EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)

Annika Braun
Erleben Lehrkräfte und Referendare berufsbezogene Belastungen anders?
Berufsphasenspezifische Präventionsansätze zur Gesundheitsförderung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017
(216 S.; ISBN 978-3-7815-2170-4; 42,00 EUR)
Erleben Lehrkräfte und Referendare berufsbezogene Belastungen anders? Annika Braun geht in ihrer Dissertation der Frage nach, ob Lehrkräfte und Referendare berufsbezogene Belastungen anders erleben. Sie verfolgt das Ziel berufsphasenspezifische Präventionsansätze zur Gesundheitsförderung zu entwickeln. Dazu stellt sie zunächst den aktuellen Forschungsstand bezüglich der Belastungen im Lehrerberuf einschließlich Referendariat sowie der Bewältigung berufsbezogener Belastungen ausgehend vom Expertenansatz übersichtlich und auf den Punkt gebracht dar. Der Expertenansatz fokussiert im Rahmen der Professionsforschung im Lehrerberuf die Unterscheidung von Berufsanfängern (Referendarinnen und Referendare) als „Novizen“ und Lehrpersonen mit mehrjähriger Berufserfahrung als „Experten“. Den Kern der Unterschiedlichkeit bildet die Berufserfahrung. Ihr wird ein Einfluss auf das Belastungserleben und die Belastungsbewältigung zugeschrieben und dementsprechend – so die Hypothesen der vorliegenden Arbeit – sollten sich Unterschiede zwischen diesen beiden Berufsgruppen (Experten und Novizen) finden lassen. In der Darstellung der Wahrnehmung von Bedingungen am Arbeitsplatz Schule und deren Bewältigung findet der Expertenansatz keine Berücksichtigung. Das theoretische Fundament bilden hier allgemeine Bedingungen persönlichkeitsspezifischer Ausprägungen (Stress-Modell von Lazarus, Selbstwirksamkeit, Ressourcennutzung, funktionale und dysfunktionale Kognitionen etc.). Ausgehend hiervon stellt Annika Braun ein eigenes Forschungsmodell vor, das im Kern den Experten-Novizen-Ansatz als neue Perspektive auf die Wahrnehmung der Arbeitsbedingungen und deren Belastungsbewältigung ausweist.

Die darauffolgenden Ausführungen zu Fragestellungen und Hypothesen erfolgen aus Rezensentensicht nicht immer stringent analog zum dargestellten Forschungsmodell und zur Leitfrage der Arbeit, beispielsweise wenn nach geschlechtsspezifischen Unterschieden oder den Unterschieden zwischen hochbelasteten und niedrigbelasteten Personen im Lehrerberuf gefragt wird. Die aufgestellten Hypothesen erscheinen in diesem Abschnitt eher als gesetzt und nicht aus den bisherigen Forschungsergebnissen zur Lehrerbelastung abgeleitet, denn eine solche Ableitung ist nicht dargestellt.

Um passende Vergleichsgruppen zwischen Referendaren und erfahrenen Lehrpersonen zu gewinnen, verwendet Braun Datensätze aus der Vorerhebung zu zwei präventiven Trainingsprogrammen (AGIL und PAUER) aus den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Bayern. Für ihre Untersuchung wurden aus der Gesamtstichprobe nur Daten der Realschule und des Gymnasiums berücksichtigt. Leider finden sich keine Angaben zur Rekrutierung der Schulen bzw. Lehrpersonen an den jeweiligen Trainingsprogrammen.

Die Ergebnisse zeigen auf, dass – entgegen den Erwartungen – die Zeit des Referendariats für die untersuchte Stichprobe der Referendare keine Zeit besonderer Belastungen im Vergleich zu erfahrenen Lehrkräften ist. Im Gegenteil verfügen Referendarinnen und Referendare zum Teil über höhere Kompetenzen in Bereichen der Selbstwirksamkeit, Ressourcenaktivierung und im Umgang mit dysfunktionalen Kognitionen. Wirklich interessant ist, dass Referendare nach den vorliegenden Ergebnissen über ein höheres Work-Engagement verfügen. Hierzu hebt Braun hervor, dass dieses Work-Engagement natürlich auf der einen Seite eine wichtige Quelle zur Bewältigung berufsbezogener Belastungen darstellt, auf der anderen Seite die Gefahr bestehe, dass dies zu einer dauerhaften Überforderung der eigenen Person führen kann. Die Auswirkungen des Work-Engagements auf andere Dimensionen des Stresserlebens und Bewältigungsverhaltens von Lehrpersonen sowie dessen Veränderungen in diesem Prozess zukünftig intensiver zu erforschen, befürwortet Braun zu Recht. Entgegen einer weitläufigen Alltagsmeinung, das Referendariat sei eine „Zeit des Leidens“, der man „ausgesetzt“ sei, deuten die Ergebnisse von Braun in eine ganz andere Richtung: Referendare verfügen vielfach über gute Ressourcen und Kompetenzen, um die anstehenden Anforderungen und Herausforderungen zu bewältigen. Man kann sich fragen, wie es dazu kommt, dass Experten in einigen Bereichen weniger dieser Ressourcen beziehungsweise geringere Kompetenzen aufweisen. Verlieren und verlernen sie diese im Laufe der Berufszeit? Begünstigen die systemischen Strukturen des Schulsystems diesen Prozess? Längsschnittstudien, die hierzu Aufschluss geben könnten, wären interessant, verlockt der dargestellte Querschnittsvergleich doch zu dem Gedanken, der Novizen-Experten-Ansatz stimme zumindest hinsichtlich der Bewältigungskompetenzen schulischer Belastungen nicht.

Den Abschluss der Arbeit bildet die Aufstellung eines Präventionsmodells. Braun formuliert je sechs Thesen für eine gelingende Prävention bei Lehrkräften und bei Referendaren. Während es bei Lehrkräften beispielsweise um den Umgang mit Belastungen, die bewusste Wahrnehmung beruflicher Erfolge und für hochbelastete Lehrkräfte um niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten zu Unterstützungsangeboten gehe, stehen für Referendare Möglichkeiten der Stressbewältigung, der Ausbau von Reflexionsfähigkeiten und Teamstrukturen und für hochbelastete Referendare die Etablierung von Unterstützungssystemen im Zentrum. Solche Thesen für ein Stresspräventionsmodell erscheinen aus Referentensicht nicht neu. Wenngleich Braun schreibt, dass sich die Thesen „aus den Erkenntnissen der vorliegenden Studie“ ableiten und sich somit „Zielkriterien einer gelungenen Prävention bei Lehrkräften identifizieren“ (180) lassen, bleibt eine tatsächliche Ableitung der Thesen und Stützung auch mit den von Braun angeführten, vielfältigen anderen Studien zur Gesundheitsprävention bei Lehrpersonen leider offen.

In der Gesamtschau seien zwei weitere Anmerkungen erlaubt: Um die Hypothesenprüfung nachzuvollziehen, ist es für Leser notwendig, eigenständig im Band zurückzublättern. Zuweilen wäre ein klar(er)es „Hypothese abgelehnt“ oder „beibehalten“ wünschenswert, durch das das eigene (teilweise auch selbstkritische) Statement der Forscherin deutlicher erkennbar wäre. Da die vorliegende Untersuchung Teil der oben genannten Studie zur Effektivitätsprüfung zweier Präventionsprogramme (AGIL und PAUER) ist, stellen sich zudem einige Fragen im Zusammenhang mit dem vorgestellten Präventionsmodell: Sind die Thesen für das Präventionsmodell bereits Bestandteil der beiden untersuchten Präventionsprogramme oder klagt Braun hier einen Mangel an den Präventionsprogrammen an? Ermöglichen die beiden Präventionsmodelle in ihrer Anwendung keine flexible(re) Binnendifferenzierung für Referendare und erfahrende Lehrpersonen? Trotz der genannten Monita bleibt zu wünschen, dass die interessanten Ergebnisse, die Brauns Studie aufdeckt, im Fachdiskurs wahrgenommen und zu weitergehenden Untersuchungen führen werden. Die von Braun dargestellten Thesen sind vielfach bereits Bestandteil von Fortbildungen und Trainingsprogrammen, und es fragt sich, warum manche Lehrpersonen und Referendare von diesen Fortbildungen und Präventionsprogrammen profitieren und andere nicht. Erfahrungen aus der Fortbildungspraxis zeigen, dass Lehrpersonen sehr häufig recht gut wissen, was sie eigentlich anders machen müssten, um Belastungserleben zu reduzieren, sie tun es aber nicht. In der Gesundheitsprävention bei Lehrpersonen geht es somit nicht um die Behebung von Ideendefiziten, sondern um die Behebung von Durchführungsdefiziten.
Torsten Tarnowski und Marcus Eckert (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Torsten Tarnowski und Marcus Eckert: Rezension von: Braun, Annika: Erleben Lehrkräfte und Referendare berufsbezogene Belastungen anders?, Berufsphasenspezifische Präventionsansätze zur Gesundheitsförderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152170.html