Silvia Krenn ergrĂŒndet in ihrer 2017 publizierten Dissertation das âErgreifen und Ergriffenseinâ als PhĂ€nomen prĂ€gender Lernerfahrungen von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern der Neuen Mittelschule Ăsterreichs.
Im ersten Teil der Arbeit betrachtet Krenn Lernen aus phĂ€nomenologischer Perspektive: Sie fragt, was prĂ€gende Lernerfahrungen von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern sind und wie sich diese als wirkmĂ€chtig beschreiben lassen. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, âErfahrung als Exempelâ (12) sowie als âErscheinungsformen des Lernensâ (ebd.) zu statuieren und hat das Ansinnen, den Blick auf das Existenzielle zu richten, das dem fokussierten PhĂ€nomen zu Grunde liegt. Krenns Position hinsichtlich leibbezogener Fragen und deren zentraler Rolle fĂŒr das Lernen macht den methodologischen Ansatz der Studie aus und fokussiert das VerhĂ€ltnis von Lernen und Bildung. Im zweiten Teil verfolgt die Autorin das Ziel, die beschriebenen Lernerfahrungen in pĂ€dagogische Aufgaben von Schule einzuordnen sowie an die notwendige Haltung von LehrkrĂ€ften zu appellieren.
In Kapitel zwei legt Krenn nachvollziehbar ihren phĂ€nomenologischen Zugang dar. Dieser erlaubt es ihr, explizit somatische und raumbezogene Fragestellungen von Erfahrungsweisen zu fokussieren. Die grundlagentheoretische Perspektive fĂŒhrt sie historisch ein, zeichnet deren Entwicklung in Philosophie und PĂ€dagogik nach und konturiert den Zugang ihrer Arbeit durch die Konzentration auf die jeweiligen Wendungen von Leiblichkeit, ResponsivitĂ€t und Erfahrungssinn. Bei der Frage nach dem VerhĂ€ltnis von Lernen und Bildung schlĂ€gt Krenn die BrĂŒcke zu KĂ€te Meyer-Drawe und ihrer Annahme, dass jeder Erfahrung ein VerĂ€nderungspotential innewohne, das auf den Menschen und sein Verhalten zu den Dingen wirke. Das Irritationspotential erwartungswidriger Erfahrungen bildet dann die Voraussetzung fĂŒr das Lernen. Bildung und Lernen konstituieren sich nach phĂ€nomenologischem VerstĂ€ndnis allgemein und nach Krenns Herangehensweise insbesondere in der VerschrĂ€nkung mit den âGedankenwelten, Vorstellungen und Ideen von anderenâ (43). Lernen wiederum mache dann âdie Erfahrung aus, das Widerfahrnis und die Responseâ (46) und bietet die Möglichkeit, den Raum fĂŒr Antworten zu erweitern. Bildung komme die Aufgabe zu, die Offenheit fĂŒr Fragen zu ermöglichen. Die Autorin zeichnet ihre Argumentationslinien an denen KĂ€te Meyer-Drawes nach und sucht den Anschluss an Gert Biesta.
Ausgehend von grundlegenden phĂ€nomenologischen BetĂ€tigungsfeldern beleuchtet Krenn in Kapitel drei, âwie und als was [...] sich das PhĂ€nomen âErgreifen und Ergriffenseinâ in verschiedenen ZusammenhĂ€ngen von Schule und Lernenâ (57) zeigt. Erstens erfolgt an dieser Stelle eine theoretische AnnĂ€herung an das als zentral herausgestellte PhĂ€nomen mit Bezug auf den Kontext Schule. Die Autorin begrĂŒndet dies mit dem Affiziertwerden durch eine Beobachtung im Unterricht, die zur Beschreibung des PhĂ€nomens âErgreifen und Ergriffenseinâ fĂŒhrte. Ausgehend von der lexikalischen und etymologischen Analyse des Begriffs konstruiert sie die Analyseschneisen, um dem PhĂ€nomen auf den Grund zu gehen. Zweitens konturiert Krenn das fĂŒr die Arbeit bedeutende Feld der GemĂŒtsbewegungen und verortet in diesem Kontext die GefĂŒhle im phĂ€nomenologisch gewendeten Erfahrungsprozess in AnknĂŒpfung an Bernhard Waldenfels. Zudem rĂ€umt die Autorin einer religiösen Perspektive einen recht groĂen Stellenwert ein: Diese ergebe sich nicht zuletzt aus der Konnotation der Begrifflichkeit und so schlieĂt sie die Frage an, âwelche Facetten der religiösen Erfahrung sich fruchtbringend fĂŒr das Lernen als Erfahrung [âŠ] ĂŒbertragen lassenâ (57). Das somatische Feld wird drittens besetzt in Bezug auf âdas Ergreifen als Handelnâ (58) von Lernenden. Hier geht Krenn âvon der Hand als zentralem Organ des Greifens ausâ, leitet evolutionsbiologisch und etymologisch die Bedeutung des (Er-) Greifens her und ergrĂŒndet, âwelche Funktion die [Hand] in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbstâ (58) hat. Die VerschrĂ€nkung mit rĂ€umlichen, zeitlichen und kommunikativen Komponenten des PhĂ€nomens leistet das vierte Unterkapitel, welches das KernphĂ€nomen des Ergreifens und Ergriffenseins im Prozess des Lernens ausbuchstabiert. Hier wĂ€re es bereichernd gewesen, nicht nur gĂ€ngige phĂ€nomenologische Positionen, sondern ebenso weiterfĂŒhrende, aktuelle Studien und Diskurse zu reflektieren.
Im zweiten, empirischen Teil stellt Krenn ihr qualitativ-phĂ€nomenologisches Forschungsdesign vor und verfolgt das Ziel, der âBedeutung erlebter Erfahrungâ (201) auf die Spur zu kommen. Dazu nutzt sie ein beeindruckend breites Spektrum an Erhebungsinstrumenten, das u.a. Erfahrungsprotokolle, ForschungsgesprĂ€che und Leistungsdokumentation umfasst. Krenn grenzt sich explizit von einer ethnographischen Perspektive ab, da es ihr im phĂ€nomenologischen Sinne um grundsĂ€tzliche, nicht kulturelle oder gruppenspezifische PhĂ€nomene gehe. In Anlehnung an die Innsbrucker Anekdotenforschung prĂ€sentiert sie die Anekdote als methodisches Verfahren zur Datenverarbeitung. Die prĂ€genden Erfahrungen der Lernenden sollen dadurch so aufbereitet werden, âdass deren Erfahrungen zugĂ€nglich und miterfahrbar werdenâ (204). Unter einer Anekdote fasst Krenn eine âmerk-wĂŒrdige Geschichte, in der Ereignisse mit besonderer Wirkkraft pointiert verdichtet werdenâ (204). In der Datenanalyse werden die Anekdoten im Rahmen von LektĂŒren und mit einem Blick auf das âErgreifen und Ergriffenseinâ ausgelesen. An dieser Stelle wĂ€re eine Reflexion wĂŒnschenswert, auf welche Weise das in Teil eins beschriebene PhĂ€nomen nun als Heuristik fĂŒr Krenns Blick auf die Daten zur Anwendung kommt.
Als Forschungsergebnis prĂ€sentiert Krenn einen tabellarischen Ăberblick aller Anekdoten, die sich laut Krenn vorrangig auf Erfahrungen, nicht auf Personen beziehen. Die Ăbertragbarkeit dieser individuell erzĂ€hlten Erfahrungen auf kollektiv-allgemeingĂŒltige Erfahrungen wird aber weder argumentiert noch elaboriert. Weiterhin unterscheidet sie âexistentielle Erfahrungsprozesseâ (4.3) und âeinschneidende Einzelerfahrungenâ (4.4). Die Anekdoten zu den einschneidenden Einzelerfahrungen thematisieren âweniger tiefgreifendeâ (261) und nicht das ganze Selbst betreffende Erfahrungen. Existentielle Erfahrungen sind hingegen âtiefgreifend[..]â, âlĂ€nger andauernd[..]â, sie gehen â[t]eilweiseâ mit einer âTransformation des Selbst-, Fremd- bzw. WeltverhĂ€ltnissesâ einher und haben einen âbildende[n] Charakterâ (217). Es folgt eine Darstellung vierer Lernender anhand der Anekdoten und der entsprechenden LektĂŒren. Im Rahmen der LektĂŒren nutzt Krenn ein breites Spektrum an literaturwissenschaftlichen, sprachwissenschaftlichen, historischen oder philosophischen DeutungsansĂ€tzen. Die von ihr im Rahmen der LektĂŒren aufgemachten Fragekaskaden eröffnen einen weiten Horizont fĂŒr die Deutungen der Anekdoten, der einerseits einen gelungenen Blick auf die gesamte (Bildungs-) Biographie der Lernenden erlaubt. Andererseits werden diese jedoch zu keiner kongruenten Lesart verdichtet und bleiben daher oft auf der Ebene der Vermutungen der Forscherin stehen. Hierbei irritieren zudem die teilweise normativen und nicht weiter reflektierten Setzungen sowie verkĂŒrzten Aussagen im Gender- und DiversitĂ€tsdiskurs. SchlieĂlich ordnet Krenn die beschriebenen Lernerfahrungen in die von Biesta formulierten pĂ€dagogischen Aufgaben von Schule ein. Sie lassen sich ĂŒberwiegend den Bereichen Qualifikation und Subjektivation zuordnen. Diese Zuordnung scheint sich aus den inhaltlichen Aspekten der LektĂŒren zu speisen, die genaue methodische Vorgehensweise bleibt jedoch unklar. In einer Konklusion bezeichnet Krenn Lernen als Auseinandersetzung mit WiderstĂ€nden und Krisen in ErfahrungsrĂ€umen. WĂ€hrend sie die Schwierigkeit der expliziten Planung von Erfahrungsprozessen betont, schlussfolgert sie, Schulen sollten Orte der âMitgestaltung und VerantwortungsĂŒbernahmeâ (263) sein. Sie schlieĂt mit Fragen, die Lehrpersonen fĂŒr das Erfahrungslernen ihrer SchĂŒlerinnen und SchĂŒler sensibilisieren sollen und spricht damit gezielt eine Adressatenschaft fĂŒr ihr Werk an.
Der Autorin gelingt es, Schule als Erfahrungsraum in seiner KomplexitĂ€t aufzuspannen, indem sie die lernseitige Perspektive einnimmt und phĂ€nomenologische Perspektiven von Körper und Raum sowie deren Rolle fĂŒr prĂ€gende Lernerfahrungen aufeinander bezieht. Zumindest aus qualitativ-rekonstruktiver Perspektive lĂ€sst sich im Anschluss an die LektĂŒre nicht stringent nachvollziehen, inwiefern das aus einer Unterrichtssituation affizierte PhĂ€nomen genug Tragweite aufweist, sodass es in einem zweiten Schritt als Heuristik fĂŒr die Datenauswertung dienen kann.
EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)
Ergreifen und Ergriffensein im Lernprozess
Ăber die prĂ€gende Wirkung von Schule als Erfahrungsraum
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017
(282 S.; ISBN 978-3-7815-2219-0; 46,00 EUR)
Joana Kahlau & Sabrina Tietjen (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Joana Kahlau & Sabrina Tietjen: Rezension von: Krenn, Silvia: Ergreifen und Ergriffensein im Lernprozess, Ăber die prĂ€gende Wirkung von Schule als Erfahrungsraum. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152219.html
Joana Kahlau & Sabrina Tietjen: Rezension von: Krenn, Silvia: Ergreifen und Ergriffensein im Lernprozess, Ăber die prĂ€gende Wirkung von Schule als Erfahrungsraum. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152219.html