EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Mirjana Zipperle / Katharina Baur (Hrsg.)
Empirische Facetten der Schulsozialarbeit
Weinheim: Beltz Juventa 2023
(387 S.; ISBN 978-3-7799-7439-0; 48,00 EUR)
Empirische Facetten der Schulsozialarbeit Bei einer reprĂ€sentativen Befragung von Schulleitungen, durchgefĂŒhrt vom Robert-Bosch-Institut im November 2022, gaben 48% der Schulleitungen, an deren Schulen es UnterstĂŒtzungsangebote durch Schulsozialarbeit gibt, an, dass die Angebote nicht ausreichen, um den an der Schule herrschenden Bedarf abzudecken [1]. Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder der russische Überfall auf die Ukraine erschweren die ohnehin schon seit Jahren angespannte Situation in den Schulen. Nicht nur fĂŒr die Bewertung der EffektivitĂ€t der Schulsozialarbeit oder der Entwicklung evidenzbasierter Praktiken ist eine empirische Betrachtung des Feldes relevant, sondern eben auch mit Blick auf die Ressourcenoptimierung. Herauszufinden, welche Art von Intervention beispielsweise am dringendsten benötigt wird, ist eine wichtige Aufgabe, wenn es darum geht, finanzielle und auch personelle Ressourcen optimal einzusetzen, um dem bestehenden Mangel entgegenzuwirken. Die Forschung in der Schulsozialarbeit ist hierbei ebenso vielseitig wie das Feld selbst. Eben deswegen entschieden sich die beiden Herausgeberinnen Mirjana Zipperle und Katharina Baur, ihren 2023 erschienen Sammelband ‚Empirische Facetten der Schulsozialarbeit‘ zu nennen. Eine „systematische (Be-)Forschung des Feldes“ (10) sei bisher nicht gegeben, es handele sich eher um einen lockeren Verbund von Wissenschaftler:innen, die thematisch eher akzidentell forschen, weshalb ein nicht immer zueinander passender Forschungsstand vorliege.

Der Sammelband ist in fĂŒnf Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt liegt der Fokus auf dem SelbstverstĂ€ndnis und professionellen Handeln in der Schulsozialarbeit. Die unter diesem Abschnitt aufgefĂŒhrten BeitrĂ€ge sollen primĂ€r „Ambivalenzen des Handlungsfeldes“ (S. 19) erörtern und reflektieren. Des Weiteren soll eine AnnĂ€herung an die Frage erfolgen, wie und wo Schulsozialarbeit am besten platziert werden muss. Der zweite Abschnitt des Sammelbands legt den Fokus auf Adressat:innen der Schulsozialarbeit, konkret auf die Forschung zur Wahrnehmung und Aneignung von Schulsozialarbeit. Hier geht es darum, Einsichten in die SchĂŒler:innenwelt zu erlangen sowie die Möglichkeiten der Wahrnehmung und Nutzung von Schulsozialarbeit im Zusammenhang mit den Herausforderungen, die junge Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule bewĂ€ltigen mĂŒssen, deutlich zu machen. Im dritten Abschnitt liegt der Fokus auf der Struktur und Organisation, konkret auf der Forschung zu TrĂ€gern und zur Steuerung der Schulsozialarbeit. Auch dieser Band diskutiert keine vergleichenden Studien um die Debatte zur richtigen TrĂ€gerschaft in der Schulsozialarbeit, sondern konzentriert sich auf die Erfassung von Strukturbedingungen und daraus abzuleitenden Implikationen fĂŒr die Praxis, besonders in Bezug auf das professionelle Handeln der LehrkrĂ€fte.

Der vierte Abschnitt nimmt sich aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen an und versucht sie in Verbindung mit Schulsozialarbeit zu stellen. Der letzte, fĂŒnfte Abschnitt bietet mit dem Fokus auf Kooperation und Vernetzung eine Art Ausblick, in welchem Weiterentwicklungen diskutiert werden.

Mit insgesamt 27 BeitrĂ€gen bietet der Sammelband eine gute und breit gefĂ€cherte Grundlage fĂŒr die Erkundung der verschiedenen „empirischen Facetten“ (10) des Themenfeldes. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen BeitrĂ€gen soll im Folgenden nur auf zwei ausgewĂ€hlte BeitrĂ€ge eingegangen werden.

Katharina Baur, Leah Stange und Andreas K. Gschwind adressieren in Ihrem Beitrag „Allround Kompetenz der Schulsozialarbeit – Das Bild der Schulsozialarbeit aus Nutzer:innen-Perspektive“ die in dieser Rezension eingangs erwĂ€hnte Problematik der finanziellen und personellen Ressourcen und widmen den ersten Teil ihres Beitrags jenem Spannungszustand. Die Autor:innen versuchen, mithilfe von Daten aus dem Forschungsprojekt „Sozialraumorientierte Schulsozialarbeit an Sekundarschulen in Baden-WĂŒrttemberg“ (SOSSA_SEK; bundeslandbezogene Auftragsforschung) Antworten auf Fragen der Wahrnehmung von Schulsozialarbeit durch Nutzer:innen zu erlangen. HierfĂŒr wurden GesprĂ€chsprotokolle und Artefakte aus acht Workshops mit Jugendlichen an verschiedenen weiterfĂŒhrenden Schulen in Baden-WĂŒrttemberg aus dem Sommer 2021 analysiert. BeschrĂ€nkt wurde sich auf Erkenntnisse in Bezug auf die Nutzung, die Rollen und Funktionen und die Wahrnehmung der Schulsozialarbeit in der außerschulischen Lebenswelt. Die Auswertung des Materials fĂŒhrt zur Benennung von sogenannten „Allround-Kompetenzen“ (121), die fĂŒr Nutzer:innen besonders wichtig fĂŒr ein erfolgreiches Schulsozialangebot sind: universelle Ansprechbarkeit, ZuverlĂ€ssigkeit, vertrauensvoller und parteiischer, adressat:innenorientierter Umgang sowie gute KommunikationsfĂ€higkeit, eine offene Haltung gegenĂŒber den Jugendlichen und eine hohe LebensweltnĂ€he. In Bezug auf die Nutzung der Schulsozialarbeit waren die durchfĂŒhrende Person sowie die Abstimmung der Inhalte des Angebots auf die Interessen der Jugendlichen entscheidend. Wenig ĂŒberraschend steigt die Nutzungswahrscheinlichkeit von Angeboten mit der AttraktivitĂ€t des Angebots. Die Rollen der Schulsozialarbeitenden sind vor allem als Vertraute oder sogar Familie definiert. Die Funktionen beziehungsweise Erwartungen sind dementsprechend hoch: Schulsozialarbeit als ‚bessere‘ Erwachsene, als SozialpĂ€dagog:in sowie als Problemlöser:in. Insgesamt zeigt die Auswertung der Daten, dass es Schulsozialarbeitende an den untersuchten Standorten trotz der Spannungen ihres Berufsfeldes schaffen, eine dauerhafte Ansprechbarkeit und Kompetenz zu vermitteln.

Oliver Bokelmann nimmt sich in seinem Beitrag „Schulsozialarbeit und DemokratiepĂ€dagogik – SozialpĂ€dagogische Bildung im Zwischenraum von Jugendhilfe und Schule“ der Frage an, welche Möglichkeiten der Aneignung demokratischer Kompetenzen fĂŒr SchĂŒler:innen bestehen und wirft deshalb einen Blick auf die DurchfĂŒhrung demokratiepĂ€dagogischer Projekte, die in Kooperation von Jugendhilfe und Schule stattfanden. Im ersten Teil der Erhebung wurde mithilfe eines Onlinefragebogens versucht, „Kennzahlen zum Untersuchungsgegenstand“ (285) zu erhalten. Im zweiten Teil der Erhebung wurde ein ethnografisches Vorgehen im Forschungsstil der Grounded Theory initiiert. Hierzu wurden mehrere demokratiepĂ€dagogische Projekte in verschiedenen Schulformen begleitet. Anschließend daran wurden pro Projekt drei teilnehmende SchĂŒler:innen, eine pĂ€dagogische Fachkraft sowie die Schulleitung mithilfe von problemzentrierten Interviews befragt. Bokelmann leitet aus seinen Erkenntnissen Implikationen fĂŒr die Praxis ab: Zum einen erscheinen demokratiepĂ€dagogische Projekttage SchĂŒler:innen als positiver Kontrast zum sonstigen Schulalltag. Zum anderen wird festgestellt, dass die Kooperation von Jugendhilfe und Schule einen „fluiden Zwischenraum“ (290) entstehen lĂ€sst, der sehr viel Potenzial bietet. Zum Ende seines Beitrages formuliert Bokelmann zehn Schlussfolgerungen fĂŒr die Praxis von Schulsozialarbeit, die die kĂŒnftige Arbeit und vor allem Zusammenarbeit erleichtern sollen.

Bei dem Sammelband „Empirische Facetten der Schulsozialarbeit“ handelt es sich um ein umfassendes Werk mit breit gefĂ€cherten Themenkomplexen, das der Vielseitigkeit des Forschungsfeldes durchaus gerecht wird. Besonders zu erwĂ€hnen ist die gelungene Struktur des Sammelbands. Durch die kurzen EinfĂŒhrungen der Herausgeberinnen zu Beginn eines jeden Fokus-Abschnitts lassen sich alle BeitrĂ€ge, obwohl im direkten Vergleich miteinander doch weniger zusammenhĂ€ngend, gut einordnen. Die Übersichtstabelle zu Beginn des Bandes, die die methodische Anlage, den Forschungskontext und die Reichweite jedes Beitrags aufschlĂŒsselt, trĂ€gt erheblich zur Übersicht und Stringenz des Werks bei. Inhaltlich erschienen vor allem die Fokusteile II und IV interessant, da sie die Schulsozialarbeit in den Kontext aktueller gesellschaftlicher Debatten und Herausforderungen einordnen und damit einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung liefern. KĂŒnftig wĂ€re vor allem in diesen Bereichen mehr Forschung wĂŒnschenswert.

[1] Anders, F. (2023). Befragung von Schulleitungen - zu wenig UnterstĂŒtzung durch Sozialarbeit und Schulpsychologie. Das Deutsche Schulportal. VerfĂŒgbar unter https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/schulsozialarbeit-schulleitung-umfrage-deutsches-schulbarometer-november-2022/, [zuletzt besucht: 01.07.2024].
Christine Andreas (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Andreas: Rezension von: Zipperle, Mirjana / Baur, Katharina (Hg.): Empirische Facetten der Schulsozialarbeit. Weinheim: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997439.html