Joyce-Finnern beschäftigt sich in ihrer ethnographischen Untersuchung mit der Perspektive von Kindergartenkindern auf soziale Vielfalt. Der Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass Gleichheit und Differenz nicht als a priori im Feld gegeben betrachtet werden können, sondern erst in interaktiven Aushandlungsprozessen von den Akteur_innen hergestellt werden. Die zentrale Forschungsfrage der Untersuchung lautet daher: „Wie konstruieren Kinder in der Kita soziale Differenz und Gleichheit und welche Bedeutung kommt dabei dem Konstrukt Behinderung zu?“ (10). Damit stellen die kindlichen Konstruktionsprozesse von Gleichheit und Differenz im Feld der Kindertagesstätte den zentralen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung dar. Ziel ist es die kindlichen Praktiken der Differenz- und Gleichheitskonstruktion zu ermitteln und sie im Verhältnis zu den institutionellen Strukturen der Kindertagesstätte und Praktiken der pädagogischen Fachkräfte in der Interaktion mit den Kindern zu untersuchen.
Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert: In der Einleitung (Kapitel 1) können sich die Leser_innen einen knappen Überblick über Gegenstand und Fragestellung sowie den theoretischen Rahmen und methodischen Zugang der Untersuchung verschaffen. Daran anschließend zeichnet Joyce-Finnern in Kapitel 2 und 3 die wichtigsten historischen Entwicklungslinien der Inklusionsforschung und sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung nach, die den theoretischen Bezugsrahmen ihrer Arbeit bilden. Zudem erfolgt eine Klärung zentraler Begriffe wie Kindheit und Inklusion sowie Differenz und Gleichheit.
In Kapitel 4 widmet sich Joyce-Finnern dem empirischen Forschungsstand ihrer Untersuchung. Dabei greift sie zum einen auf klassische entwicklungspsychologische Studien zur kognitiven Entwicklung, der Selbstkonzeptentwicklung sowie der Fähigkeit zur Perspektivübernahme und der Entwicklung in sozialen Beziehungen zurück, ohne dabei die „normorientierte Bezugsrichtung“ (49) dieser Forschungslinie unreflektiert zu lassen. Zum anderen werden Studienergebnisse aus der Integrationspädagogik präsentiert, wobei sie sich hier überwiegend auf deutsche Studienergebnisse aus den 1980er Jahren sowie einer internationalen Meta-Analyse von McNaughton (2006)[1] zu den Konzepten und Einstellungen von Kindern in der frühen Kindheit über soziale Vielfalt bezieht. Abschließend werden – auch hier wieder vor allem unter Bezugnahme der genannten Meta-Analyse – Forschungsergebnisse aus der Vorurteilsforschung mit dem Fokus auf junge Kinder rezipiert. Die Aufarbeitung des Forschungsstandes erfährt seitens der Autorin eine kritische Analyse, die insgesamt betrachtet etwas breiter hätte angelegt sein können.
Methodologie und das methodische Vorgehen der Studie werden in Kapitel 5 erläutert: Nach einer – doch recht knappen – Beschreibung der Forschungsansätze Grounded Theory sowie Ethnographie geht Joyce-Finnern auf die Besonderheiten bei der Forschung mit Kindern ein, um anschließend das Forschungsdesign ihrer Untersuchung darzustellen.
Um die intersubjektiven Aushandlungsprozesse bezogen auf Differenz- und Gleichheitskonstruktionen analytisch in den Blick zu nehmen, wählt die Autorin einen ethnographischen Forschungszugang. Die teilnehmenden Beobachtungen wurden in vier verschiedenen Gruppen einer integrativen Kindertageseinrichtung durchgeführt, die in Bezug auf ihre Zusammensetzung laut der Autorin eine größtmögliche Heterogenität an strukturellen Merkmalen aufwies. Hier wären weitere Verweise auf Kontextfaktoren, wie zum Beispiel des sozialen Nahraums der ausgewählten Kindertageseinrichtung, wünschenswert gewesen.
Kapitel 6 widmet sich der umfangreichen Darstellung des Analyse- und Erkenntnisprozesses und bildet somit das Herzstück der Studie. Indem Joyce-Finnern die im Rahmen der Analyse herausgearbeiteten vielfältigen Praktiken der Differenz- und Gleichheitskonstruktionen im elementarpädagogischen Feld zunächst benennt, sie mit entsprechenden Beobachtungssequenzen versieht, interpretiert und abschließend in einen theoretischen Bezugsrahmen setzt, ermöglicht sie den Leser_innen einen hohen Grad an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in fünf Unterkapiteln: Während sich die ersten beiden Abschnitte mit den institutionellen Strukturen der Kindertagesstätte sowie den Praktiken der Fachkräfte befassen, liegt der Fokus der letzten drei Abschnitte auf den Praktiken, mit denen Kinder Differenz und Gleichheit konstruieren.
Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Peer-Praktiken bei der Herstellung von Differenz und Gleichheit nie losgelöst von institutionellen Strukturen und Praktiken vollzogen werden können, werden zunächst die Praktiken der Erwachsenen in Interaktionen mit den Kindern einer genaueren Analyse unterzogen (6.1). Hier zeigt sich, dass Erwachsene sprachliche Kategorisierungen („Große“ bzw. „Schulkinder“ und „Kleine“) vornehmen, die wiederum mit ganz bestimmten (normorientierten) Kompetenzzuschreibungen wie z.B. die Zuschreibung von Entscheidungskompetenzen einhergehen. Daneben rekonstruiert die Autorin Erwachsenenpraktiken wie beispielsweise die „stellvertretende Ermahnung“, durch die insbesondere Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf immer wieder die Erfahrung der Nicht-Anerkennung ihrer Handlungsautonomie seitens der Erwachsenen, aber auch seitens ihrer Peers erfahren.
Im nächsten Schritt (6.2) werden die Funktionen und Aufgaben persönlicher Assistent_innen, also Personen, die jeweils einem Kind mit diagnostiziertem Förderbedarf in den Kindergruppen zugeteilt sind, und deren Handlungsmöglichkeiten und – begrenzungen im institutionellen Kontext der Kita sowie deren Rolle im Hinblick auf soziale Inklusion analysiert.
Im Abschnitt 6.3 werden unter Rückgriff auf institutionelle Praktiken und Strukturen, eigene Sinnstrukturen der Kinder auf Differenz und Gleichheit von der Autorin rekonstruiert. Hier zeigt sich auf eindrucksvolle Weise, wie stark kindliche Kategorisierungen und peer-kulturspezifische Praktiken von den Erwachsenenpraktiken durchdrungen bzw. interpretativ reproduziert werden, ohne dabei ihre eigene Qualität einzubüßen. Während beispielsweise die „Praktik des Rollenspiels“ den Kindern einen flexiblen Umgang mit erwachsenenbezogenen sprachlichen Kategorisierungen wie „Große“ und „Kleine“ ermöglicht, fördert die „Praktik des Helfens“ (z.B. Ältere helfen Jüngeren), in der Interpretation der Autorin, die Kinder vor allem darin, ihre eigenen Kompetenzen unter Beweis zu stellen und wirkt damit unbewusst an der sozialen Kategorie Behinderung mit.
Hinsichtlich der Bedeutungszuschreibung des sozialen Konstrukts Behinderung kommt Joyce-Finnern zu dem Schluss, dass es zwar „in der Sozialwelt der Kinder kein fest etabliertes Konstrukt von Behinderung gibt“ (229), aber „bereits junge Kinder in der Kita an der Konstruktion von Behinderung mitwirken, indem sie institutionell vermittelte Praktiken interpretativ rekonstruieren“ (241). Dass aber gerade in Peer-Praktiken auch ein besonderes Inklusionspotenzial liegt, zeigt sich exemplarisch an der peer-kulturspezifischen Praktik der „Freundschaftsbekundung“. Hier kann Joyce-Finnern zeigen, dass „In- und Exklusion über Peer-Praktiken situativ immer wieder neu ausgehandelt werden können“ (218) und „jeweils temporär und veränderliche Prozesse sind“ (ebd.).
Vor dem Hintergrund der Frage, ob sich „Kinder, die sich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten deutlich voneinander unterscheiden, als Peers bezeichnet werden können“ (186) entwickelt Joyce-Finnern im Anschluss an Corsaros Peer-Konzept (1988)[2] und auf der Basis ihrer Beobachtungen und Interpretationen einen inklusiven Peer-Begriff (6.4). Den bisherigen Peer-Begriff (vgl. z.B. Krappmann 1993)[3], der eng in Verbindung mit Konzepten von Gleichheit steht, weist sie als statisch zurück und plädiert für einen weitergefassten Peer-Begriff, der sich vor allem durch das Kriterium der Teilhabe an Peer-Kultur auszeichnet. Anhand ihrer Beobachtungssequenzen rekonstruiert Joyce-Finnern verschiedene Dimensionen der Teilhabe an Peer-Kultur wie zum Beispiel „Aufeinander beziehen“ (201) und Variationen von Gleichheitskonstruktionen wie zum Beispiel „Gleichheit aufgrund von gleicher Tätigkeit“ (190) oder „Gleichheit aufgrund von exklusivem Wissen“ (192) – die immer auch Formen von Distinktion implizieren – und zeigt damit, dass Peer-Beziehungen sowohl durch Gleichheit als auch durch Differenz gekennzeichnet sind.
In Kapitel 7 trägt die Autorin die Ergebnisse ihrer ethnographischen Studie noch einmal zusammen. Da bereits im vorangegangenen Kapitel zentrale Ergebnisse benannt und erläutert werden, kommt es hier zu gewissen Redundanzen.
Die aus den Ergebnissen abgeleiteten drei Leitlinien für gute inklusive Praxis und inklusionsorientierte Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften - Anerkennung in der Beziehung zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern, dem reflektierten Umgang mit Kategorisierungen und Zuschreibungen sowie der Förderung sozialer Inklusion in der Kindergruppe - stellen jedoch ein gelungenes Konglomerat der durch diese Studie gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der Perspektive von Kindern auf soziale Vielfalt dar. Die Studie bietet darüber hinaus wichtige Anknüpfungspunkte für eine Weiterentwicklung inklusiver Praxis in Kindertageseinrichtungen und empfiehlt sich insbesondere für pädagogische Fachkräfte in institutionellen Bildungseinrichtungen der frühen Kindheit.
[1] MacNaughton, Glenda M. (2006): Respect for disversity: An international overview. Working Paper 40. The Hague, The Netherlands: Bernhard van Leer Foundation.
[2] Corsaro, William A. (1988): Peer Culture in the Preschool. In: Theory into Practice 27 (1, Becoming a student), 19-24.
[3] Krappmann, Lothar (1993): Die Entwicklung vielfältiger sozialer Beziehungen unter Kindern. In: Auhagen, Ann Elisabeth; Salisch, Maria von (Hg.): Zwischenmenschliche Beziehungen. Göttingen: Hogrefe, 37-58.
EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)
Vielfalt aus Kinderperspektive
Verschiedenheit und Gleichheit im Kindergarten
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017
(254 Seiten; ISBN 978-3-7815-2158-2; 42,00 EUR)
Franziska Gauglitz (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Franziska Gauglitz: Rezension von: Joyce-Finnern, Nina-Kathrin: Vielfalt aus Kinderperspektive, Verschiedenheit und Gleichheit im Kindergarten. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152158.html
Franziska Gauglitz: Rezension von: Joyce-Finnern, Nina-Kathrin: Vielfalt aus Kinderperspektive, Verschiedenheit und Gleichheit im Kindergarten. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152158.html