Der Anspruch der Gestaltung inklusiver Lernräume im deutschen Schulsystem stellt sowohl die allgemeine Schule als auch die Förderschule und die dort tätigen Lehrkräfte vor vielfältige neue Herausforderungen. Schulrechtliche Regelungen in den Bundesländern sehen vor, mit der Umgestaltung und Weiterentwicklung von Förderschulen zu Förder- oder Kompetenzzentren Ressourcen für die integrative Beschulung bereitzustellen. So gehört z.B. zu den Aufgaben von Förderzentren in Sachsen-Anhalt die Unterstützung, Beratung und Qualifizierung von Regelschullehrkräften in integrativen Regelschulklassen [1].
Diese Beratungsprozesse zwischen Regelschullehrkräften und Sonderpädagog/innen nimmt Stephanie Teumer, selbst langjährig im Förderschwerpunkt Lernen tätig, in ihrer Dissertation in den Fokus. Dabei bezieht sie sich auf das Instrument der Beratungsanfrage in der flexiblen Schuleingangsphase im ersten und zweiten Schuljahr in Sachsen-Anhalt. Die Beratungsanfrage wurde der Einleitung des Verfahrens zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs verbindlich vorgeschaltet und soll zur Prüfung des Antrags im Rahmen eines Beratungsprozesses zwischen dem/der beantragenden Grundschullehrer/in und einem/einer Sonderpädagog/in des zuständigen Förderzentrums dienen. Ziel der Autorin ist es, einen differenzierten Einblick in die Dynamiken des durch die Beratungsanfrage angestoßenen Beratungsprozesses zu gewinnen. Forschungsleitend für Teumer sind dabei die Fragen, was Grundschullehrer/innen veranlasst, eine Beratungsanfrage zu stellen, welche Erwartungen damit verbunden sind und welche Beratungs- und Handlungspraxen sowie Handlungsintentionen der Förderschullehrer/innen rekonstruierbar sind (11).
Die Grundlage für die Darstellung der empirischen Befunde bildet die sehr knappe Einordnung des Themas „Sonderpädagogische Beratung in der Schuleingangsphase“ in die fachwissenschaftlichen Diskurse. Dabei skizziert die Autorin die „Schuleingangsphase als institutionelle und professionelle Herausforderung“ (14), die sie in den Spannungsfeldern von veränderter Kindheit und Schulfähigkeit, Bildungsstandards und inklusiver Orientierung sowie (sonderpädagogischer) Professionalität und Kooperation sieht. Diese theoretische Grundlegung bleibt im Rahmen dieses Kapitels 2 allerdings auf einem knappen, die Kontroversität der fachwissenschaftlichen Diskurse nicht widerspiegelndem, Niveau.
Eine weitere theoretische Grundlegung leistet Teumer in Kapitel 3 mit der Beschreibung von „Kooperation und Beratung im Kontext von Pädagogik“ (34). Dazu fasst die Autorin neueste empirische Befunde zur Kooperation zwischen Sonderpädagog/innen und Regelschullehrkräften kurz zusammen und stellt anschließend ausführlich verschiedene Beratungskonzeptionen vor, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit allerdings kein Bezug genommen wird. Für das Hauptaugenmerk der Arbeit, die „Beschreibung und Rekonstruktion der Beratungsprozesse“ (11) zwischen Lehrer/innen, wäre der Einbezug internationaler Forschungsergebnisse (z.B. zu Problem Solving Teams [2]) und Ergebnisse zu Beratungs- und Unterstützungssystemen bzw. Förderzentren anderer Bundesländer (vgl. Reiser [3]) vermutlich ertragreich gewesen.
Anschließend stellt Teumer einen ersten empirischen Zugang mittels einer quantitativen Studie zu Beratungsanfragen her. Mit einer Vollerhebung an Förderzentren in Sachsen-Anhalt erfragte Teumer für die Schuljahre 2007/08 und 2008/09 die Anzahl und den Ausgang der Beratungsanfragen für den Elementar- und Schuleingangsbereich. Teumer kann so aufzeigen, dass die Anzahl der Meldungen zum Feststellungsverfahren im Schuljahr 2008/09 deutlich gesunken ist, allerdings weiterhin das häufigstes Ergebnis der Beratungsanfrage darstellt. Als zweithäufigstes Ergebnis wurden indirekte, mobile Angebote, die sich wie Beratung oder Fortbildung an Lehrer/innen wenden, angegeben (67ff). Leider muss hier festgestellt werden, dass die Darstellung der prozentualen Verteilungen der angenommenen Förderbedarfe in Text und Abbildung nicht übereinstimmt (Abb. 13, 72).
Aufgrund ihrer quantitativen Ergebnisse schlussfolgert Teumer „auf einen Bruch zwischen […] den vorgestellten Ansprüchen an eine veränderte Schuleingangsphase und den tatsächlichen Anfrage- und Beratungspraxen der Akteure im Schulalltag“ (74). Dieser Befund bildet die Grundlage der qualitativen Erhebung, die das Ziel verfolgt „Interessen- und Relevanzstrukturen, die dem Handeln der Lehrerinnen zugrunde liegen, nachvollziehbar zu beschreiben.“ (77). Dazu wurden kriterienorientiert vier Fälle ausgewählt und mit den am Beratungsprozess beteiligten Lehrer/innen problemzentrierte Interviews vor und nach Beendigung des Beratungsprozesses geführt (91) und im Sinne der dokumentarischen Methode ausgewertet. Dargestellt werden die Ergebnisse anhand des von Fritz Schütze im Anschluss an Anselm Strauss entwickelten Arbeitsbogenkonzeptes (87) als Methode qualitativer Datenauswertung. Mit diesem Konzept versucht Teumer die relevanten Arbeitsaufgaben des Beratungsprozesses anhand der von Schütze entwickelten Komponenten des Arbeitsbogenkonzeptes (Einrichtungs-, Inhalts-, Sozial- und Evaluationskomponente) zu analysieren und die zuerst ausführlich dargestellten Fallporträts anhand dieser Komponenten zu vergleichen. Dabei muss hier kritisch hinterfragt werden, inwieweit die dokumentarische Methode (formulierende und reflektierende Interpretation) und das auf die Bildung von Codes und Kategorien beruhende Arbeitsbogenkonzept sinnvoll kombiniert werden können.
Bei der ausführlichen Darstellung der vier betrachteten Fälle gibt Teumer zunächst Hinweise auf Feldzugang, Sample und Vorgeschichte des Falls. Anschließend werden auf einer ersten Analyseebene die Aufgabenkomplexe des Arbeitsbogens anhand der Themen Zustandekommen des Beratungsangebotes, Bewertung des Beratungsprozesses aus der Perspektive der Lehrer/innen und Sozialität im Beratungsprozess dargestellt. Auf einer zweiten Analyseebene wertet Teumer anschließend die geführten Interviews mittels der Komponenten des Arbeitsbogenkonzeptes zum Beratungsprozess aus. Leser/innen bekommen in diesem ersten Auswertungskapitel den von der Autorin angestrebten detaillierten Einblick in die Arbeit von Pädagog/innen im beschriebenen Feld, die allerdings kaum als Beratung im Sinne eines pädagogischen Handlungsfeldes (38) beschrieben werden kann. Außerdem eröffnet Teumer mit so genannten „Gegenhorizonten“ (z.B. 100) zu den dargestellten Erklärungen der befragten Lehrer/innen kontrastierende, sehr knapp theoretisch begründete Sichtweisen, die besonders für PraktikerInnen interessant sein können.
Die Falldarstellung wirkt trotz des Arbeitsbogenkonzeptes zum Teil unstrukturiert, so werden z.B. die unterschiedlichen Zeitpunkte der Interviewführung vor und nach dem Beratungsprozess in der Ergebnisdarstellung kaum aufgegriffen. Außerdem wird bei der Analyse der Fälle der schon angesprochene sehr knappe Bezug auf relevante Diskurse problematisch. So verweist Teumer (111) z.B. auf das Konzept einer inklusiven Pädagogik von Hinz [4], ohne dieses oder die Kritik daran dargestellt zu haben. Insbesondere die Darstellung von Inklusion und die Bewertung der bildungspolitischen Neuregelungen in Sachsen-Anhalt als „Hoffnung, dass in Sachsen-Anhalt eine Schuleingangsphase gestaltet wird, in der inklusive Grundgedanken Vorrang haben und Exklusionsrisiken kritisch reflektiert werden“ (32) erscheint zu unkritisch, wenn man bedenkt, dass diese bildungspolitischen Regelungen die Einschulung in die erste Klasse einer Förderschule vorsehen und die Ausführungen der befragten Lehrer/innen zu knappen Ressourcen sowie die Identifikation von Handlungsstrategien zur Herstellung homogener Schülergruppen etc. nicht für einen solchen Grundgedanken sprechen.
Im letzten Kapitel der Auswertung nimmt die Autorin mittels einer komparativen Sequenzanalyse (181) Abstand von den einzelnen Fällen und stellt entlang relevanter Kategorien der Einrichtungs-, Inhalts-, Sozial- und Evaluationskomponente des Arbeitsbogenkonzeptes Ergebnisse zu den zentralen Fragestellungen dar. Kritisch zu bemerken ist dabei, dass sich die Darstellung des Vergleichs vor allem auf Unterschiede der einzelnen Fälle, kaum aber auf fallübergreifende Aspekte bezieht (181). Erst im abschließenden Resümee der Dissertation stellt Teumer ihre Ergebnisse in Bezug zu den forschungsleitenden Fragen und unternimmt nochmals den Versuch diese in den aktuellen Forschungsstand einzuordnen. Den Abschluss der Arbeit bildet ein von Teumer entwickelter idealtypischer Arbeitsbogen einer Beratungsanfrage, der allerdings weder theoretisch verortet wird, noch das Instrument der Beratungsanfrage im Kontext des Bildungssystems kritisch reflektiert.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Stephanie Teumer trotz der angesprochenen Kritikpunkte insbesondere für Praktiker/innen einen Beitrag zum besseren Verständnis der Zusammenarbeit zwischen Grund- und Sonderpädagog/innen liefern kann. Diese Einschätzung begründet sich insbesondere mit der Betrachtung der Perspektive beider an den untersuchten Fällen beteiligten Gruppen von Grundschul- und Sonderpädagog/innen.
[1] Kultusministerium Sachsen-Anhalt: Handreichung zur sonderpädagogischen Förderung in Sachsen-Anhalt. 2011.
[2] vgl. Williamson, P./McLeskey, J.: An Investigation into the Nature of Inclusion Problem-Solving Teams. In: The Teacher Educator, 46 (4) 2011, S. 316–334.
[3] vgl. Reiser, H./Willmann, M./Urban, M.: Sonderpädagogische Unterstützungssysteme bei Verhaltensproblemen in der Schule. Innovationen im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2007.
[4] vgl. Hinz, A.: Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende??. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 60 (5) 2009, S. 171-179.
EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)
Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der Neugestaltung des Schulanfangs
Fallporträts im Spiegel des Arbeitsbogenkonzeptes
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(225 S.; ISBN 978-3-7815-1860-5; 32,00 EUR)
Julia Gasterstädt (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Gasterstädt: Rezension von: Teumer, Stephanie: Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der Neugestaltung des Schulanfangs, Fallporträts im Spiegel des Arbeitsbogenkonzeptes. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151860.html
Julia Gasterstädt: Rezension von: Teumer, Stephanie: Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der Neugestaltung des Schulanfangs, Fallporträts im Spiegel des Arbeitsbogenkonzeptes. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151860.html