
Die dabei zum Teil sehr ausführliche Wiedergabe von Briefauszügen hat den Vorteil, dass man genau nachlesen und nachempfinden kann, was viele Eltern an der pädagogischen Praxis Wynekens zweifeln ließ. Gleichzeitig lassen sich die zuweilen recht eigenwilligen Argumentationen Wynekens gegen diese Vorwürfe der Eltern gut erfassen, so dass man daraus eigene Schlüsse ziehen kann. Dabei vermisst man jedoch zuweilen den analytischen Blick auf die in zahlreichen Textstellen zum Ausdruck kommenden pädagogischen Vorstellungen Wynekens sowie auf die schulische Praxis in Wickersdorf, und diesen erhofft man sich zu Recht vom Autor einer wissenschaftlichen Studie.
Zusätzlich vermisst man eine eindeutige Stellungnahme zu den Vorfällen sexuellen Missbrauchs in Wickersdorf sowie zu den damit verbundenen Vertuschungsversuchen. Offensichtlich ist Wickersdorf ein frühes Beispiel für die Möglichkeiten sexueller Gewalt, die in Internatsschulen mit sich selbst ernennenden Jugendführern und einer Schülerschaft, die sich dem eigenen Schulkodex und ihren Erziehern mehr verpflichtet fühlt als ihren eigenen Bedürfnissen, vorhanden sind. Erst in Bezug auf die Machenschaften von Otto Peltzer, der als Vorzeigeathlet 1926 erstmalig nach Wickersdorf kam und sich dort als Sportlehrer an Schülern verging, werden klarere Worte gefunden. Sicherlich hätte der Autor vor dem Hintergrund aktueller Vorkommnisse in verschiedenen Internatsschulen anders Stellung bezogen. Diese Vermutung liegt jedenfalls nahe, wenn man den Artikel Dudeks zum „Abschied vom pädagogischen Eros“ liest, den er im März 2010 in Zusammenhang mit den Fällen sexuellen Missbrauchs in der Odenwaldschule verfasst hat [1].
Quellenkritisch wäre noch zu fragen, ob die herangezogenen Memoiren ehemaliger Schüler (z.B. die der Schauspieler Erik Ode und Friedrich Schönfelder) in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt werden. Trotz dieser Kritikpunkte bildet das Buch einen lesenswerten und wichtigen Beitrag zur Geschichte dieses bekannten Landerziehungsheimes. Die weitere Auswertung der oben genannten Schüler- und Lehrerbücher, die erst vor kurzem entdeckt wurden und nur auszugsweise von Dudek ausgewertet werden konnten, lässt weitere Publikationen mit interessanten Aufschlüssen erwarten.
[1] Vgl. die Wiedergabe des Artikels unter http://www.tagesspiegel.de/wissen/abschied-vom-paedagogischen-eros/1721162.html vom 18. März 2010.