man studiert, führt der Druck, an eine der renommierten Hochschulen zu kommen, an den ambitioniertesten amerikanischen Highschools zu einer Fixierung auf standardisierte Prüfungen und Probeessays sowie auf die für die Zulassung an der Universität zwingend notwendigen Zensuren (69). Sind Studierende dann an der Universität ihrer Wahl angelangt, müssen sie – oder besser ihre Eltern – Studiengebühren entrichten, die mittlerweile astronomische Höhen erreicht haben, weshalb für viele amerikanische Familien die Studiengebühren, nach dem Hauskauf, den „zweithöchste[n] Ausgabeposten im Leben“ (73) darstellen. Ferner haben amerikanische Studenten einen oft überladenen Stundenplan, der es ihnen gerade in den ersten Studienjahren kaum erlaubt, sich frei und vertieft bedeutsamen Fragen ihres Faches mit Eigenständigkeit zuzuwenden. Schließlich werden sie oft wegen ihres unstrittig hohen Arbeitspensums – und weil sie ja sehr viel Geld für ihr Studium zahlen – mit guten Noten belohnt, selbst dann, wenn ihre Leistungen einmal nicht überragend sein sollten. Roche führt an, dass sich der Notendurchschnitt an amerikanischen Universitäten im Verlauf der letzten dreißig Jahre inflationär erhöht habe [1], und ein „A“ momentan eine „Allerweltsnote“ ist, „obwohl die Professoren sich doch oft über die Qualität der Studenten beklagen“ (78). Um die wichtigsten Mängel in Amerika zu beheben fordert Roche daher, größere intellektuelle Freiräume in stärker geförderten staatlichen Schulen zu schaffen sowie bessere Stipendienprogramme für alle talentierten Studenten zu kreieren, damit Universitätsdozenten erst gar nicht der Versuchung erliegen, unverhältnismäßig günstige Noten zu vergeben.

In Deutschland sind es insbesondere zwei Mängel, die nach Ansicht von Roche die Leistungsfähigkeit der hiesigen Universitäten und ihrer Studierenden auf eine ganz beträchtliche Weise mindern: Zum einen sind die deutschen Hochschulen, die überwiegend mit öffentlichen Mitteln versorgt werden und kaum private Geldgeber haben, chronisch unterfinanziert, was unter anderem dazu führt, dass nicht genügend Professoren pro Student zur Verfügung stehen und ein guter Betreuungsschlüssel nicht gegeben ist. Zum anderen gibt es an deutschen Universitäten keinen ausgeprägten Wettbewerb, weil wegen der eher spärlichen Geldmittel nur wenige extrinsische Anreize bestehen und herausragende Leistungen in der Lehre oder in der Forschung nur unzureichend honoriert werden (59). Auf signifikante Weise deutlich wird dies bei den oft jämmerlichen, fast absurden deutschen Berufungsverfahren, die im Vergleich zu den USA überdies in einem armseligen „Schneckentempo“ (63) abgewickelt werden, das es Universitäten gar nicht erlaubt, „schnell zu reagieren, um hervorragende Leute für sich an Land zu ziehen, oder auch wendig genug zu sein, um ihnen attraktive, auf sie zugeschnittene Angebote zu machen“ (64). Diese von Behäbigkeit geprägte und nicht von Transparenz zeugende Berufungskultur führt dann in Deutschland oftmals dazu, in den Berufungskommissionen „als seine zukünftigen Kollegen eben nicht die besten auszusuchen“, denn vielfach möchte man „verhindern“, wie Roche es unter Verweis auf entsprechende Studien von Jochen Hörisch [2] auf den Punkt bringt, „dass jemand besser ist als ich“ (66).

Wer sich nun aus Verantwortung und Liebe zur Universität die baldige Behebung der konstatierten Mängel auf die Fahnen schreibt, muss in Deutschland und in den Vereinigten Staaten an jeweils ganz unterschiedlichen Punkten ansetzten – und er muss, wie Roche es in seinem Pamphlet dann auch eindrucksvoll vorführt, vor allem eine exzellente Kenntnis des aus vielen verschiedenen Entwicklungsphasen zusammengesetzten Entstehungsprozesses des deutschen und auch des amerikanischen Hochschulwesens haben. Denn vielfach lassen sich erst auf der guten Grundlage eines vertieften Verständnisses der – erstaunlich oft miteinander verflochtenen und aufeinander bezogenen – Bildungstraditionen beider Staaten Lösungen für die Probleme der Gegenwart entwickeln. Als Grundsatz gilt dabei: Deutschland und die USA können in der Tat voneinander lernen – anders als dies manche Skeptiker suggerieren, die den von Bildungsreformern angeführten Verweis auf das Ausland häufig als Fehlinformation diskreditieren, weil man doch Äpfel nicht mit Birnen vergleichen dürfe [3] –, doch sollten vorbildliche Züge des jeweils anderen Systems nicht einfach blind kopiert, sondern, unter Beachtung der mitunter doch hier wie dort sehr verschiedenen Rahmenbedingungen, geschickt in die gewachsenen Strukturen des eigenen Bildungswesens integriert werden.

Den Amerikanern, die seit Beginn ihrer Collegetradition mit der Gründung Harvards im Jahr 1636 vor allem auf die universitäre Lehre setzten, gelang eine solche Aneignung deutscher Bildungstraditionen im ausgehenden 19. Jahrhunderts, als sie zunächst die John Hopkins University, dann die Universitäten Chicago und Stanford – und in der Folge auch viele weitere Hochschulen – zu Forschungsuniversitäten nach deutschem Muster ausbauten, indem sie konsequent dem Modell der von Humboldt zuerst in Preußen propagierten Einheit von Lehre und Forschung folgten. So bereicherten die Amerikaner ihre Bildungslandschaft um die deutsche Tradition akademischer Freiheit, die es nun auch den Professoren in den USA erlaubte, gleich ihren deutschen Kollegen so zu forschen und zu lehren, wie es ihre Neigungen und Interessen von ihnen verlangten. Noch heute befindet sich im Siegel der 1891 gegründeten Stanford University ein darauf bezogenes Motto in deutscher Sprache: „Die Luft der Freiheit weht“. Für Roche ist diese „Amerikanisierung des deutschen Modells“ (43), der er ein eigenes informativ-kompaktes bildungshistorisches Kapitel widmet, eine anhaltende Erfolgsgeschichte. Die Adaption des deutschen Modells war eine nachhaltig wirksame Leistung: „An den besten amerikanischen Colleges sind bis heute Elemente von Humboldts Programm lebendig, d. h. forschendes Lernen und Persönlichkeitsentwicklung“ (44).

Den deutschen Universitätsrektoren und -präsidenten rät Roche, dass sie nun ihrerseits dafür Sorge tragen sollten, die besten Traditionen der amerikanischen Hochschulen beherzt zu übernehmen, um mit diesem Wissen die deutschen Universitäten tauglich, wendig und zukunftsfähig zu machen. Es geht dabei um die im frühen 20. Jahrhundert in den USA entwickelten akademischen Tugenden der Vielfalt, der Flexibilität und des verstärkten Wettbewerbs, die mit der Bereitschaft einhergehen, sich als Hochschule gerne und mit entsprechend ernsthafter Vorbereitung seriösen Rankings zu stellen und eine Auslese nicht nur der besten Professorinnen und Professoren zu betreiben, sondern auch der besten Studentinnen und Studenten. Eine gute bildungshistorische Kenntnis dieser unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg geleisteten großartigen „amerikanischen Transformation der Universität“ (48), die zahlreiche amerikanische Hochschulen an die Weltspitze führte, könnte deutsche Hochschulplaner und -manager dazu ermutigen, in ähnlicher Weise nun auch in der Bundesrepublik Deutschland mehr Wettbewerb einzufordern und mehr Finanzmittel einzuwerben. Dies sind in der Tat wichtige Aufgaben der hiesigen Hochschulpolitik, „gegen die Deutschland sich sperrte“ (53), viel zu lange und zum eigenen Schaden.

Der Wert der Kenntnis der deutschen und amerikanischen Bildungsgeschichte [4] besteht nach Roche also darin, dass der kundige historische Bildungsforscher eindrucksvolle Belege präsentieren kann, die zeigen, wie gut Transferprozesse im Bildungswesen gelingen können, wenn man genau weiß, welche Traditionen man aus welchen Gründen importieren möchte. Und so schließt er sein ungemein anregendes Buch mit der „Hoffnung“ (271), dass sich hierzulande doch möglichst viele Studenten und Dozenten, Hochschulpräsidenten und Bildungspolitiker mit der Bildungsgeschichte befassen, denn „Deutschland ist durchaus in der Lage, wieder wahre Spitzenuniversitäten hervorzubringen“ (ebd.). Dies, so Roche, gelinge dann besonders gut, wenn man die deutsch-amerikanische Bildungsgeschichte eingehend erforscht, um auf diese Weise produktiv, selbstbewusst und gelassen „aus der Erinnerung zu schöpfen“ (272).

[1] Vgl. dazu auch Arum, R. / Roksa, J.: Academically Adrift: Limited Learning on College Campus, Chicago: 2011; Deresiewicz, W.: Excellent Sheep. The Miseducation of the American Elite and the Way to a Meaningful Life, New York: 2014.
[2] Hörisch, J.: Die ungeliebte Universität: Rettet die Alma mater!, 2. Aufl., München: 2006, 81; Vgl. zu diesem Thema aber auch: Overhoff, J.: „Schluss mit dem Kungeln! Damit die besten Forscher Professor werden, müssen die Platzhirsche Macht abgeben“, In: DIE ZEIT 2014, Nr. 13, 71.
[3] Als prototypischer und fortwährender Bezugspunkt derartiger Argumentationsgänge sei hier angeführt: Zymek, B.: Das Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion. Schulpolitische Rechtfertigung, Auslandspropaganda, internationale Verständigung und Ansätze zu einer Vergleichenden Erziehungswissenschaft in der internationalen Berichterstattung pädagogischer Zeitschriften, 1871–1952, Ratingen / Kastellaun: 1975.
[4] Die besten Darstellungen der amerikanischen Hochschulgeschichte mit vorzüglichen Verweisen auch auf die deutsche Universitätsgeschichte sind: Veysey, L. R.: The Emergence of the American University, Chicago: 1965; Lucas, Ch. J.: American Higher Education. A History, 2. Aufl., New York: 2006; Cohen, A. M. / Kisker, C. B.: The Shaping of American Higher Education: Emergence and Growth of the Contemporary System, 2. Aufl., San Francisco: 2010.
Jürgen Overhoff (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Overhoff : Rezension von: Roche, Mark: Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten, Blaue Reihe. Hamburg: Meiner 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378732492.html