EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Alexander Hoffelner
PĂ€dagogische Improvisation
Theoretische Konzeption und empirische Rekonstruktion
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(336 S.; ISBN 978-3-7815-2598-6; 48,00 EUR)
PĂ€dagogische Improvisation Der Titel der vorliegenden Dissertation von Alexander Hoffelner fasst in zwei Begriffen den thematischen Fokus der Arbeit: PĂ€dagogische Improvisation. Die damit gesetzte Attribuierung wie auch die Nominalisierung durchzieht die Arbeit stringent in klĂ€render Absicht, wobei – wie der Untertitel zeigt – sowohl theoretische Konzeptionen als auch empirische Rekonstruktionen und deren Interdependenzen in den Blick kommen.
Die ĂŒber 330 Seiten umfassende, an der UniversitĂ€t Wien eingereichte Dissertation enthĂ€lt in der publizierten Fassung ein Vorwort von Ilse Schrittesser und Judith Schoonenboom (vgl. 7-9): „Improvisieren-Können als Kompetenz im Professionalisierungskontinuum anzustreben“ (7), erscheine als ein mögliches Konzept und tragfĂ€hige Antwort auf die dem Unterrichtsgeschehen konstitutiven Ungewissheitsmomente. Somit wird bereits im Vorwort klar, dass die Studie auf pĂ€dagogisches Improvisieren von Lehrpersonen im Unterricht fokussiert.

Nach der Einleitung, die einfĂŒhrend Problemfelder, Forschungsstand und ForschungslĂŒcke, Forschungsfragen sowie Struktur und Methodik der Arbeit thematisiert und im Unterkapitel 1.5 eine erkenntnistheoretische Verortung der Arbeit vornimmt, folgt eine Gliederung in zwei Hauptteile: Teil A umfasst die Kapitel 2 bis 5 und widmet sich ausgewĂ€hlten Konzeptionen von Improvisation, Handlungstheorie und pĂ€dagogischer ProfessionalitĂ€t, um im zentralen Kapitel 5 AnsĂ€tze und Konzepte von pĂ€dagogischer Improvisation zu bearbeiten. Der folgende zweite Hauptteil B widmet sich empirischen Rekonstruktionen zu pĂ€dagogischen Improvisationen. Die dort zu findenden Teilkapitel bearbeiten die gewĂ€hlten methodischen ZugĂ€nge und Vorgangsweisen aus der Perspektive der Ethnografie und mittels der Grounded Theory. Ebenso werden dort die fĂŒnf ausgewĂ€hlten improvisierenden Lehrer:innen an Schulen der Sekundarstufe in Wien in ihren Praktiken und Reflexionen zu Improvisation anonymisiert fallspezifisch vorgestellt: Deren ImprovisationsverstĂ€ndnisse und -praktiken wurden kontrastierend ausgearbeitet sowie Improvisieren in den konkreten Unterrichtssituationen textuell sowie ĂŒber Abbildungen sichtbar gemacht. Das mit „Fazit und Diskussion“ (302) ĂŒberschriebene Abschlusskapitel gibt einen systematischen RĂŒckblick und klĂ€rt nochmal das Anliegen der Arbeit: Die Studie zeige sowohl im empirischen als auch im (handlungs-)theoretischen Teil, dass Improvisation fĂŒr Lehrer:innen „alltĂ€glich allgegenwĂ€rtig“ (310) sei; Hoffelner schließt seinen Text wie folgt: „Insofern halte ich es fĂŒr sinnvoll, sich weiter mit dem Improvisieren von Lehrpersonen zu beschĂ€ftigen.“ (310)

In diesem Zitat zeigt sich eine Differenz zwischen Improvisieren und der titelgebenden Improvisation, die in der Arbeit handlungstheoretisch etwa ĂŒber die Theorie zur KreativitĂ€t des Handelns nach Hans Joas gefasst wird. Jedenfalls nimmt die Arbeit das Improvisieren bei Lehrpersonen als FĂ€higkeit und Praxis von pĂ€dagogisch professionellem Handeln in den Blick und bearbeitet so jene pĂ€dagogischen Professionalisierungsprozesse, etwa im Rekurs auf kompetenz-, strukturtheoretische und EPIK-DomĂ€nen-Modelle. So ein VerstĂ€ndnis von Unterricht als Kunst ermögliche es, „die KreativitĂ€t und Improvisation im pĂ€dagogischen Handeln zu betonen und einen Unterricht ins Auge zu fassen, der abseits von Vorhersehbarkeit, absoluter Planbarkeit und Messbarkeit vor allem die Lernenden in den Blick nimmt.“ (130)

Die durch die Gliederung der Hauptkapitel vorgenommene duale Trennung von Theorie und Empirie relativiert und reflektiert Hoffelner in seiner Arbeit ebenso wie die vorgenommene Einordnung der Forschungsarbeit als „qualitativ-sozialwissenschaftliche Forschung“ (189), wenn er benennt, dass eine strikte Trennung zwischen qualitativen und quantitativen ForschungsansĂ€tzen nur schwer aufrechtzuerhalten sei, auch wenn beiden AnsĂ€tzen andere epistemologische Positionen zugrunde liegen wĂŒrden (vgl. 189). Der methodisch offene Zugang des empirischen Teils der Studie untersucht, wie Lehrer:innen in der Sekundarstufe im Unterricht improvisieren und welches VerstĂ€ndnis von pĂ€dagogischer Improvisation sich zeigt. Ethnografisch erforscht die Studie den Unterricht von fĂŒnf Lehrpersonen unter der Perspektive Improvisation und schließt auch Interviews mit den Lehrer:innen und informelle GesprĂ€che ein. Die erhobenen Daten werden von Hoffelner mit der offenen Methode der Grounded Theory im Rekurs auf ‚sensitizing concepts‘ von Kathy Charmaz ausgewertet und weiter bearbeitet, weil dadurch Akteur:innen mehrdimensional in den Blick kommen können und nicht bloß von definitorischen Konzepten exemplarisch und nach theoretischen Vorgaben prĂ€formiert erscheinen.

Methodisch findet sich in der Studie eine klare und explizit begrĂŒndete Verortung im Feld sowie eine gute Nachvollziehbarkeit des Forschungssettings sowohl in der Erhebungs- als auch in der Auswertungsphase, z.B. sechzig Stunden gemeinsame Interpretation in Forschungsgruppen, die zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit beitragen sollen (vgl. 204). Deutlich wird auch in einem eigenen Subkapitel die Reflexion auf die eigene Situiertheit im Forschungsfeld (vgl. Kap. 6.6), die Hoffelner in der Trias von „Schauspieler, Theatermensch und TheaterpĂ€dagoge“ (205), „Vertreter der Wissenschaft“ (205) sowie „Lehrer“ (206f) setzt, der auch in der Aus- und Fortbildung von angehenden Lehrer:innen tĂ€tig ist. Aus dieser Trias leitet Hoffelner etwa auch die Notwendigkeit ab, in Interpretationsgruppen zu arbeiten, in denen keine Lehrer:innen, sondern Sozial- und Bildungswissenschaftler:innen versammelt sind.

Der Arbeit gelingt es gut zu zeigen, dass die professionstheoretische Anerkennung von Offenheit und Kontingenz im pĂ€dagogischen Raum es ermöglicht, Improvisation aus der im AlltagsverstĂ€ndnis von situativ nicht-gut-genug oder mangelhaft vorbereiteten pĂ€dagogischen Praxis zu lösen und so ein pĂ€dagogisches professionelles Handeln in den Blick zu rĂŒcken, in dem angesichts professionellen Wissens und Könnens situativ mit anderen kreiert werden kann. Diese Sichtweise knĂŒpft Hoffelner aus den Umgangsweisen von Improvisation in Musik, Tanz oder Theater (vgl. 302). So kommt Unterrichten als (Performance-)Kunst in den Blick mit der Frage, wie darin die Rolle der Lehrperson zu verstehen sei: „Wodurch zeichnet sich also das pĂ€dagogische Handeln in einer als Kunst verstandenen pĂ€dagogischen Praxis aus?“ (130) Über Praxen der Performance-Kunst, einem VerstĂ€ndnis von Kunst als Können etc. eröffnet die Arbeit freilich berechtigte Fragen und Diskussionen, wie – auch angesichts disziplinĂ€rer Traditionen – neu und anders ĂŒber Forschungspraxen nachzudenken wĂ€re, etwa auch in Kenntnis von bereits situierten Forschungen (wie etwa art based research etc.). PĂ€dagogisches Handeln zwischen Kunst, Spiel [1], ProfessionalitĂ€t u.a.m. auch in transdisziplinĂ€ren RĂ€umen zu verhandeln, entspricht dem Zugang von Hoffelner im Sinne von Ungeplantheit als Charakteristikum fĂŒr Improvisieren (auch in empirischen Rekonstruktionen) durchwegs.

Die vorliegende Studie bietet (höhersemestrigen) Studierenden in den Bildungs- sowie anderen Sozialwissenschaften ebenso wie Forscher:innen (insbesondere auf dem Feld pĂ€dagogischer Professionalisierungstheorien) und pĂ€dagogischen Praktiker:innen in und um Schule vielfĂ€ltige Einsatzpunkte fĂŒr ein geleitetes Nach- und Weiterdenken ĂŒber Improvisation im pĂ€dagogischen Handeln. Sie eröffnet vielfĂ€ltige, etwa etymologische Kontexte, gibt methodische Hinweise und Kontextualisierungen und ist bei aller Differenziertheit in der Sache gut lesbar. Ihr thematischer Fokus liegt auf Lehrer:innen in der Sekundarstufe und auf Improvisation, die als pĂ€dagogische (nicht etwa als fachliche, fachdidaktische etc.) benannt wird.

Lehrer:innen und Forscher:innen könnten ĂŒber pĂ€dagogische Improvisation „neu der Ungewissheit [des] pĂ€dagogischen Handlungsfelds und [der] KomplexitĂ€t schulischen Unterrichts gerecht werden“ (309). Damit könnten etwaige an dieser Arbeit anschließende Folgestudien zum Improvisieren verstĂ€rkt SchĂŒler:innen [2] in den Blick rĂŒcken und/oder die SchĂŒler:innen-Lehrer:innen-Beziehungen, um das Improvisieren vertieft fĂŒr das unterrichtliche Handeln zu erforschen. Es wĂ€re freilich auch naheliegend fĂŒr anknĂŒpfende Forschungsarbeiten, das pĂ€dagogische Improvisieren von pĂ€dagogisch TĂ€tigen zu adressieren, wie das der Titel der vorliegenden Arbeit ankĂŒndigt, wobei die Arbeit sich nachvollziehbarerweise auf Lehrer:innen im Unterricht konzentriert. Die LektĂŒre der Arbeit inspiriert jedenfalls zu weiteren diversifizierenden Untersuchungen und Analysen, um dem Improvisieren als professioneller pĂ€dagogischer Praxis auf der Spur zu bleiben.

[1] Vgl. etwa Nachmanovitchs frĂŒhe Arbeit zu Free Play unter der Perspektive von Improvisation in Leben und KĂŒnsten (vgl. Nachmanovitch, S. (1990). Free play. Improvisation in Life and Art. Jeremy P. Tarcher).
[2] In Anlehnung an die Publikation von Breidenstein könnte etwa gefragt werden: Improvisieren SchĂŒler:innen in ihrem ‚SchĂŒler:innenjob‘ und wenn ja, wie? (vgl. Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnografische Studien zum SchĂŒlerjob. VS Verlag.)
Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Hoffelner, Alexander: PĂ€dagogische Improvisation, Theoretische Konzeption und empirische Rekonstruktion. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152598.html