
„Die große Stoßrichtung lautet, die Beschaffenheit, Situierung und Wirkung von Paradoxien zu reflektieren, aber gleichwohl sind Beiträge matrixhaft situiert, wenn sie ebenso die Legitimation, Funktion und Leistungen von (solchen) Paradoxie-Forschungen befragen.“ (ebd.)
Das Verhältnis dieses Anliegens zu Beiträgen, Struktur oder Zustandekommen des Bandes kann die mit drei Seiten sehr knappe Einleitung leider kaum erhellen. So wird die generische Ordnung der Teile in „Theorie, Semantik, Interaktion, Profession und Organisation“ (9, 11) nicht näher erläutert. Der orientierenden Darlegung von vier Richtungen des Umgangs mit pädagogischen Paradoxien („Eruierung und Analyse“, „Relativierung“, „Infragestellen“ sowie „Reformulierung“) fehlen wiederum die bandinternen Bezüge. Und die Kurzdarstellung der Beiträge erfolgt in einer zutreffend als „hoch reduktionistisch, somit riskant informativ“ (ebd.) erkannten Form. In Verkürzung auf zwei bis fünf Wörter versuchen die Herausgeber auf den Punkt zu bringen, „was die Beiträge mit Paradoxien ‚machen‘“ (ebd.) und verkennen den Zugriff dabei zumindest einmal gründlich.[1]
Die Herausgeber vergeben auf diese Weise die Möglichkeit, einleitend mit und aus den zusammengestellten Beiträgen etwas zu machen, das über ihre (An)Sammlung unter einem Titel und einer Proklamation hinausweist.
Teil I Paradoxien pädagogischer Theorien
Ulrich Binder, Franz Kasper Krönig und Heinz-Elmar Tenorth stimmen thematisch wie erkenntnispolitisch ein: In der Hoffnung, „damit einen Referenzraum für Verständigung“ (15) zu eröffnen, zeichnen sie den historischen Gebrauch des Paradoxiebegriffs nach, argumentieren mit Luhmann für eine „Erforschung von Mustern der Entparadoxierung“ (24) und (re)konstruieren von A wie „Aufhebung“ bis W wie „Wachstum(-semantik)“ acht theoriestrategische Formen der Entparadoxierung pädagogischer Paradoxien. Auch hier verschenken die Herausgeber durch ausbleibende Verweise das Potenzial, einen Referenzraum für Verständigung bereits innerhalb des Bandes zu beleben.
Mit einer ‚relativierenden‘ Entschärfung über Schleiermachers Figur der ‚Duale‘ steigen Elmar Drieschner und Detlef Gaus ganz praktisch in die Entparadoxierung von Fremd- und Selbstbestimmung sowie Nähe und Distanz ein. Fokussiert auf „historische und biografische Balanceverschiebungen“ (57) überführe „dualistisches Denken die Analyse von Antinomien und Paradoxien in eine prozessuale und dynamische Perspektive“ (65) – im Beitrag dann allerdings (auch grafisch) teils auf ein schlichtes Kontinuum zwischen zwei Polen reduziert.
Walter Herzog setzt hier mit einer ‚Infragestellung‘ der Paradoxie von Autonomie und Heteronomie deutlich radikaler an: Sein Beitrag legt überzeugend dar, wie „der Ausschluss der sozialen Interaktion aus den Begriffen Bildung und Erziehung“ (68) mittels kausaler Subjekt-Objekt-Schemata (von Kant bis Wimmer) dazu geführt habe, dass „Erziehung überhaupt als Paradoxie erscheinen kann“ (ebd.). Pädagogische Wirksamkeit im Medium der Kommunikation hingegen habe „faktische Autonomie“ (79) als Grundvoraussetzung.
Steffen Wittig folgt der „These der Produktivität“ (83) von Paradoxien. Mit Wimmers Begriff vom ‚Grund-Riss‘ betont er die „konstitutive Bedeutung des Paradoxen für das Pädagogische“ (ebd.) und zeigt mit Laclau dessen produktives Moment auf. Im Rückgriff auf Masschelein/Simons entfaltet er schließlich die „These, dass dieser Grund-Riss die Pädagogik zu einem (politischen) Experiment mutieren lässt“ (ebd.), das hegemonial besetzte pädagogische Problematiken fortwährend dekonstruiert und situativ neu verhandelbar macht.
Jürgen Oelkers unternimmt entlang zeitgenössischer Diskurse des 18. Jh. eine originelle „Rousseau-Auslegung“ (100). Rousseau sei „ein Stachel im Erziehungsdenken geblieben“ (112), weil er „die scharfe Waffe der Paradoxien“ (ebd.) benutzte. Seine „Provokationen“ (100) waren dabei auch im Wortsinn gegen (gr. para/παρά) die allgemeine Meinung (gr. doxa/δόξα): „Offen mit Paradoxien der Erziehung zu denken, war störend und verursachte Kopfschütteln, also wirkte die Strategie genauso, wie von Rousseau beabsichtigt“ (102).[2]
Teil II Paradoxien pädagogischer Semantiken
Paul Vehse erörtert höchst konzis und stringent die Frage, „ob die Pädagogik in Fragen der Anerkennung […] mit einem Dilemma zu tun hat, ob und wie dieses Dilemma paradox strukturiert ist und welche Möglichkeiten einer Entparadoxierung angedeutet werden“ (117). In einer komparativen ‚Eruierung und Analyse‘ bereichert Vehse damit das eingangs programmatisch hergeleitete (Forschungs-)Interesse an Mustern der Entparadoxierung.
Die „Paradoxien der Sprachlernklassen“ mit ihrem Ansatz einer „‘Inklusion durch Exklusion‘“ (132) untersucht Serafina Morrin. In einem schlüssigen Dreischritt zeigt sie auf, wie Begegnungen mit „[d]em paradoxen Fremden“ (139) von einer „Krisenerfahrung“ (ebd.) in einen „ästhetischen Resonanzraum“ (ebd.) zu „authentische[n] Kooperationen“ (ebd.) überführt werden können und so „Transformationen ermöglichen, die ein gemeinsames Wir hervorbringen“ (142).
Entlang einer elaborierten Kritik der „Paradoxie der verkennenden Anerkennung“ (152) stellt Anke Redecker die „anerkennungstheoretische Paradoxie-Propagierung“ (148) pointiert ‚infrage‘. Statt „kunstvolle Konstruktionskapriolen an die Stelle kritischer Reflexion“ (161) zu setzen, bestünde die „entscheidende Aufgabe“ (160) darin, „auch neuen Impulsen Raum zu geben, die das alte Spiel der spektakulären Paradoxie-Inszenierung nicht mitspielen, sondern stattdessen nach praktikablen Antworten auf deren Herausforderungen suchen wollen“ (ebd.).
André Epp setzt sich mit der „kaum mehr zu überschauende[n] Anzahl an theoretischen Konzepten“ (167) im Rahmen der „Forschungen zu individuellen Wahrheitsurteilen von Lehrkräften“ (ebd.) auseinander. Der „paradoxe[n] Beschaffenheit“ (168), dass unterschiedliche Begrifflichkeiten „auf ein und denselben Sachverhalt verweisen“ (170), geht Epp in einer kursorischen, historischen Betrachtung nach, die das Wirken „nicht-wissenschaftliche[r] Faktoren“ (172) heraushebt.
Jochen Laub bestimmt anregend, jedoch begrifflich wie gedanklich nicht immer stringent, die „Normativität des Nachhaltigkeitsbegriffes als pädagogische Herausforderung“ (184) mit „[i]nhaltliche[n] und strukturelle[n] Paradoxien“ (186). Anstatt „Nachhaltigkeit zu einer Maxime zu erheben“ (190), so das Plädoyer, seien dessen Antinomien und Paradoxien vielmehr als didaktische Ausgangspunkte der Reflexion zu begreifen, „um ethische Urteilsfähigkeit zu fördern“ (191).
Teil III Paradoxien pädagogischer Interaktionen
Ludwig Duncker zeigt an drei didaktischen Diskussionszusammenhängen luzid und prägnant die „begrenzte[] Gültigkeit didaktischer Konzepte“ (198) sowie „die Notwendigkeit einer dialektischen Verknüpfung mit ihrem jeweiligen ‚Gegenüber‘“ (199) auf. Schleiermacher folgend werden polare Spannungsfelder „damit nicht in einer Synthese aufgefangen […], sondern [müssen] als Gegensatz wahrgenommen, aufrechterhalten und in praktischer Hinsicht immer wieder neu ausbalanciert werden“ (208).
In ähnlicher Stoßrichtung skizziert Frank Beier eine „paradoxiesensible und reflexive Didaktik“ (229), die er auf Basis der Unterscheidung holistischer und atomistischer Ansätze didaktischen Paradoxiemanagements sowie zweier Fallanalysen paradoxaler Handlungsanforderungen entwirft. Gerade die empirisch gewonnenen Kategorien sollen Lehrpersonen dabei helfen „in actu zu reflektieren, auf welche Seite man gerade kippt“ (ebd.).
Imke Kollmer lässt die Selbstverständlichkeit des Referats fragil werden. Aus interaktionslogischer Perspektive reagierten Referate auf das „Strukturproblem potentiell ausbleibender Beteiligung“ (243), das in der Folge jedoch durch ein anderes Handlungsproblem ersetzt werde und so die Widersprüchlichkeit seminaristischer Praxis nur ‚reformuliert‘: „das fehlende oder zumindest stark reduzierte Aufwerfen der Fraglichkeit von Geltungsansprüchen“ (ebd.).
Teil IV Paradoxien pädagogischer Professionen
Stefan Emmenenger nimmt „die behauptete Relevanz und Unverzichtbarkeit von Antinomie/Paradoxie zum Anlass, die systematische, fachwissenschaftliche und ausbildungsbezogene Reichweite dieses Leitgedankens zu prüfen“ (248). Seine eingängige ‚Infragestellung‘ resultiert in einem differenzierten Ausblick auf die ‚Relativierung‘ des Stellenwerts von Antinomie/Paradoxie in der Lehrkräftebildung.
Auf Basis einer stringenten Diskussion von drei „systematischen Schwachstellen in den bisherigen Perspektiven auf die pädagogischen Paradoxien von Freiheit und Zwang bzw. von Führen und Wachsenlassen“ (269) ‚reformuliert‘ Ulf Sauerbrey das „allgemeine[] pädagogische[] Grundproblem“ (280) im Rückgriff auf Sünkel und Prange als Paradoxon einer „Einheit der Differenz von Zeigen und Lernen“ (ebd.) im Kontext „bisubjektive[n] Zusammenwirken[s]“ (ebd.).[3]
Horst Zeinz und Henrike Kopmann diskutieren mit Helsper und in „relativierende[r] Perspektive“ (294) einige pädagogische Antinomien in den Bereichen „Inklusion, Digitalisierung und Umwelterziehung / BNE“ (285). Ihr zumeist kursorischer Durchgang wird bisweilen auch erratisch, wenn etwa als Ziel „schulische[r] Beschäftigung mit Umweltthemen“ (293) ausgewiesen wird, dass „eine Liebe zur Natur angebahnt werden soll“ (ebd.).
Teil V Paradoxien pädagogischer Organisationen
Thomas Wendt arbeitet entlang von Paradoxien, „die sich aus der organisationalen Struktur-Subjekt-Dualität ableiten“ (300) anschaulich die Pädagogizität von Management und Führung heraus. „Die Erfahrung der Unmöglichkeit, fixe Zielstellungen durchzusetzen, ohne dabei unplanmäßige Effekte zu produzieren“(ebd.) bestimmt er dabei schlüssig als „Antriebsfeder“ (ebd.) fortwährender Erneuerung von Konzepten in Pädagogik wie Organisation.
Benjamin Betschart problematisiert treffend die „nicht-produktive[] Paradoxie“ (316), dass „Qualitätsmanagement mittels Evaluationen in einem pädagogischen Gegenstandsfeld pädagogisches Denken und erziehungswissenschaftliches Wissen weitestgehend exkludiert resp. ignoriert“ (315). Seine Empfehlung zur Entparadoxierung: „Auf eine für Bildungsinstitutionen unwürdige Vereinfachung […] verzichten“ (326).
Niels Åkerstrøm Andersen, Hanne Knudsen und Jette Sandager beschließen den Band mit der stichhaltig und materialgesättigt entfalteten These, dass der Forschungs- und Technologiewettbewerb ‚First Lego League Challenge‘ „ein Medium für die Potentialisierung des Potentials der Kinder anbietet“ (343). Potenzialität werde damit – so das ausgemachte Paradoxon – sowohl Form als auch Medium und markiere dergestalt den „Versuch, den Begrenzungen der Pädagogik zu entfliehen“ (353).
Resümee
Binder und Krönig ist es in der Gesamtschau gelungen, einen für die Diskussion von „Paradoxien (in) der Pädagogik“ bedeutsamen Band vorzulegen, der seinem Anspruch der Reflexion und Modifikation vorangegangener (Theorie-)Traditionen gerecht wird. Der Band setzt sich weit überwiegend aus lesenswerten Beiträgen mit ersichtlichen, wenn auch zu selten ausgewiesenen Bezügen zu den eingangs aufgezeigten Richtungen der ‚Eruierung und Analyse‘, ‚Relativierung‘, ‚Infragestellung‘ und ‚Reformulierung‘ pädagogischer Paradoxien in einer thematisch verträglich disparaten Breite zusammen.
Obgleich mehr herausgeberische Zuwendung dem Band überaus zuträglich gewesen wäre, verfügt dieser in den allermeisten Beiträgen wie in ihrer Zusammenstellung (weniger in der Teile-Ordnung) über ein hohes Anregungs- und Anschlusspotenzial, das dem Umgang mit den ‚Grundfragen der Pädagogik‘ in paradoxiesensibler wie -kritischer Hinsicht neue Impulse zu geben vermag.
[1] Ludwig Duncker setzt sich in seinem Beitrag explizit vom Konzept dialektischer Aufhebung bei Hegel ab und rekurriert stattdessen auf Schleiermacher, „der das dialektische Denken mehr in unaufhebbaren Antinomien verortet" (208). Von den Herausgebern erhält er dennoch das Label „dialektisch aufheben (Duncker)“ (11).
[2] Getrübt wird Oelkers Beitrag leider durch fehlende Übersetzungen der zahlreichen französischsprachigen Zitate.
[3] In Anlage und Konklusion weist der Beitrag trotz differenter Theoriereferenzen zahlreiche Analogien zu den Ausführungen Herzogs auf.