EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)

Silvia Krenn
Ergreifen und Ergriffensein im Lernprozess
Über die prĂ€gende Wirkung von Schule als Erfahrungsraum
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017
(282 S.; ISBN 978-3-7815-2219-0; 46,00 EUR)
Ergreifen und Ergriffensein im Lernprozess Silvia Krenn ergrĂŒndet in ihrer 2017 publizierten Dissertation das „Ergreifen und Ergriffensein“ als PhĂ€nomen prĂ€gender Lernerfahrungen von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern der Neuen Mittelschule Österreichs.

Im ersten Teil der Arbeit betrachtet Krenn Lernen aus phĂ€nomenologischer Perspektive: Sie fragt, was prĂ€gende Lernerfahrungen von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern sind und wie sich diese als wirkmĂ€chtig beschreiben lassen. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, „Erfahrung als Exempel” (12) sowie als „Erscheinungsformen des Lernens“ (ebd.) zu statuieren und hat das Ansinnen, den Blick auf das Existenzielle zu richten, das dem fokussierten PhĂ€nomen zu Grunde liegt. Krenns Position hinsichtlich leibbezogener Fragen und deren zentraler Rolle fĂŒr das Lernen macht den methodologischen Ansatz der Studie aus und fokussiert das VerhĂ€ltnis von Lernen und Bildung. Im zweiten Teil verfolgt die Autorin das Ziel, die beschriebenen Lernerfahrungen in pĂ€dagogische Aufgaben von Schule einzuordnen sowie an die notwendige Haltung von LehrkrĂ€ften zu appellieren.

In Kapitel zwei legt Krenn nachvollziehbar ihren phĂ€nomenologischen Zugang dar. Dieser erlaubt es ihr, explizit somatische und raumbezogene Fragestellungen von Erfahrungsweisen zu fokussieren. Die grundlagentheoretische Perspektive fĂŒhrt sie historisch ein, zeichnet deren Entwicklung in Philosophie und PĂ€dagogik nach und konturiert den Zugang ihrer Arbeit durch die Konzentration auf die jeweiligen Wendungen von Leiblichkeit, ResponsivitĂ€t und Erfahrungssinn. Bei der Frage nach dem VerhĂ€ltnis von Lernen und Bildung schlĂ€gt Krenn die BrĂŒcke zu KĂ€te Meyer-Drawe und ihrer Annahme, dass jeder Erfahrung ein VerĂ€nderungspotential innewohne, das auf den Menschen und sein Verhalten zu den Dingen wirke. Das Irritationspotential erwartungswidriger Erfahrungen bildet dann die Voraussetzung fĂŒr das Lernen. Bildung und Lernen konstituieren sich nach phĂ€nomenologischem VerstĂ€ndnis allgemein und nach Krenns Herangehensweise insbesondere in der VerschrĂ€nkung mit den „Gedankenwelten, Vorstellungen und Ideen von anderen“ (43). Lernen wiederum mache dann „die Erfahrung aus, das Widerfahrnis und die Response“ (46) und bietet die Möglichkeit, den Raum fĂŒr Antworten zu erweitern. Bildung komme die Aufgabe zu, die Offenheit fĂŒr Fragen zu ermöglichen. Die Autorin zeichnet ihre Argumentationslinien an denen KĂ€te Meyer-Drawes nach und sucht den Anschluss an Gert Biesta.

Ausgehend von grundlegenden phĂ€nomenologischen BetĂ€tigungsfeldern beleuchtet Krenn in Kapitel drei, „wie und als was [...] sich das PhĂ€nomen ‚Ergreifen und Ergriffensein‘ in verschiedenen ZusammenhĂ€ngen von Schule und Lernen“ (57) zeigt. Erstens erfolgt an dieser Stelle eine theoretische AnnĂ€herung an das als zentral herausgestellte PhĂ€nomen mit Bezug auf den Kontext Schule. Die Autorin begrĂŒndet dies mit dem Affiziertwerden durch eine Beobachtung im Unterricht, die zur Beschreibung des PhĂ€nomens „Ergreifen und Ergriffensein“ fĂŒhrte. Ausgehend von der lexikalischen und etymologischen Analyse des Begriffs konstruiert sie die Analyseschneisen, um dem PhĂ€nomen auf den Grund zu gehen. Zweitens konturiert Krenn das fĂŒr die Arbeit bedeutende Feld der GemĂŒtsbewegungen und verortet in diesem Kontext die GefĂŒhle im phĂ€nomenologisch gewendeten Erfahrungsprozess in AnknĂŒpfung an Bernhard Waldenfels. Zudem rĂ€umt die Autorin einer religiösen Perspektive einen recht großen Stellenwert ein: Diese ergebe sich nicht zuletzt aus der Konnotation der Begrifflichkeit und so schließt sie die Frage an, „welche Facetten der religiösen Erfahrung sich fruchtbringend fĂŒr das Lernen als Erfahrung [
] ĂŒbertragen lassen“ (57). Das somatische Feld wird drittens besetzt in Bezug auf „das Ergreifen als Handeln“ (58) von Lernenden. Hier geht Krenn „von der Hand als zentralem Organ des Greifens aus“, leitet evolutionsbiologisch und etymologisch die Bedeutung des (Er-) Greifens her und ergrĂŒndet, „welche Funktion die [Hand] in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst“ (58) hat. Die VerschrĂ€nkung mit rĂ€umlichen, zeitlichen und kommunikativen Komponenten des PhĂ€nomens leistet das vierte Unterkapitel, welches das KernphĂ€nomen des Ergreifens und Ergriffenseins im Prozess des Lernens ausbuchstabiert. Hier wĂ€re es bereichernd gewesen, nicht nur gĂ€ngige phĂ€nomenologische Positionen, sondern ebenso weiterfĂŒhrende, aktuelle Studien und Diskurse zu reflektieren.

Im zweiten, empirischen Teil stellt Krenn ihr qualitativ-phĂ€nomenologisches Forschungsdesign vor und verfolgt das Ziel, der „Bedeutung erlebter Erfahrung“ (201) auf die Spur zu kommen. Dazu nutzt sie ein beeindruckend breites Spektrum an Erhebungsinstrumenten, das u.a. Erfahrungsprotokolle, ForschungsgesprĂ€che und Leistungsdokumentation umfasst. Krenn grenzt sich explizit von einer ethnographischen Perspektive ab, da es ihr im phĂ€nomenologischen Sinne um grundsĂ€tzliche, nicht kulturelle oder gruppenspezifische PhĂ€nomene gehe. In Anlehnung an die Innsbrucker Anekdotenforschung prĂ€sentiert sie die Anekdote als methodisches Verfahren zur Datenverarbeitung. Die prĂ€genden Erfahrungen der Lernenden sollen dadurch so aufbereitet werden, „dass deren Erfahrungen zugĂ€nglich und miterfahrbar werden“ (204). Unter einer Anekdote fasst Krenn eine „merk-wĂŒrdige Geschichte, in der Ereignisse mit besonderer Wirkkraft pointiert verdichtet werden“ (204). In der Datenanalyse werden die Anekdoten im Rahmen von LektĂŒren und mit einem Blick auf das „Ergreifen und Ergriffensein“ ausgelesen. An dieser Stelle wĂ€re eine Reflexion wĂŒnschenswert, auf welche Weise das in Teil eins beschriebene PhĂ€nomen nun als Heuristik fĂŒr Krenns Blick auf die Daten zur Anwendung kommt.

Als Forschungsergebnis prĂ€sentiert Krenn einen tabellarischen Überblick aller Anekdoten, die sich laut Krenn vorrangig auf Erfahrungen, nicht auf Personen beziehen. Die Übertragbarkeit dieser individuell erzĂ€hlten Erfahrungen auf kollektiv-allgemeingĂŒltige Erfahrungen wird aber weder argumentiert noch elaboriert. Weiterhin unterscheidet sie „existentielle Erfahrungsprozesse“ (4.3) und „einschneidende Einzelerfahrungen“ (4.4). Die Anekdoten zu den einschneidenden Einzelerfahrungen thematisieren „weniger tiefgreifende“ (261) und nicht das ganze Selbst betreffende Erfahrungen. Existentielle Erfahrungen sind hingegen „tiefgreifend[..]“, „lĂ€nger andauernd[..]“, sie gehen „[t]eilweise“ mit einer „Transformation des Selbst-, Fremd- bzw. WeltverhĂ€ltnisses“ einher und haben einen „bildende[n] Charakter“ (217). Es folgt eine Darstellung vierer Lernender anhand der Anekdoten und der entsprechenden LektĂŒren. Im Rahmen der LektĂŒren nutzt Krenn ein breites Spektrum an literaturwissenschaftlichen, sprachwissenschaftlichen, historischen oder philosophischen DeutungsansĂ€tzen. Die von ihr im Rahmen der LektĂŒren aufgemachten Fragekaskaden eröffnen einen weiten Horizont fĂŒr die Deutungen der Anekdoten, der einerseits einen gelungenen Blick auf die gesamte (Bildungs-) Biographie der Lernenden erlaubt. Andererseits werden diese jedoch zu keiner kongruenten Lesart verdichtet und bleiben daher oft auf der Ebene der Vermutungen der Forscherin stehen. Hierbei irritieren zudem die teilweise normativen und nicht weiter reflektierten Setzungen sowie verkĂŒrzten Aussagen im Gender- und DiversitĂ€tsdiskurs. Schließlich ordnet Krenn die beschriebenen Lernerfahrungen in die von Biesta formulierten pĂ€dagogischen Aufgaben von Schule ein. Sie lassen sich ĂŒberwiegend den Bereichen Qualifikation und Subjektivation zuordnen. Diese Zuordnung scheint sich aus den inhaltlichen Aspekten der LektĂŒren zu speisen, die genaue methodische Vorgehensweise bleibt jedoch unklar. In einer Konklusion bezeichnet Krenn Lernen als Auseinandersetzung mit WiderstĂ€nden und Krisen in ErfahrungsrĂ€umen. WĂ€hrend sie die Schwierigkeit der expliziten Planung von Erfahrungsprozessen betont, schlussfolgert sie, Schulen sollten Orte der „Mitgestaltung und VerantwortungsĂŒbernahme“ (263) sein. Sie schließt mit Fragen, die Lehrpersonen fĂŒr das Erfahrungslernen ihrer SchĂŒlerinnen und SchĂŒler sensibilisieren sollen und spricht damit gezielt eine Adressatenschaft fĂŒr ihr Werk an.

Der Autorin gelingt es, Schule als Erfahrungsraum in seiner KomplexitĂ€t aufzuspannen, indem sie die lernseitige Perspektive einnimmt und phĂ€nomenologische Perspektiven von Körper und Raum sowie deren Rolle fĂŒr prĂ€gende Lernerfahrungen aufeinander bezieht. Zumindest aus qualitativ-rekonstruktiver Perspektive lĂ€sst sich im Anschluss an die LektĂŒre nicht stringent nachvollziehen, inwiefern das aus einer Unterrichtssituation affizierte PhĂ€nomen genug Tragweite aufweist, sodass es in einem zweiten Schritt als Heuristik fĂŒr die Datenauswertung dienen kann.
Joana Kahlau & Sabrina Tietjen (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Joana Kahlau & Sabrina Tietjen: Rezension von: Krenn, Silvia: Ergreifen und Ergriffensein im Lernprozess, Über die prĂ€gende Wirkung von Schule als Erfahrungsraum. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152219.html