Die Allgemeine Didaktik befindet sich als erziehungswissenschaftliche Disziplin gegenwärtig in einer Identitätskrise. Sie muss der Kritik begegnen, dass allgemeindidaktische Theorien dem empirischen Desiderat der Disziplin weitestgehend nicht entsprechen würden bzw. dass sie als Disziplin selbst in keiner empirischen Tradition stehe [1] und sich gegen Überlegungen behaupten, ob sie als Disziplin weiterhin haltbar sei oder ob ihre zentralen Fragen nicht zeitgemäßer durch z.B. die Lehr-Lern-Forschung bzw. empirische Bildungsforschung bearbeitet werden könnten. Zudem ringt sie um ihr Selbstverständnis: Während einige Vertreter sie eng als Disziplin der Schulpädagogik fassen, verstehen andere sie – weiter gefasst – als Allgemeine Lehre vom Lehren und Lernen, die nicht auf Theorie und Praxis von Schulunterricht reduziert werden kann. Eingedenk solcher Anzeichen einer Krise sieht Daniel Scholl den allgemeindidaktischen Diskurs zunehmend von der Inhaltsebene auf die Ebene der Metakommunikation verschoben: „Möglichkeiten und Grenzen“ (14) der Disziplin würden diskutiert, ohne dass es zu einer nennenswerten (Weiter-)Entwicklung neuer didaktischer Ansätze komme. Gleichzeitig diagnostiziert er, dass auch die – durchaus differenzierte – Metakommunikation über Allgemeine Didaktik gegenwärtig nicht zu allgemeingültigen Aussagen oder Erkenntnissen über die Disziplin führen könne, denn es fehle der „systematische […] Rahmen einer ausdrücklichen Metatheorie“ (ebd.), der es ermöglichen würde, die Vielzahl gegenwärtig bekannter, paradigmatisch und methodologisch sehr unterschiedlicher didaktischer Modelle zu beschreiben, relational zu ordnen und inhaltlich zu analysieren. Scholl will dieses Desiderat aufgreifen und formuliert das Vorhaben, „eine Metatheorie der Didaktik zu entwickeln“ (ebd.), die es ermöglicht, didaktische Objekttheorien zueinander in Beziehung zu setzen, ihre jeweiligen Schnittmengen, Anschlussmöglichkeiten wie auch blinde Flecken zu identifizieren und so ihre – tendenziell ambivalente – Vielzahl als „Perspektivenvielfalt auf Unterricht für die didaktische Forschung […] nutzbar zu machen“ (27). Es geht mithin darum, eine vorgebliche Schwäche der Disziplin in eine Stärke zu wenden.
Der Ansatz, den Scholl dafür wählt, erscheint dabei zunächst ungewöhnlich. Er rekurriert auf Luhmanns Kommunikationsbegriff und begründet die Entwicklung seiner Metatheorie somit systemtheoretisch. Im Kern seiner Überlegungen stehen ein Unterrichtsbegriff, der „Unterricht generell als Wahrnehmung von Ordnungsaufgaben“ im Sinne der „Herstellung einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Ordnung“ (15) versteht, sowie grundlegende Vorannahmen, die sich auf diesen Unterrichtsbegriff beziehen: Im Rahmen der Systemtheorie werden hier didaktische Modelle generell so gelesen, als würden sie Unterricht im Sinne dieses Begriffes verstehen, um sie über ihren inhaltlichen Bezug auf die drei o.g. Ordnungen ordnen und zueinander in Beziehung setzen zu können. Dabei setzt Scholl als leitende Hypothese – wie er selbst anmerkt „kühn“ (93) – voraus, „dass sich die meisten didaktischen Theorien jeweils schwerpunktmäßig mit einer der drei Ordnungen beschäftigen“ (15 – Hrvhg. K. GdV). Vor dem Hintergrund dieser Annahme identifiziert er zwei Merkmale des (deutschsprachigen) didaktischen Diskurses: So sei den meisten didaktischen Theorien eine „fehlende Auseinandersetzung mit anderen didaktischen Konzeptionen“ (20) zu eigen, was sich u.a. aus ihrer Zuordnung zu unterschiedlichen Paradigmen und Theoriefamilien erklärt; gleichzeitig seien sie aber auch von einem „Pars pro Toto-Denken“ (ebd.) geprägt. Folgt man der Grundannahme Scholls, dass diese Theorien ihren Schwerpunkt immer nur auf eine Ordnungsaufgabe des Unterrichts, also entweder auf Fragen der zeitlichen oder der sozialen oder der sachlichen Ordnung legen, wird ersichtlich, dass die o.g. beiden Merkmale des wissenschaftstheoretischen Diskurses dazu führen müssen, dass die Weiterentwicklung didaktischer Theorien zunächst im Rahmen der einzelnen Theoriefamilien erfolgen und der Totalitätsanspruch der einzelnen Theorien übergreifende Diskurse weitestgehend lähmen muss. Die anvisierte Metatheorie hingegen möchte die Objekttheorien als Teile eines Ganzen erkennbar, analysierbar und nutzbar machen.
Scholl entfaltet seine Überlegungen systematisch sehr klar in vier Teilen. Während er einleitend auf seine Bezugstheorie, seine leitende Hypothese und Vorannahmen verweist, legt er im Teil I die Gründe für die Krise der Allgemeinen Didaktik (17 ff.) dar und reflektiert die Notwendigkeit einer inhaltlich ausgerichteten Metatheorie der Didaktik (22ff.). In Teil II erläutert er die Aufgaben einer solchen Metatheorie (27 ff.) und die Anforderungen an die Theorienbildung (30 ff.), begründet die Wahl seiner Bezugstheorie (32 ff.) und überführt daraus abgeleitete objekttheoretische Annahmen in eine Metatheorie (58 ff.). Im Teil III erfolgt die Differenzierung und Konkretisierung der Metatheorie (63 ff.) und es werden Kriterien zur Auswahl einzelner didaktischer Objekttheorien formuliert (93 ff.), auf welche die entwickelte Metatheorie im Teil IV exemplarisch angewandt wird (97). Im Schlussteil (239 ff.) wird nach einem kurzen zusammenfassenden Überblick auf Aufgaben und Forschungspotenziale der Metatheorie verwiesen.
Scholls Argumentation seiner Metatheorie überzeugt, wenn man seinem systemtheoretischen Ansatz folgt, durchaus. Zunächst vollzieht er Luhmanns Kommunikationstheorie sehr ausführlich nach und wendet diese auf den Unterricht an (wobei der Fokus auf Schulunterricht zu liegen scheint, mithin sich also ein schulpädagogischer Schwerpunkt andeutet): Unterricht wird „ausschließlich als Kommunikation betrachtet“ (50), der die beiden Prozesse Differenz- und Sinnverstehen zu Grunde liegen (undeutlich bleibt, welche Rolle Lernen in diesem sozialen Komplex spielt). Die erzieherische Absicht sieht er dabei nicht als der unterrichtlichen Kommunikation inhärent, sondern an das Medium Sprache gebunden. Sprache kann dabei in drei Dimensionen Sinn herstellen: Sprechprozesse werden im Unterricht thematisch konzentriert (sachliche Ordnung), Themen können nur in einer bestimmten zeitlichen Ordnung behandelt, Beiträge nur Nacheinander eingebracht werden (zeitliche Ordnung), unterschiedliche Sprecher sind beteiligt (soziale Ordnung). Diesen Ordnungen wiederum gehen jeweils sogenannte Vorordnungen, also sachliche (z.B. Lehrpläne), zeitliche (z.B. Länge der Unterrichtseinheiten) und soziale (z.B. soziale Herkunft) Vorbedingungen voraus. Unterricht wird letztendlich als „geordnete Sinnstiftung“ (59) verstanden. Didaktische Theorien kennzeichnet nach dieser Lesart, „dass sie jeweils schwerpunktmäßig Ordnungsvorschläge für die Kommunikation in einer der drei Dimensionen machen“ (ebd.). Eine Metatheorie der Didaktik, so schlussfolgert Scholl, müsse also didaktische Theorien danach ordnen, ob sie vorrangig unterrichtliche Kommunikation als sachliche, zeitliche oder soziale Ordnung behandeln. Diese drei Ordnungen bilden die drei Analysekategorien seiner didaktischen Metatheorie. Um diese Metatheorie auf Objekttheorien anwendbar zu machen, unterteilt er die genannten Analysekategorien in Unterkategorien, denen er jeweils Leitfragen zuordnet, die an die Objekttheorien gerichtet werden können. Er bringt diese Systematik tabellarisch zur Übersicht (66 f.) und erläutert im Nachgang die jeweiligen Unterkategorien und Leitfragen.
Die Anwendung der Metatheorie erfolgt nach den drei Ordnungen, wobei exemplarisch ausgewählte Theorien jeweils auf diejenige Ordnung hin analysiert werden, die Scholl als ihren Schwerpunkt voraussetzt. Auch wenn die Zuordnung zu den Schwerpunkten durchaus schlüssig erscheint (sachliche Ordnung: bildungstheoretische Didaktik I/II; zeitliche Ordnung: Kybernetisch-informationstheoretische Didaktik/Bildungsgangsdidaktik; soziale Ordnung: Berliner und Hamburger Didaktik), scheint er die Problematik, die er selbst identifiziert, nämlich, dass sich einige Theorien durchaus auch auf andere Ordnungsdimensionen beziehen lassen (93), weitgehend zu umgehen. Die leitende Hypothese, dass didaktische Theorien sich immer einem Schwerpunkt zuordnen lassen, hätte durch eine mehrdimensionale Prüfung ausgewählter Theorien u.U. deutlicher untermauert werden können. Auch die Auswahlkriterien für diese Kategorien lassen Fragen offen. Während die Konzentration auf allgemeindidaktische Theorien und die Ausklammerung von Bereichs- und Fachdidaktiken im Rahmen einer Metatheorie der Allgemeinen Didaktik schlüssig erscheint, hätte die Beschränkung auf „ausschließlich deutschsprachige Theorien […] der BRD nach 1945“ (94) genauer begründet werden können. Die dadurch entschiedene Ausklammerung u.a. der DDR-Didaktik bleibt unkommentiert, was im Rahmen einer Metatheorie, die u.a. auf den gesamtdeutschen Diskurs angewandt werden können soll, auffällt. Es werden dadurch Ansätze einer „durchgängig empirisch ausgerichtete[n] Allgemeine[n] Didaktik“ [2] nicht einbezogen, wo doch im Schlussteil unter anderem auf „[d]as grundsätzlich empirische Potenzial der vorgeschlagenen Metatheorie der Didaktik“ (243) als bedeutender Aspekt der Anschlussfähigkeit verwiesen wird.
Insgesamt liegt allerdings ein sehr lesenswerter Band vor. Die vorgeschlagene Metatheorie ĂĽberzeugt als ein schlĂĽssiges Ordnungs- und Analysesystem zur Weiterentwicklung und zur Nutzbarmachung der Vielfalt didaktischer Theorien, deren Anschlusspotenziale auch ĂĽber die Allgemeine Didaktik hinaus verweisen.
[1]: Vgl.: Coriand, Rotraud: Allgemeine Didaktik. Ein erziehungstheoretischer Umriss. Stuttgart: Kohlhammer, 2., aktualisierte Auflage 2017, S. 111.
[2] Ebd., S. 115.
EWR 18 (2019), Nr. 5 (November/Dezember)
Metatheorie der Allgemeinen Didaktik
Ein systemtheoretisch begrĂĽndeter Vorschlag
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018
(273 Seiten; ISBN 978-3-7815-2245-9; 46,00 EUR)
Katja Grundig de Vazquez (Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Grundig de Vazquez: Rezension von: Scholl, Daniel: Metatheorie der Allgemeinen Didaktik, Ein systemtheoretisch begrĂĽndeter Vorschlag. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152245.html
Katja Grundig de Vazquez: Rezension von: Scholl, Daniel: Metatheorie der Allgemeinen Didaktik, Ein systemtheoretisch begrĂĽndeter Vorschlag. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152245.html