Gegenstand des vorliegenden Buches ist die niedersächsische Bildungs- und Schulstrukturreform aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Mittelpunkt steht einer der frühen demokratischen Schulversuche: die Niedersächsische Erziehungsstätte in Braunschweig. Dieser Schulversuch ist auf verschiedenen Ebenen interessant, nicht zuletzt wegen der Unterbringung der diesem Versuch angegliederten Schulen im Gebäude des ehemaligen nationalsozialistischen Luftflottenkommandos, das heute das Domizil einer Integrierten Gesamtschule ist. Der Autor ist durch langjährige Berufstätigkeit als Lehrer, Schulleiter und Dezernatsleiter mit dieser bemerkenswerten Schulentwicklung verbunden gewesen und hat sie letztlich zum Thema seiner Dissertation gemacht.
Im Zentrum steht die Rekonstruktion des Schulversuchs. Die Niedersächsische Erziehungsstätte war zunächst sozialpädagogisch ausgerichtet, entwickelte sich aber im Planungsverlauf zu einem breit gefächerten Versuch, der Erwachsenenbildung, Lehrerausbildung und Schulreform umfassen sollte. Pieper hat die ideen- und schulgeschichtlichen Hintergründe, mit denen die Schulreformer in Braunschweig ihre Arbeit planten, untersucht. Darüber hinaus ist ihm die Niedersächsische Erziehungsstätte ein „Prüfstein“ (12) für die Frage nach der bildungshistorischen Bewertung der Nachkriegszeit entweder als bildungspolitische Restauration oder als grundsätzlicher Neuanfang. Schließlich geht es dem Autor um die Herausarbeitung von Entwicklungsperspektiven für künftige Schul(struktur)reformen. Grundlage seiner Studie sind zahlreiche Archivalien, Quellen, die Zeitzeugen zur Verfügung gestellt haben sowie Gespräche mit ehemaligen Reformern und bildungspolitisch Verantwortlichen und nicht zuletzt Piepers Insiderwissen um schulische Praxis und Schulstrukturreformen im Anschluss an die 1950er und 1960er Jahre.
Die nach 1945 zunächst von den Alliierten, später auch von anderen Kräften angestrebten Reformen des Bildungswesens im Sinne einer Abkehr vom vertikal gegliederten Schulwesen blieben rückblickend erfolglos. Zwar wurde in der DDR die Einheitsschulidee durchgesetzt, in den westlichen Bundesländern führte die Kulturhoheit der Länder jedoch grundsätzlich zur Beibehaltung der vertikalen Schulstruktur und im Detail zu unterschiedlichen Ausprägungen. Hier ansetzend gelingt es Pieper über eine Auseinandersetzung mit den am Projekt der Niedersächsischen Erziehungsstätte beteiligten Personen (u. a. Adolf Grimme, Hans Alfken, Karl Turn, Rudolf Fiedler, Katarina Petersen, Anna Mosolf, Günther Rönnebeck, Helmut Langner) eine überaus aufschlussreiche historische Verbindung zu Ideen und Vorstellungen des Bundes Entschiedener Schulreformer aufzuzeigen, insbesondere zu Fritz Karsen und dessen Reformprojekt am Berliner Kaiser-Friedrich-Realgymnasium (1921-1933, 1930 in Karl-Marx-Schule umbenannt). Das in der NS-Zeit errichtete ehemalige Luftflottenkommando in Braunschweig ist als Ort des Geschehens für sich genommen geschichtsträchtig. Der Autor stellt darum Informationen zur Entstehung und Nutzungsgeschichte des Gebäudes voran und rekonstruiert im Anschluss die pädagogische Praxis der an der Niedersächsischen Erziehungsstätte beheimateten Schulen, wobei insbesondere die Volksschule und das Gymnasium Raabeschule im Mittelpunkt stehen. Im Unterschied zu bisherigen Veröffentlichungen zur Niedersächsischen Erziehungsstätte [1] hebt Pieper hervor, dass dieser Schulversuch bedeutsamer und wirkungsvoller gewesen sei als andere.
Für diese These spricht, dass die Niedersächsische Erziehungsstätte – selbst Versuchsprojekt – auch am Schulversuch „Differenzierter Mittelbau“ maßgeblich beteiligt war. Beim Differenzierten Mittelbau handelte es sich um einen Reformversuch der Sekundarstufe, an dem in Niedersachsen in der Zeit von 1950 bis 1965 bis zu 18 weitere Schulen beteiligt waren. Die herausgehobene Position wird schließlich durch die im Laufe der Jahre wechselnde Nutzung des markanten Gebäudekomplexes deutlich, der zwischenzeitlich auch die in Niedersachsen in den 1970er Jahren eingeführte und 2004 wieder abgeschaffte eigenständige Orientierungsstufe beherbergte. 1998 folgte letztlich ein zweites Schulreformmodell an diesem Ort, nämlich die Integrierte Gesamtschule Franzsches Feld. Insgesamt führt Pieper zahlreiche weitere Belege dafür an, dass an der Entwicklung der in einer einstigen militärischen Kommandozentrale der Nationalsozialisten untergebrachten Schulen ein halbes Jahrhundert niedersächsischer Schulgeschichte ablesbar ist.
Im Ergebnis kommt Pieper – der in Teilen die von ihm in dieser Schule (mit)initiierte Gesamtschularbeit nicht nur analytisch, sondern auch programmatisch in den Vordergrund rückt – zu einem Ausblick auf künftige schulreformerische Praxis. Unter der Prämisse, dass man aus der Geschichte lernen kann, ist ihm dabei die Berücksichtung der bildungshistorischen Perspektive wichtig. Für Pieper hängt die Suche nach „einer gemeinsamen Schule für alle Kinder und Jugendlichen“ (301) von einer aus Sicht der Eltern gelingenden „Integration eines gymnasialen Bildungsganges in eine Gesamtschule“ (ebd.) ab. Den mit Orientierungsstufen oder in einigen Bundesländern auch mit sechsjährigen Grundschulen bislang eingeschlagenen Ansatz wertet Pieper als „Irrweg“ (302), weil diese Formen „eher das gegliederte Schulwesen [stabilisieren würden; D.B.] als dass sie zu seiner Überwindung beitragen“ (ebd.). Der Autor sieht eine erfolgversprechende Chance für Schul(struktur)reformen zum einen in einem Perspektivwechsel hinsichtlich der Verantwortung des Gymnasiums für alle seine Schüler sowie zum anderen in der Etablierung der Gesamtschule als einer „wirklich konkurrenzfähige[n] Schule“ (ebd.) neben dem Gymnasium, die zu sämtlichen Bildungsabschlüssen – also auch zum Abitur – führen kann.
Für regionalgeschichtlich Interessierte (vermutlich besonders für Braunschweiger), insbesondere natürlich für die Personen, die in die Schulreformen involviert waren und sind, ist das Buch schon wegen möglicher Wiedererkennungseffekte lesenswert. Für Bildungshistoriker ohne lokalen Bezug lohnen sich vor allem die akribisch rekonstruierten personellen Netzwerke aus dem reformpädagogischen Kontext der legendären Berliner Karl-Marx-Schule in ihren bildungspolitischen Wirkungen auf den Versuch eines demokratischen Neubeginns nach 1945. Ob und inwiefern sich aus dieser Rekonstruktion und Analyse konkreter Reformpraxis Impulse für heutige Reformen ableiten lassen, bleibt freilich eine offene Frage.
[1] vgl. dazu Fiedler, Gudrun (2000): Nicht mehr Land und doch Region. In Braunschweigische Landesgeschichte. Braunschweig. 1148-1153; Leski, Horst (1991): Schulreformprogramme des Niedersächsischen Kultusministeriums 1945 – 1970. Hannover.
EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)
Niedersächsische Schulreformen im Luftflottenkommando
Von der Niedersächsischen Erziehungsstätte zur IGS Franzsches Feld
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009
(314 S.; ISBN 978-3-7815-1683-0; 36,00 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Pieper, Wilhelm: Niedersächsische Schulreformen im Luftflottenkommando, Von der Niedersächsischen Erziehungsstätte zur IGS Franzsches Feld. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151683.html
Daniel Blömer: Rezension von: Pieper, Wilhelm: Niedersächsische Schulreformen im Luftflottenkommando, Von der Niedersächsischen Erziehungsstätte zur IGS Franzsches Feld. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151683.html