An der Hochschule Vechta, einer kleinen Universität im niedersächsischen Oldenburger Münsterland, wurde im Juli 2008 ein Zentrum für Empirische Bildungsforschung und Fachdidaktik (ZEBiD) unter der Leitung von Prof. Dr. Karl-Oswald Bauer eröffnet. In diesem Zentrum sollen Modelle zur Beschreibung von Unterrichtsqualität, neue Medien im Bildungsprozess und Prozesse des berufsbiographisch sich wandelnden Kompetenzerwerbs von Lehrkräften von einer „fachdidaktisch informierten und inspirierten Bildungsforschung“ (188) empirisch erforscht werden. Zentral ist das Vorhaben, fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Perspektiven miteinander zu verknüpfen, um auf diese Weise akademische Traditionen eines Nebeneinanders bzw. einer Addition der Forschungszweige aufzubrechen. Die Gründer des ZEBiD folgen der These, dass es möglich ist, bildungswissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Grundlage fachdidaktischer Entscheidungen zu machen. Das ZEBiD stellt an sich den Anspruch, als innovatives Forschungszentrum der Hochschule Vechta einen Beitrag von überregionaler Bedeutung zur bildungspolitischen Debatte nach PISA zu leisten.
In den Band, der vornehmlich für die Drucklegung überarbeitete Vorträge der Eröffnungsveranstaltung des ZEBiD enthält, führt die Präsidentin der Hochschule Vechta, Marianne Assenmacher, mit einer Vorstellung des Zentrums sowie der anschließenden sechs Einzelbeiträge kurz ein. Der Umfang der Texte schwankt zwischen etwa 10 und über 60 Seiten. Eine thematische Gruppierung gibt es nicht. Während zwei Beiträge eher die Unterrichtsentwicklung aus fachdidaktischer Sicht thematisieren, stehen Karl-Oswald Bauers Konstrukte des professionellen Selbst’, der pädagogischen Basiskompetenzen und des pädagogischen Optimismus’ im Zentrum der übrigen Beiträge. Am Ende werden die einzelnen Beiträge von Bauer bilanzierend aufgegriffen und Unterricht wird von ihm als das Balancieren zwischen Person, Sache und sozialem Kontext beschrieben.
Aus Sicht des Rezensenten bilden die beiden fachdidaktisch ausgerichteten Beiträge, in denen Unterrichtsentwicklung zum einen bezogen auf den Schriftspracherwerb und Lesekompetenzaufbau sowie zum anderen bezogen auf den Mathematikunterricht fokussiert wird, einen ersten Schwerpunkt. Andreas Voss und Inge Blatt stellen am Beispiel der IGLU-Studie recht ausführlich dar, wie Rahmenkonzeptionen und Ergebnisse internationaler Schulleistungsstudien für die konkrete Unterrichtsentwicklung fruchtbar gemacht werden können. Interessant ist aus fachdidaktischer Sicht, dass mit einem auf einem sprachsystematischen Rechtschreibkompetenzmodell basierenden Förderkonzept insbesondere Lernchancen für bildungsbenachteiligte Schüler eröffnet werden und aus bildungswissenschaftlicher Sicht, dass die Effizienz von Interventionen in solchen Schulen besonders hoch ist, von denen Lehrkräfte nicht einzeln, sondern gemeinsam mit Kollegen des gleichen Schuljahrgangs weitergebildet wurden.
Nach der Auffassung von Brigitte Lutz-Westphal bedarf das der Lehrerausbildung zugrunde liegende Verständnis von (Schul-) Mathematik dringend einer Reform, die der Entwicklung der Mathematik „zu einem wichtigen Produktionsfaktor“ (131) Rechnung trägt. Mathematik müsse als „Problemlösen, Strukturieren, Abstraktion, Modellieren, Argumentieren in Aktion“ (130) begriffen werden. Mit einem von Kernideen inspirierten „Authentischen Mathematikunterricht“ könne eine stärkere Identifikation mit dem Fach hervorgerufen und die bisherige segmentierende Didaktik revolutioniert werden.
Einen zweiten Schwerpunkt bilden drei Texte, die auf die Konstrukte des professionellen Selbst, der pädagogischen Basiskompetenzen und des pädagogischen Optimismus ausgerichtet sind.
Es sei bisher wenig erforscht, inwiefern Schulen und Lehrkräfte Nutzen aus zurückgemeldeten Ergebnissen von Leistungsstudien und Lernstandserhebungen ziehen, d.h. inwieweit derartige Rückmeldungen fachdidaktische Entscheidungen der Praktiker beeinflussen. Laut Karl-Oswald Bauer biete sich hier die Nutzung des Konstrukts des professionellen Selbst an, denn diesem sei Evaluation als Element einer reflektierten Praxis in Bezug auf die pädagogische Basiskompetenz der Hintergrundarbeit inhärent. Um durch Evaluationen hervorgerufene Krisen als (Entwicklungs-)Chancen nutzen zu können, benötigen künftige Lehrkräfte methodische Kompetenzen zur Anlage von Evaluationen und auch zur Deutung von Evaluationsergebnissen. Gegenüber Kritikern einer solchen Sicht argumentiert Bauer überzeugend, dass entsprechende Technologien bereits vorhandene Handlungsmöglichkeiten erweitern würden, während sie sicherlich keinen Ersatz personaler (fachlicher und fachdidaktischer) Kompetenzen und Tugenden darstellen.
Da ein Blick in die Fachliteratur pädagogische Basiskompetenzen (zum Beispiel in den Dimensionen der Hintergrundarbeit und des Kommunizierens) als blinde Flecken offenbart, entwerfen Bauer und sein Mitarbeiter Andreas Bohn eine empirisch überprüfbare Modellierung dieser Basiskompetenzen. Gemeinsam mit Pierre Kemna skizziert Bauer den Stand der von ihnen vorgenommenen Entwicklung eines Instruments zur Messung des pädagogischen Optimismus bei Lehrkräften. Der pädagogische Optimismus sei ein Konstrukt aus den Forschungslinien der empirischen Glücksforschung, der pädagogischen Professionsforschung und der Selbstwirksamkeitsforschung. Das mehrdimensionale Konstrukt des pädagogischen Optimismus zeige sich darin, dass Lehrkräfte den von ihnen ausgehenden stetigen Einfluss als ursächlich für Lern- und Entwicklungsschritte von Schülern sehen. Auf der Grundlage eines Pretests konnte bisher eine vorläufige Skala mit vier Subskalen (pädagogische Selbstwirksamkeit, Schülerinteresse, Vertrauen / Zutrauen und Wohlbefinden im Arbeitsumfeld) erarbeitet werden, deren Items im Anhang des Beitrags dokumentiert sind.
Schließlich gewährt der Beitrag von Daniel Kleine-Huster einen Einblick in die Arbeit der Arbeitsstelle Begleitforschung des ZEBiD. Er beschreibt die Auswirkungen der Abschaffung der niedersächsischen Orientierungsstufe im Jahr 2004 als große Krise der freien, katholischen Haupt- und Realschulen im Oldenburger Land. Eine im Anschluss erfolgte weitgehende Neuprofilierung dieser Schulen umfasst Elemente wie Wochenanfangs- und Wochenabschlusskreise, den offenen Anfang, das übende Lernen und fächerverbindenden Unterricht. Die Umsetzung derartiger Neuausrichtungen führte, exemplarisch für den Mathematikunterricht geschildert, zu zahlreichen kleinen Krisen, da die Denkfigur der „Krise als Chance“ nicht von allen beteiligten Lehrkräften in gleicher Weise angenommen wurde. Deutlich wird, dass Krisen nur dann als Chance genutzt werden können, wenn individuelle Lernprozesse von Lehrkräften, d.h. Entwicklungen ihres professionellen Selbst’ zugelassen und beispielsweise durch Fortbildung und Supervision unterstützt werden.
Der Band bietet Einblicke in die Arbeit des ZEBiD. Ob es eines solchen Zentrums, dessen (gesprochene) Abkürzung stark an diejenige der weltgrößten Messe für Informationstechnologie erinnert, bedarf, sei dahingestellt und ob sich die erwartete überregionale Bedeutung einstellt, bleibt abzuwarten. Die angestrebte bipolare Ausrichtung auf die Fachdidaktiken und die empirische Bildungsforschung wird gleichwohl deutlich und dem Leser im Hinblick auf ausgewählte fachdidaktische, das professionelle Selbst betreffende und auf die Schul- und Unterrichtsentwicklung ausgerichtete Aspekte vor Augen geführt.
Während man den Ansatz des professionellen Selbst (Bauer) bereits aus verschiedenen, aber immer wieder anders nuancierten Zusammenhängen kennt, stellen die Beiträge in ihrer Kombination eine viel versprechende und in Teilen auch inspirierende Mischung von Überlegungen dar, die möglicherweise der Begegnung von Bildungsforschung und Fachdidaktiken zugute kommen. Somit dürfte dieser Band sowohl für Personen von Interesse sein, die mit dem ZEBiD zusammenarbeiten bzw. die vom Beispiel der Arbeit des ZEBiD lernen wollen, als auch für Wissenschaftler, die sich mit der Aufstellung von Kompetenzmodellen und Unterrichtsentwicklung befassen.
EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)
Kompetenzmodelle und Unterrichtsentwicklung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009
(192 S.; ISBN 978-3-7815-1693-9; 18,90 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Bauer, Karl-Oswald / Logemann, Niels (Hg.): Kompetenzmodelle und Unterrichtsentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151693.html
Daniel Blömer: Rezension von: Bauer, Karl-Oswald / Logemann, Niels (Hg.): Kompetenzmodelle und Unterrichtsentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151693.html