EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Jan Niggemann
Der diskrete Charme der AutoritÀt?
Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive
Weinheim: Beltz Juventa 2022
(298 S.; ISBN 978-3-7799-6792-7; 49,95 EUR)
Der diskrete Charme der AutoritĂ€t? Bedeutung und Reichweite von Zwang, Gehorsam und FĂŒhrung gehören zu den zentralen Aspekten der historischen, theoretischen und empirischen Analyse von Erziehungs- und BildungsverhĂ€ltnissen. Sie können beispielsweise macht- und gouvernementalitĂ€tstheoretisch [1] oder, wie die vorliegende Dissertationsstudie von Jan Niggemann, im Rahmen einer hegemonietheoretischen Perspektive untersucht werden. Im Zentrum seiner Untersuchung steht der Begriff der pĂ€dagogischen AutoritĂ€t. Er wird als eine sich in pĂ€dagogischen Handlungsweisen manifestierende, die moderne Gesellschaft kennzeichnende und strukturierende Form der Herrschaft bestimmt, deren Genese und Geltung mit der Existenz des bĂŒrgerlich-liberalen Staates in Verbindung gebracht werden.

Das Buch ist in insgesamt sechs Kapitel gegliedert. In der Einleitung expliziert der Autor die Untersuchung in einem doppelten Sinn als grenzĂŒberschreitendes Projekt: die theoretische Erforschung der Wirksamkeit von AutoritĂ€t(en) und Autorisierungsprozessen verfolgt zum einen eine inter- und transdisziplinĂ€re und zum anderen eine multiperspektivisch angelegte Herangehensweise. Weiterhin geht sie mit der Absicht einher, die Grenze zwischen Wissenschaft und sozialer Praxis wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest in Bewegung zu bringen. Das mit diesem Anliegen verbundene wissenschaftliche Programm versteht sich selbst als ethisch-politisches Vorhaben. Diese Intention entspringt der theoretischen Einbettung der Untersuchung in die Cultural Studies und deren Anspruch auf Parteilichkeit. Sie resultiert auch aus der Fokussierung auf pĂ€dagogische HegemonieverhĂ€ltnisse, die nicht nur in analytischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der gegenhegemonialen FĂŒhrung und Mobilisierung verfolgt werden. In diesem Zusammenhang nimmt der Autor fĂŒr sich eine „plurale dezentrierte Kritikerposition“ (ebd.) in Anspruch, die nicht nur ihre eigene Verstricktheit in gesellschaftliche, politische und epistemische Gewalt- und AutoritĂ€tsverhĂ€ltnisse reflektiert, sondern in den Dialog tritt „mit dem von ihrem Standpunkt aus gesehen bisher ausgeschlossenen, verworfenen, delegitimierten und ignorierten Anderen, um zu einer neuen Form der globalen Verallgemeinerung zu kommen“ (13). Der Anspruch auf ein verĂ€ndertes globales Allgemeines wird mit einem konkreten Untersuchungsgegenstand verbunden: mit AutoritĂ€t als sozialem VerhĂ€ltnis und pĂ€dagogischer Beziehung, die nicht zu trennen ist von den jeweils vorherrschenden staatlichen Strukturen.

Das zweite Kapitel versammelt verschiedene Aspekte, die der theoretischen, historischen und erziehungswissenschaftlichen Einbettung des Vorhabens dienen: Nach einer definitorischen Passage zu AutoritĂ€t als moderner Kategorie wird ihre konstitutive Funktion fĂŒr den modernen erzieherischen Staat, der zu einer umfassenden PĂ€dagogisierung der Gesellschaft gefĂŒhrt habe, herausgestellt. AutoritĂ€t stellt mit pĂ€dagogischen Mitteln eine Verbindung her zwischen den Anforderungen von Politik und Ökonomie sowie dem zivilgesellschaftlichen Alltagsleben und der Kultur. Durch eine bestimmte Form der FĂŒhrung wird letztere an erstere angepasst. Eine zentrale Stellung nimmt die Rekonstruktion des AutoritĂ€tsbegriffs bei Max Horkheimer ein. Der Autor verbindet die Rekonstruktion mit der Aufgabe eines zu erneuernden Erbes. Zu erben gilt es zum einen die von Horkheimer aufgeworfene Frage, wie es dazu kommt, dass die Beherrschten an den Bedingungen, die sie unterwerfen und an denen sie leiden, nicht nur festhalten, sondern sie auch noch bejahen. Zum anderen ĂŒbernimmt der Autor die grundlegende Einsicht in die Gesellschaftlichkeit von AutoritĂ€t. Mit Horkheimer stellt sich dabei das „Problem, ob und wie AutoritĂ€t in Beziehung zu ökonomischem Zwang und staatlicher Gewalt verstanden wird“ (43). Und gerade weil AutoritĂ€t nicht ohne die gesellschaftlichen und staatlichen VerhĂ€ltnisse verstanden werden kann, in denen sie funktional wird, muss ihr VerstĂ€ndnis unter verĂ€nderten Bedingungen erneuert werden. Diese Erneuerung findet in der vorliegenden Arbeit auf semantischer und kategorialer Ebene statt. Die semantische Erneuerung erfolgt eher beilĂ€ufig dadurch, dass der Autor die Einsichten Horkheimers mit einem poststrukturalistisch inspirierten Vokabular entschlĂŒsselt. Beispielsweise wird AutoritĂ€t bei Horkheimer als diskursiv umkĂ€mpfte Relation interpretiert, seine Theorie als „situiert“ (45) verstanden und die Psyche als „‚Erfindung‘“ (42) betrachtet. Die kategoriale Erneuerung berĂŒcksichtigt zwei historische Episoden: Erstens die Folgen der Bewegung von 1968, in der AutoritĂ€tskritik mit der Analyse gesellschaftlicher, geschlechtlicher und generationaler HerrschaftsverhĂ€ltnisse zusammengedacht worden ist, und zweitens die VerĂ€nderungen der (pĂ€dagogischen) AutoritĂ€t im Neoliberalismus. Die Beschreibung dieser VerĂ€nderungen besitzt fĂŒr die Konstruktion des Argumentationsgangs des Buches eine Scharnierfunktion. Zum einen wird die soziale und politische Konstellation des Neoliberalismus mit der „enormen Renaissance autoritĂ€rer sozialhygienischer Denkweisen“ (91) in Verbindung gebracht. Zum anderen wird das Feld der gegenwĂ€rtigen erziehungswissenschaftlichen Debatte ĂŒber AutoritĂ€t und Autorisierungen kartiert. Zu diesem Zweck polarisiert der Autor zwischen liberalen Positionen, „die das Vorhandensein von AutoritĂ€t mit BezĂŒgen auf die liberale Staatstheorie (...) begrĂŒnden und resignifizieren“ (92), und praxisphilosophisch orientierten Perspektiven, die „die historische Genese globaler Arbeitsteilung und integraler Staatlichkeit (...) als Prozesse der Hegemoniebildung analysieren“ (ebd.). Die zugespitzte und etwas grobe Unterscheidung zwischen staatsaffirmativen und staatskritischen Perspektiven wird ergĂ€nzt durch die Feststellungen, dass es aktuellen Bestimmungsversuchen pĂ€dagogischer AutoritĂ€t an einer gesellschaftstheoretischen Sichtweise mangelt. Diese diagnostizierten Leerstellen sollen in der vorliegenden Studie mit Hilfe eines praxisphilosophisch fundierten Zugangs und „durch die Operationalisierung einer hegemonietheoretisch begrĂŒndeten Konzeption von pĂ€dagogischer AutoritĂ€t und Autorisierung“ (100) bearbeitet werden.

Das Vorhaben stĂŒtzt sich auf zwei grundlegende Einsichten, die durch (pĂ€dagogische) LektĂŒren von Antonio Gramsci (Kap. 3) und Stuart Hall (Kap. 4) erschlossen werden. Der erste mit Gramsci erlĂ€uterte Gedanke besagt, dass die Auseinandersetzung mit HegemonieverhĂ€ltnissen eine Perspektive erfordert, die die strukturelle Verbindung zwischen pĂ€dagogischer AutoritĂ€t und politischer FĂŒhrung im Horizont einer bestimmten Form von Staatlichkeit analysieren kann. Diese Einsicht konkretisiert sich in der Bestimmung von pĂ€dagogischer AutoritĂ€t als zentrale Regulationsinstanz im modernen Staat. Sie ĂŒbersetzt durch FĂŒhrung und Artikulation Ideologien in alltĂ€gliche Denk- und Handlungsweisen und trĂ€gt damit zur gesellschaftlichen und politischen Integration verschiedener sozialer Gruppen bei.

Nach einer biographischen und ideengeschichtlichen Einordnung von Gramscis GefĂ€ngnisheften verfolgt das dritte und umfangreichste Kapitel die Absicht, der kaum vorhandenen Rezeption Gramscis innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung entgegenzuwirken. Dies geschieht durch die pĂ€dagogische Erörterung seiner zentralen Gedanken zu einer Philosophie der Praxis (Kap. 3.2), der TĂ€tigkeit als gesellschaftlichem Wesen des Menschen (Kap. 3.3) und dem Erziehungsstaat (Kap. 3.5). Die Rezeption von und Auseinandersetzung mit Gramsci versteht sich als Arbeit an einer praxisphilosophischen PĂ€dagogik, die bei der Auffassung von Philosophie und Theorie als politischer Handlungsweise ansetzt. Sie geht insbesondere von der geschichtlichen Praxis subalterner Gruppen aus, um diese zu erklĂ€ren und in sie einzugreifen. Ein mit Gramsci formulierter Begriff von AutoritĂ€t fördert einen spezifischen Zusammenhang von Politik und PĂ€dagogik zutage, der sich im erzieherischen Staat realisiert, Niggemanns pĂ€dagogischer Interpretation von Gramscis Begriff des integralen Staates. Im integralen Staat erzieht und bildet der Staat insbesondere durch die TĂ€tigkeit und Funktion pĂ€dagogischer AutoritĂ€ten, etwa in Form von Intellektuellen, die Konformismus als Ziel von FĂŒhrung anstreben. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird die AbhĂ€ngigkeit von politischer Herrschaft und pĂ€dagogische AutoritĂ€t entfaltet.

Im vierten Kapitel wird der Zusammenhang zwischen Artikulation und pĂ€dagogischer AutoritĂ€t in der erzieherischen und bildenden Praxis im Vergleich zu den detaillierten AusfĂŒhrungen im dritten Kapitel wesentlich kĂŒrzer behandelt. Die AusfĂŒhrungen im Anschluss an Stuart Halls Theorie der Artikulation sind verbunden mit einem vierfachen Anliegen: erstens die Praxis pĂ€dagogischer AutoritĂ€t prĂ€ziser zu erfassen, zweitens die pĂ€dagogischen Aspekte innerhalb der Cultural Studies herauszuarbeiten, drittens einen Beitrag zur erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Rezeption der Cultural Studies zu leisten und viertens Stuart Hall als einen Gegenhegemonien fördernden Intellektuellen zu prĂ€sentieren. Mit dem Bezug auf Hall wird die Auseinandersetzung um Hegemonie in den Bereich der Kultur verschoben und pĂ€dagogische AutoritĂ€t artikulationstheoretisch ausformuliert.

Das fĂŒnfte Kapitel setzt bei der Frage an, welche Akteursgruppen aus hegemonietheoretischer Perspektive an der Reproduktion oder Transformation gesellschaftlicher AutoritĂ€tsverhĂ€ltnisse und pĂ€dagogischer Autorisierungspraxen teilhaben. Diese Frage wird im Kontext zweier zeitgenössischen Positionen in der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung diskutiert. Erstens nutzt der Autor die anerkennungs- und performativitĂ€tstheoretischen Überlegungen von Daniel Krenz-Dewe und Paul Mecheril zur ErlĂ€uterung der Frage, warum Erziehende und pĂ€dagogische Professionelle der politischen Anrufung zur (ideologischen) FĂŒhrung freiwillig Folge leisten. Zweitens vollzieht der Autor die von Kerstin Jergus, Ira Schumann und Christiane Thompson ausgearbeitete performativitĂ€tstheoretische Auffassung von AutoritĂ€t als Prozess des Autorisierens nach und stellt ihr zwei Exkurse zu Butlers PerformativitĂ€tsbegriff und Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt voran.

Die Dissertation von Jan Niggemann kann Impulse setzen in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zu AutoritĂ€t und AutoritĂ€tsverhĂ€ltnissen. Es gehört zu ihren zentralen Verdiensten, Gramscis Relevanz fĂŒr die Analyse pĂ€dagogischer Fragestellungen und Sachverhalte darzulegen. Niggemann erörtert nicht nur die implizite pĂ€dagogische Dimension in Gramscis staatstheoretischen Überlegungen, sondern zeigt auch plausibel, dass und inwiefern HegemonieverhĂ€ltnisse eine erzieherische Struktur besitzen. Einige Fragen bleiben jedoch offen. Niggemanns Konstruktion des bei Gramsci implizit gebliebenen Zusammenhangs von Hegemonie und pĂ€dagogischer AutoritĂ€t geht selbst nicht ĂŒber den historischen Kontext der „GefĂ€ngnishefte“ hinaus. Dabei wĂ€re es interessant gewesen zu erfahren, wie sich der Zusammenhang zwischen politischer und pĂ€dagogischer AutoritĂ€t in verĂ€nderten historischen VerhĂ€ltnissen, etwa unter der Bedingung erodierender Nationalstaaten oder im Kontext eines autoritĂ€ren Neoliberalismus darstellt. Unklar bleibt auch, worin das tertium comparationis besteht, mit dessen Hilfe die von gĂ€nzlich verschiedenen theoretischen PrĂ€missen ausgehenden materialistischen und praxeologischen Perspektiven auf AutoritĂ€t zusammengedacht werden. UnabhĂ€ngig davon ist der Publikation aber eine breite, nicht nur an theoretischen Problemstellungen, sondern auch an strategischen Aspekten gesellschaftsverĂ€ndernder Bildungsprozesse interessierte Leserschaft zu wĂŒnschen.

[1] SchĂ€fer, A. (2004). Macht – ein pĂ€dagogischer Grundbegriff? Überlegungen im Anschluss an die genealogischen Betrachtungen Foucaults. In: Ricken, N & Rieger-Ladich, M. (Hrsg.). Michel Foucault: PĂ€dagogische LektĂŒren (S. 145–164). Wiesbaden: Springer VS; Pongratz, L. A. (2005). SubjektivitĂ€t und GouvernementalitĂ€t. In: Hafeneger, B. (Hrsg.). Subjektdiagnosen (S. 25–38). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag; Ricken, N. (2006). Die Ordnung der Bildung. BeitrĂ€ge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden: Springer VS.
Ricarda BiemĂŒller (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ricarda BiemĂŒller: Rezension von: Niggemann, Jan: Der diskrete Charme der AutoritĂ€t?, Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996792.html