Jean Piaget gehört zu den meistzitierten Autoren in der Pädagogik. Insbesondere der Einfluss seiner entwicklungspsychologischen Schriften auf den Bereich der Vorschulerziehung und auf verschiedene Fachdidaktiken wird in zahlreichen Beiträgen hervorgehoben. Piaget selbst hat allerdings nie ein Buch publiziert, in dem er systematisch seine pädagogischen Ansichten dargestellt hätte. Die gängigste Rezeptionsstrategie in der Pädagogik war es daher, aus seinen entwicklungspsychologischen, sozialpsychologischen oder epistemologischen Schriften pädagogische Konsequenzen abzuleiten.
Richard Kohler wählt nun in seiner Dissertation einen anderen Zugang: er möchte, quer durch Piagets Schriften und unter Berücksichtigung seiner praktischen Tätigkeiten in verschiedenen Institutionen dessen eigene pädagogische Ansichten rekonstruieren. Dabei bezieht er auch die bislang wenig beachteten pädagogischen Aufsätze ein. Methodologisch orientiert er sich bei seiner Analyse an dem historiographischen Zugang der beiden Historiker Quentin Skinner und John G. A. Pocock, der Ideengeschichte als „interdependente Dynamik von politischer Praxis, theoretischer Reflexion und sozialer Entwicklung versteht“ (13). Durch diese Herangehensweise will Kohler die „ideengeschichtlichen Fallen“ konventioneller Analysen vermeiden, die beispielsweise durch Vorannahmen über Personen und deren Werk sowie Tendenzen zur Glättung inkonsistenter Aussagen zustande kämen und entsprechend verzerrte Interpretationen lieferten.
Nachdem Kohler sein Vorhaben und seinen methodischen Ansatz im ersten Kapitel vorgestellt hat, geht er im zweiten Kapitel auf den biographischen Hintergrund Piagets ein, denn dieser mache „die Basisannahmen seiner vielfältigen Theorie und damit auch seine Pädagogik verständlich“ (18). Die hohen Leistungsansprüche seines autoritären Vaters und die Ausbrüche seiner neurotischen Mutter prägen Piagets Kindheit und Jugend. Er wird als unsicheres Kind beschrieben, das in seiner weiteren Entwicklung versuchen wird, Sicherheit „durch die Begründung des Absoluten im Denken“ zu gewinnen (20). Piaget ist früh von der Originalität und Richtigkeit seiner Ideen überzeugt, was ihm im Laufe seiner akademischen Laufbahn immer wieder Kritik, teilweise auch Zurückweisung einbringt. Gleichzeitig sichert ihm die starke Position des Vaters von Anfang an ein Unterstützungsnetzwerk, das ein Scheitern unwahrscheinlich macht. Piagets Denken, so Kohlers Resümee, sei entscheidend durch „die langues der Romandie“ geprägt worden. Dazu zählten u.a. „liberaler Protestantismus und calvinistische Ethik, demokratische und genossenschaftliche Doktrinen, Vitalismus und Neokantianismus, Neolamarckismus und religiöses Naturverständnis“ (61).
Im dritten Kapitel wird zunächst der institutionelle Hintergrund von Piagets Arbeiten dargestellt. Kohler beschreibt u.a. die Gründung und weitere Entwicklung des Institut Jean-Jacques Rousseau (IJJR), die Entstehung des Bureau International d’Education (BIE) sowie den Gründungskontext der UNESCO. Sowohl das IJJR als auch das BIE verstehen sich zunächst als Organe der „éducation nouvelle“ und haben Ausbildungs-, Forschungs- und Dienstleistungsfunktionen. Dabei wird deutlich, dass Piaget in beiden Institutionen zunächst optimale Ausgangsbedingungen für seine Arbeit vorfand.
Piagets Tätigkeiten innerhalb des IJJR und BIE bilden den Schwerpunkt des vierten Kapitels. Finanzielle Schwierigkeiten und der Vorwurf der mangelnden Wissenschaftlichkeit gefährden immer wieder die Existenz des IJJR. Hinzu kommt die Kritik Konservativer an den angeblich „subversiven“ Methoden der „école active“. Piaget distanziert sich in der Folge zunehmend von politischen Aussagen und trennt – als praktische Konsequenz – ab 1932 die Arbeit der beiden Institutionen, die bis dahin stark miteinander verschränkt war. Der Schwerpunkt des BIE liegt fortan auf psychologischer Forschung. Zunehmend „negiert Piaget den politischen Gehalt der propagierten Schul- und Unterrichtsreformen und verweist auf die wissenschaftliche Psychologie, deren objektive Forschungsresultate solche Reformen nahelegten“ (111). Dabei übergeht er, dass „Bildungspolitik nicht neutral sein kann“, zumal er sich „im Rahmen des BIE und der UNESCO fast vierzig Jahre lang für eine reformpädagogische Bildungspolitik [engagiert], um nicht nur die Schule, sondern über diese auch die Gesellschaft zu verändern“ (129).
Das fünfte Kapitel wendet sich dann den theoretischen Einflüssen auf Piagets Forschungen zu. Kohler beschreibt beispielsweise den Einfluss der Kinderpsychologie auf seine Forschungsmethoden und rekonstruiert Grundannahmen mit Bezug zur Religionspsychologie und Persönlichkeitstheorie. Besonders interessant ist die Darstellung von Piagets Moraltheorie, bei der die Auseinandersetzung mit Durkheim von zentraler Bedeutung ist; einerseits übernimmt Piaget einige seiner Überlegungen, andererseits übt er substanzielle Kritik, was nochmals deutlich wird, wenn es im folgenden Kapitel um praktische Moralerziehung geht.
Das sechste Kapitel – „Piaget und die Erziehung“ – stellt mit 100 Seiten einen thematischen Schwerpunkt der Arbeit dar: systematisch werden Piagets anthropologische Annahmen mit ihren Konsequenzen für die Erziehung, sein Erziehungsbegriff sowie seine Erziehungsziele, seine Schulkritik und schließlich die Beiträge zur „école active“ analysiert. Auch hier arbeitet Kohler mit einer Vielzahl von Dokumenten und stellt Bezüge zu anderen Autoren her, von denen Piaget maßgeblich beeinflusst wurde. Er zeigt darüber hinaus auf, welche Besonderheiten seine Ansätze ausmachten und geht u.a. auf den Begriff der Kooperation ein, der sowohl für Piagets moraltheoretische Überlegungen als auch für die neuen Methoden der „école active“ konstitutiv war.
In diesem Kapitel findet man viele Themen und wichtige Begriffe aus Piagets Schriften, die dezidiert auf deren Relevanz bzw. Konsequenz für Erziehung analysiert werden. Die Darstellung macht deutlich, dass Piaget im Hinblick auf familiäre und institutionelle Erziehung überzeugt Stellung bezog: Er kritisiert die Straflust von Eltern, den auf verbale Unterweisung ausgerichteten Unterricht („Verbalismus“) und die problematischen Konsequenzen von Prüfungen und Noten. Der traditionellen Pädagogik setzt er die „neuen Methoden“ entgegen, die der Eigenaktivität des Schülers gerecht werden wollen und die Gruppenarbeit zum Ausgangspunkt didaktischer Überlegungen macht.
Im siebten Kapitel wird rekonstruiert, welche forschungspraktischen und theoretischen Aspekte seiner Entwicklungspsychologie Piaget seit den 1930er Jahren modifiziert und ausgebaut hat und welche Einflüsse dabei maßgeblich waren. Die Analyse seiner entwicklungstheoretischen Annahmen deutet – im Hinblick auf deren pädagogische Konsequenzen – ein Spannungsverhältnis an, das später noch deutlicher hervortritt: „Die meisten seiner Schriften kreisen um das Problem, die exogenen Faktoren den endogenen zu unterstellen und die Entwicklung als gerichtet zu begreifen, ohne dabei einem Determinismus oder Finalismus zu erliegen. Das Lernen muss daher in Abhängigkeit von der Entwicklung verstanden und die Pädagogik der Psychologie untergeordnet werden“ (297).
Folgerichtig unterstreicht Piaget in seinen Stellungnahmen und Empfehlungen zu Reformen des Bildungssystems, die im achten Kapitel analysiert werden, immer wieder die Bedeutung entwicklungspsychologischer Kenntnisse in der Lehrerausbildung. Ähnlich wie zuvor im Abschnitt über Piagets Schulkritik wird auch hier deutlich, dass er sich grundlegende Reformen des Bildungssystems wünscht, die er u.a. durch die Anwendung der neuen, kooperativen Unterrichtsmethoden und einer Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung einleiten möchte. In der Praxis treten allerdings weder in Bezug auf die Lehrerbildung noch im Hinblick auf Curricula bahnbrechende Neuerungen ein, wofür aus Piagets Sicht Politiker, aber auch die Lehrer selbst verantwortlich seien. Ab Mitte der 1950er Jahre wendet er sich von allgemeindidaktischen Fragen ab und beschäftigt sich fortan mit den fachdidaktischen Konsequenzen seiner Entwicklungspsychologie.
Das neunte Kapitel fasst das Verhältnis von Piaget zur Pädagogik, insbesondere zur akademischen Pädagogik, pointiert zusammen. Die pädagogische Praxis wird den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen immer unter- und nachgeordnet und somit als Anwendungsfall der Psychologie begriffen. Eine Anerkennung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin war für Piaget zunächst ausgeschlossen; später gesteht er ihr zwar den Status einer Wissenschaft zu, betont aber, dass sie „als eine angewandte Disziplin sowohl eine Fertigkeit als auch eine Wissenschaft ist“ [1]. In diesem Abschnitt wird nochmals deutlich, wie widersprüchlich Piagets Aussagen über die Rolle des Lehrers sind: Er macht sie einerseits für das Scheitern der „éducation nouvelle“ mitverantwortlich, da sie sich seine Theorien nicht angeeignet hätten (336), und stellt sie gleichzeitig durch seinen „Grundsatz, dass man den Kindern nichts lehren soll, was sie selbst entdecken können ]…], vor eine unlösbare Aufgabe“ (340).
Im Schlusskapitel greift Kohler zentrale Themen nochmals auf und spitzt sie im Sinne des Eingangs vorgestellten historiographischen Ansatzes zu: Die theoretischen Einflüsse auf Piagets Denken werden, ebenso wie leitende Ideen seiner Erziehungsansichten und der daraus entstandenen Intentionen, konzise dargestellt und in Verbindung mit institutionellen und politischen Entwicklungen ausgewertet. Piaget, so Kohlers Bilanz, sei ein „Sonderfall der pädagogischen Historiographie“ (348), denn er zähle zu den Klassikern der Pädagogik, obwohl seine psychologischen Erkenntnisse „kaum pädagogisch umsetzbar“ (ebd.) seien, er den wissenschaftlichen Charakter der Pädagogik in Frage gestellt habe und sich selbst explizit von der Pädagogik distanzierte. Die Wahrnehmung Piagets als „Revolutionär der Pädagogik“ (349) führt Kohler unter anderem auf dessen autobiographische Selbstinszenierung zurück, der sich zahlreiche Darstellungen bis in die Gegenwart anschlössen.
Kohler hat ein ausführliches und interessantes Buch über „Piaget und die Pädagogik“ vorgelegt. Die Entwicklung Piagets forschungsmethodischer und theoretischer Zugänge und seine Einbindung in Institutionen und bildungspolitische Diskurse werden detailliert dargestellt und analysiert. In der Einleitung formuliert der Autor das Ziel, „Piaget möglichst beim Wort [zu, NB] nehmen, ohne die vorhandenen Ambivalenzen zu übergehen“ (15), und man gewinnt als Leser den Eindruck, dass ihm dies gelungen ist. Deutlich tritt Piagets ambivalentes Verhältnis zur Pädagogik als Praxis und als Disziplin hervor. Ein Klassiker der Pädagogik wird hier als Wissenschaftler beschrieben, dem an psychologischer Forschung stets mehr lag als an pädagogischen Fragen und der einerseits auf die Notwendigkeit empirischer Forschung zur Verbesserung der Schulpraxis insistierte, andererseits aber in zahlreichen Beiträgen selbst normative, reformpädagogische Konzepte vertrat – von denen er sich dann später wiederum distanzierte (338).
Kohlers Arbeit ist in der Reihe „Forschung“ des Klinkhardt Verlages erschienen, setzt Vorwissen voraus und richtet sich daher an Leser, die mit Grundzügen von Piagets Werk und der internationalen reformpädagogischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertraut sind. Der Einsatz des Buches in der Lehre dürfte – zumindest an deutschen Universitäten – dadurch eingeschränkt sein, dass Kohler viele und teilweise recht umfangreiche Passagen aus französischsprachigen Originaltexten zitiert (dies gilt sowohl für Piagets eigene Beiträge als auch für solche anderer Autoren). Ohne solide Vorkenntnisse hat man zwei Möglichkeiten: entweder man arbeitet sich unter Hinzuziehung entsprechender Übersetzungshilfen durch die Passagen oder man übergeht sie, verpasst dann aber – vor allem dort, wo Piaget sich selbst äußert – stellenweise aufschlussreiche Pointen. Für „Piaget-Einsteiger“, die an biographischen, institutionellen und theoretischen Hintergründen seiner Arbeit in kompakter Form interessiert sind, sei daher an dieser Stelle auf den ebenfalls von Kohler verfassten Band „Jean Piaget“ in der UTB-Profile-Reihe verwiesen [2].
[1] Piaget, Jean (1965): Erziehung und Unterricht seit 1935. In: Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Wien: Molden 1972, 13-137.
[2] Kohler, Richard (2008): Jean Piaget. Stuttgart: Haupt.
EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)
Piaget und die Pädagogik
Eine historiographische Analyse
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009
(381 S.; ISBN 978-3-7815-1679-3; 36,00 EUR)
Nicole Becker (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Becker: Rezension von: Kohler, Richard: Piaget und die Pädagogik, Eine historiographische Analyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151679.html
Nicole Becker: Rezension von: Kohler, Richard: Piaget und die Pädagogik, Eine historiographische Analyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151679.html