EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Ulrich Binder / Franz Kasper Krönig (Hrsg.)
Paradoxien (in) der PĂ€dagogik
Weinheim: Beltz 2021
(357S.; ISBN 978-3-7799-6488-9; 34,95 EUR)
Paradoxien (in) der PĂ€dagogik Unter dem Titel „Paradoxien (in) der PĂ€dagogik“ legen Ulrich Binder und Franz Kasper Krönig im Wortsinn einen ‚Sammelband‘ mit insgesamt 19 EinzelbeitrĂ€gen (+ Einleitung) in fĂŒnf Teilen vor. Die Tradition der Auseinandersetzung mit pĂ€dagogischen Paradoxien werde „nicht nur weitergefĂŒhrt, sondern auch reflektiert und modifiziert“ (9) – so der Anspruch, der zu einem Vektor nebst erkenntniskritischer Selbstthematisierung ausbuchstabiert wird:

„Die große Stoßrichtung lautet, die Beschaffenheit, Situierung und Wirkung von Paradoxien zu reflektieren, aber gleichwohl sind BeitrĂ€ge matrixhaft situiert, wenn sie ebenso die Legitimation, Funktion und Leistungen von (solchen) Paradoxie-Forschungen befragen.“ (ebd.)

Das VerhĂ€ltnis dieses Anliegens zu BeitrĂ€gen, Struktur oder Zustandekommen des Bandes kann die mit drei Seiten sehr knappe Einleitung leider kaum erhellen. So wird die generische Ordnung der Teile in „Theorie, Semantik, Interaktion, Profession und Organisation“ (9, 11) nicht nĂ€her erlĂ€utert. Der orientierenden Darlegung von vier Richtungen des Umgangs mit pĂ€dagogischen Paradoxien („Eruierung und Analyse“, „Relativierung“, „Infragestellen“ sowie „Reformulierung“) fehlen wiederum die bandinternen BezĂŒge. Und die Kurzdarstellung der BeitrĂ€ge erfolgt in einer zutreffend als „hoch reduktionistisch, somit riskant informativ“ (ebd.) erkannten Form. In VerkĂŒrzung auf zwei bis fĂŒnf Wörter versuchen die Herausgeber auf den Punkt zu bringen, „was die BeitrĂ€ge mit Paradoxien ‚machen‘“ (ebd.) und verkennen den Zugriff dabei zumindest einmal grĂŒndlich.[1]

Die Herausgeber vergeben auf diese Weise die Möglichkeit, einleitend mit und aus den zusammengestellten BeitrĂ€gen etwas zu machen, das ĂŒber ihre (An)Sammlung unter einem Titel und einer Proklamation hinausweist.

Teil I Paradoxien pÀdagogischer Theorien
Ulrich Binder, Franz Kasper Krönig und Heinz-Elmar Tenorth stimmen thematisch wie erkenntnispolitisch ein: In der Hoffnung, „damit einen Referenzraum fĂŒr VerstĂ€ndigung“ (15) zu eröffnen, zeichnen sie den historischen Gebrauch des Paradoxiebegriffs nach, argumentieren mit Luhmann fĂŒr eine „Erforschung von Mustern der Entparadoxierung“ (24) und (re)konstruieren von A wie „Aufhebung“ bis W wie „Wachstum(-semantik)“ acht theoriestrategische Formen der Entparadoxierung pĂ€dagogischer Paradoxien. Auch hier verschenken die Herausgeber durch ausbleibende Verweise das Potenzial, einen Referenzraum fĂŒr VerstĂ€ndigung bereits innerhalb des Bandes zu beleben.

Mit einer ‚relativierenden‘ EntschĂ€rfung ĂŒber Schleiermachers Figur der ‚Duale‘ steigen Elmar Drieschner und Detlef Gaus ganz praktisch in die Entparadoxierung von Fremd- und Selbstbestimmung sowie NĂ€he und Distanz ein. Fokussiert auf „historische und biografische Balanceverschiebungen“ (57) ĂŒberfĂŒhre „dualistisches Denken die Analyse von Antinomien und Paradoxien in eine prozessuale und dynamische Perspektive“ (65) – im Beitrag dann allerdings (auch grafisch) teils auf ein schlichtes Kontinuum zwischen zwei Polen reduziert.

Walter Herzog setzt hier mit einer ‚Infragestellung‘ der Paradoxie von Autonomie und Heteronomie deutlich radikaler an: Sein Beitrag legt ĂŒberzeugend dar, wie „der Ausschluss der sozialen Interaktion aus den Begriffen Bildung und Erziehung“ (68) mittels kausaler Subjekt-Objekt-Schemata (von Kant bis Wimmer) dazu gefĂŒhrt habe, dass „Erziehung ĂŒberhaupt als Paradoxie erscheinen kann“ (ebd.). PĂ€dagogische Wirksamkeit im Medium der Kommunikation hingegen habe „faktische Autonomie“ (79) als Grundvoraussetzung.

Steffen Wittig folgt der „These der ProduktivitĂ€t“ (83) von Paradoxien. Mit Wimmers Begriff vom ‚Grund-Riss‘ betont er die „konstitutive Bedeutung des Paradoxen fĂŒr das PĂ€dagogische“ (ebd.) und zeigt mit Laclau dessen produktives Moment auf. Im RĂŒckgriff auf Masschelein/Simons entfaltet er schließlich die „These, dass dieser Grund-Riss die PĂ€dagogik zu einem (politischen) Experiment mutieren lĂ€sst“ (ebd.), das hegemonial besetzte pĂ€dagogische Problematiken fortwĂ€hrend dekonstruiert und situativ neu verhandelbar macht.

JĂŒrgen Oelkers unternimmt entlang zeitgenössischer Diskurse des 18. Jh. eine originelle „Rousseau-Auslegung“ (100). Rousseau sei „ein Stachel im Erziehungsdenken geblieben“ (112), weil er „die scharfe Waffe der Paradoxien“ (ebd.) benutzte. Seine „Provokationen“ (100) waren dabei auch im Wortsinn gegen (gr. para/Ï€Î±ÏÎŹ) die allgemeine Meinung (gr. doxa/ΎόΟα): „Offen mit Paradoxien der Erziehung zu denken, war störend und verursachte KopfschĂŒtteln, also wirkte die Strategie genauso, wie von Rousseau beabsichtigt“ (102).[2]

Teil II Paradoxien pÀdagogischer Semantiken
Paul Vehse erörtert höchst konzis und stringent die Frage, „ob die PĂ€dagogik in Fragen der Anerkennung [
] mit einem Dilemma zu tun hat, ob und wie dieses Dilemma paradox strukturiert ist und welche Möglichkeiten einer Entparadoxierung angedeutet werden“ (117). In einer komparativen ‚Eruierung und Analyse‘ bereichert Vehse damit das eingangs programmatisch hergeleitete (Forschungs-)Interesse an Mustern der Entparadoxierung.

Die „Paradoxien der Sprachlernklassen“ mit ihrem Ansatz einer „‘Inklusion durch Exklusion‘“ (132) untersucht Serafina Morrin. In einem schlĂŒssigen Dreischritt zeigt sie auf, wie Begegnungen mit „[d]em paradoxen Fremden“ (139) von einer „Krisenerfahrung“ (ebd.) in einen „Àsthetischen Resonanzraum“ (ebd.) zu „authentische[n] Kooperationen“ (ebd.) ĂŒberfĂŒhrt werden können und so „Transformationen ermöglichen, die ein gemeinsames Wir hervorbringen“ (142).

Entlang einer elaborierten Kritik der „Paradoxie der verkennenden Anerkennung“ (152) stellt Anke Redecker die „anerkennungstheoretische Paradoxie-Propagierung“ (148) pointiert ‚infrage‘. Statt „kunstvolle Konstruktionskapriolen an die Stelle kritischer Reflexion“ (161) zu setzen, bestĂŒnde die „entscheidende Aufgabe“ (160) darin, „auch neuen Impulsen Raum zu geben, die das alte Spiel der spektakulĂ€ren Paradoxie-Inszenierung nicht mitspielen, sondern stattdessen nach praktikablen Antworten auf deren Herausforderungen suchen wollen“ (ebd.).

AndrĂ© Epp setzt sich mit der „kaum mehr zu ĂŒberschauende[n] Anzahl an theoretischen Konzepten“ (167) im Rahmen der „Forschungen zu individuellen Wahrheitsurteilen von LehrkrĂ€ften“ (ebd.) auseinander. Der „paradoxe[n] Beschaffenheit“ (168), dass unterschiedliche Begrifflichkeiten „auf ein und denselben Sachverhalt verweisen“ (170), geht Epp in einer kursorischen, historischen Betrachtung nach, die das Wirken „nicht-wissenschaftliche[r] Faktoren“ (172) heraushebt.

Jochen Laub bestimmt anregend, jedoch begrifflich wie gedanklich nicht immer stringent, die „NormativitĂ€t des Nachhaltigkeitsbegriffes als pĂ€dagogische Herausforderung“ (184) mit „[i]nhaltliche[n] und strukturelle[n] Paradoxien“ (186). Anstatt „Nachhaltigkeit zu einer Maxime zu erheben“ (190), so das PlĂ€doyer, seien dessen Antinomien und Paradoxien vielmehr als didaktische Ausgangspunkte der Reflexion zu begreifen, „um ethische UrteilsfĂ€higkeit zu fördern“ (191).

Teil III Paradoxien pÀdagogischer Interaktionen
Ludwig Duncker zeigt an drei didaktischen DiskussionszusammenhĂ€ngen luzid und prĂ€gnant die „begrenzte[] GĂŒltigkeit didaktischer Konzepte“ (198) sowie „die Notwendigkeit einer dialektischen VerknĂŒpfung mit ihrem jeweiligen ‚GegenĂŒber‘“ (199) auf. Schleiermacher folgend werden polare Spannungsfelder „damit nicht in einer Synthese aufgefangen [
], sondern [mĂŒssen] als Gegensatz wahrgenommen, aufrechterhalten und in praktischer Hinsicht immer wieder neu ausbalanciert werden“ (208).

In Ă€hnlicher Stoßrichtung skizziert Frank Beier eine „paradoxiesensible und reflexive Didaktik“ (229), die er auf Basis der Unterscheidung holistischer und atomistischer AnsĂ€tze didaktischen Paradoxiemanagements sowie zweier Fallanalysen paradoxaler Handlungsanforderungen entwirft. Gerade die empirisch gewonnenen Kategorien sollen Lehrpersonen dabei helfen „in actu zu reflektieren, auf welche Seite man gerade kippt“ (ebd.).
Imke Kollmer lĂ€sst die SelbstverstĂ€ndlichkeit des Referats fragil werden. Aus interaktionslogischer Perspektive reagierten Referate auf das „Strukturproblem potentiell ausbleibender Beteiligung“ (243), das in der Folge jedoch durch ein anderes Handlungsproblem ersetzt werde und so die WidersprĂŒchlichkeit seminaristischer Praxis nur ‚reformuliert‘: „das fehlende oder zumindest stark reduzierte Aufwerfen der Fraglichkeit von GeltungsansprĂŒchen“ (ebd.).

Teil IV Paradoxien pÀdagogischer Professionen
Stefan Emmenenger nimmt „die behauptete Relevanz und Unverzichtbarkeit von Antinomie/Paradoxie zum Anlass, die systematische, fachwissenschaftliche und ausbildungsbezogene Reichweite dieses Leitgedankens zu prĂŒfen“ (248). Seine eingĂ€ngige ‚Infragestellung‘ resultiert in einem differenzierten Ausblick auf die ‚Relativierung‘ des Stellenwerts von Antinomie/Paradoxie in der LehrkrĂ€ftebildung.

Auf Basis einer stringenten Diskussion von drei „systematischen Schwachstellen in den bisherigen Perspektiven auf die pĂ€dagogischen Paradoxien von Freiheit und Zwang bzw. von FĂŒhren und Wachsenlassen“ (269) ‚reformuliert‘ Ulf Sauerbrey das „allgemeine[] pĂ€dagogische[] Grundproblem“ (280) im RĂŒckgriff auf SĂŒnkel und Prange als Paradoxon einer „Einheit der Differenz von Zeigen und Lernen“ (ebd.) im Kontext „bisubjektive[n] Zusammenwirken[s]“ (ebd.).[3]

Horst Zeinz und Henrike Kopmann diskutieren mit Helsper und in „relativierende[r] Perspektive“ (294) einige pĂ€dagogische Antinomien in den Bereichen „Inklusion, Digitalisierung und Umwelterziehung / BNE“ (285). Ihr zumeist kursorischer Durchgang wird bisweilen auch erratisch, wenn etwa als Ziel „schulische[r] BeschĂ€ftigung mit Umweltthemen“ (293) ausgewiesen wird, dass „eine Liebe zur Natur angebahnt werden soll“ (ebd.).

Teil V Paradoxien pÀdagogischer Organisationen
Thomas Wendt arbeitet entlang von Paradoxien, „die sich aus der organisationalen Struktur-Subjekt-DualitĂ€t ableiten“ (300) anschaulich die PĂ€dagogizitĂ€t von Management und FĂŒhrung heraus. „Die Erfahrung der Unmöglichkeit, fixe Zielstellungen durchzusetzen, ohne dabei unplanmĂ€ĂŸige Effekte zu produzieren“(ebd.) bestimmt er dabei schlĂŒssig als „Antriebsfeder“ (ebd.) fortwĂ€hrender Erneuerung von Konzepten in PĂ€dagogik wie Organisation.

Benjamin Betschart problematisiert treffend die „nicht-produktive[] Paradoxie“ (316), dass „QualitĂ€tsmanagement mittels Evaluationen in einem pĂ€dagogischen Gegenstandsfeld pĂ€dagogisches Denken und erziehungswissenschaftliches Wissen weitestgehend exkludiert resp. ignoriert“ (315). Seine Empfehlung zur Entparadoxierung: „Auf eine fĂŒr Bildungsinstitutionen unwĂŒrdige Vereinfachung [
] verzichten“ (326).
Niels ÅkerstrĂžm Andersen, Hanne Knudsen und Jette Sandager beschließen den Band mit der stichhaltig und materialgesĂ€ttigt entfalteten These, dass der Forschungs- und Technologiewettbewerb ‚First Lego League Challenge‘ „ein Medium fĂŒr die Potentialisierung des Potentials der Kinder anbietet“ (343). PotenzialitĂ€t werde damit – so das ausgemachte Paradoxon – sowohl Form als auch Medium und markiere dergestalt den „Versuch, den Begrenzungen der PĂ€dagogik zu entfliehen“ (353).

ResĂŒmee
Binder und Krönig ist es in der Gesamtschau gelungen, einen fĂŒr die Diskussion von „Paradoxien (in) der PĂ€dagogik“ bedeutsamen Band vorzulegen, der seinem Anspruch der Reflexion und Modifikation vorangegangener (Theorie-)Traditionen gerecht wird. Der Band setzt sich weit ĂŒberwiegend aus lesenswerten BeitrĂ€gen mit ersichtlichen, wenn auch zu selten ausgewiesenen BezĂŒgen zu den eingangs aufgezeigten Richtungen der ‚Eruierung und Analyse‘, ‚Relativierung‘, ‚Infragestellung‘ und ‚Reformulierung‘ pĂ€dagogischer Paradoxien in einer thematisch vertrĂ€glich disparaten Breite zusammen.

Obgleich mehr herausgeberische Zuwendung dem Band ĂŒberaus zutrĂ€glich gewesen wĂ€re, verfĂŒgt dieser in den allermeisten BeitrĂ€gen wie in ihrer Zusammenstellung (weniger in der Teile-Ordnung) ĂŒber ein hohes Anregungs- und Anschlusspotenzial, das dem Umgang mit den ‚Grundfragen der PĂ€dagogik‘ in paradoxiesensibler wie -kritischer Hinsicht neue Impulse zu geben vermag.

[1] Ludwig Duncker setzt sich in seinem Beitrag explizit vom Konzept dialektischer Aufhebung bei Hegel ab und rekurriert stattdessen auf Schleiermacher, „der das dialektische Denken mehr in unaufhebbaren Antinomien verortet" (208). Von den Herausgebern erhĂ€lt er dennoch das Label „dialektisch aufheben (Duncker)“ (11).
[2] GetrĂŒbt wird Oelkers Beitrag leider durch fehlende Übersetzungen der zahlreichen französischsprachigen Zitate.
[3] In Anlage und Konklusion weist der Beitrag trotz differenter Theoriereferenzen zahlreiche Analogien zu den AusfĂŒhrungen Herzogs auf.
Steffen Hamborg (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Steffen Hamborg: Rezension von: Binder, Ulrich / Krönig, Franz Kasper (Hg.): Paradoxien (in) der PĂ€dagogik. Weinheim: Beltz 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996488.html